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       # taz.de -- Aktualisierter „Tannhäuser“ in Bayreuth: Zwischen den Welten
       
       > Tobias Kratzers „Tannhäuser“ begeistert in Bayreuth erneut als totales
       > Theater mit Tiefgang. Am Pult debütiert Nathalie Stutzmann.
       
   IMG Bild: Spielt sich in „Tannhäuser“ selbst: Le Gateau Chocolat
       
       [1][Tobias Kratzers „Tannhäuser“] ist auch in seinem vierten Jahr wieder
       der Hit auf dem Grünen Hügel. Es ist der seltene Glücksfall einer
       Inszenierung, die die Neugierigen begeistert und auch bei Traditionalisten
       durchgeht. Eine, die Theater total bietet und das Stück auf dem Weg von
       einem Überraschungseffekt zum nächsten nicht einfach links liegen lässt.
       Eine, die etliche selbstreferenzielle Pointen zündet und sich auf die
       Abgründe des Stücks einlässt.
       
       Dabei gibt es Videos en masse, zusätzliches Personal, jede Menge Gegenwart,
       sogar einen von der Festspielchefin veranlassten fingierten Polizeieinsatz
       auf der Bühne. Alles Zutaten, mit denen man in Bayreuth die Zuschauer
       früher auf die Palme gebracht hätte.
       
       Aber Kunst kommt halt von Können – und hier können sie es einfach. Zudem
       hat sich Kratzer mit den Videos selbst eine ziemlich clevere Möglichkeit
       eingebaut, das Ganze bei jeder Wiederaufnahme sichtbar aufzufrischen.
       Diesmal taucht er zusammen mit Manuel Braun (Videos) und seinem Ausstatter
       Rainer Sellmaier selbst kurz auf. Mit gepackten Koffern, in zünftigem
       Matrosenlook und mit einem Tschüs Richtung Hamburg (wo Kratzer ja Intendant
       wird). Aber auch mit dem Aufkleber, der verrät, dass sie 2024 wieder
       zurückkommen …
       
       Dazu gibt’s eine Anspielung auf die [2][AR-Brillen im Parsifal]. Auf der
       Bühne schützen sich die ins Festspielhaus strömenden Gäste mit dem
       Programmheft über den Köpfen vorm aktuellen Dauerregen. In der ersten Pause
       dann, in der die echten Gäste im Saal zu einer Zusatzshow an den Teich
       unten im Park geladen sind, wurde so viel Echtzeit-Zugewandtheit dann sogar
       höheren Ortes belohnt und der Regen pausierte genau zur richtigen Zeit!
       
       ## Bunte Truppe um die flippige Venus
       
       So wie die Inszenierung insgesamt den Hügel erobert hat, so macht es die
       reisende Off-Theatertruppe um die flippige Venus unter dem Motto „Frei im
       Wollen, Frei im Thun, Frei im Genießen“ (stammt natürlich von Richard
       selbst!) in der Inszenierung mit dem Festspielhaus. Mit einer Leiter über
       den Balkon.
       
       Im Video hatte man gesehen, dass die bunte Truppe um die flippige Venus,
       mit Trommler Oskar (Manni Laudenbach), der sich selbst spielenden
       [3][Dragqueen Le Gateau Chocolat] und einem Tannhäuser im Clownskostüm von
       der Wartburg Richtung Bayreuth aufbrechen. Wie sie unterwegs Benzin klauen
       und das Fast Food nicht bezahlen.
       
       Als Venus auch noch eiskalt einen Wachmann überfährt, wird es Tannhäuser zu
       viel. Er will zurück ins Festspielhaus zu seinen Sängerkollegen und vor
       allem zu der einen Kollegin, Elisabeth, und sich wieder in die laufende
       (ziemlich historisch wirkende) Tannhäuser-Produktion einklinken. Beim
       Sängerwettstreit kann er aber von der anderen Welt nicht lassen, die
       eingedrungene Venus und ihre Begleiter tun ein Übriges – der Eklat ist
       perfekt und Katharina lässt die Polizei anrollen und den Rebellen abführen.
       
       ## Die Festspiele gehen mit der Zeit
       
       Klaus Florian Vogt gehört in Bayreuth zum Stammpersonal. Mit seinem
       Tannhäuser gelang es ihm sogar noch zu überraschen. Selbst wie er mimisch
       (in Video-Großaufnahme) den Auftritt von Wolfram kommentiert, ist das eine
       Klasse für sich. Erst recht aber sein Gesang: frei und strahlend,
       durchdacht und in der Romerzählung als fabelhaft gestaltetes, dramatisches
       Kabinettstück! (Und das kurz nach seinem Siegmund!)
       
       Elisabeth Teige setzt mehr als ihre Rollenvorgängerin Lise Davidsen vor
       allem auf den feinen lyrischen, mitunter flirrenden Ton und überzeugt. Als
       Gegenspielerin ist Ekaterina Gubanova wieder die in jeder Hinsicht
       fulminante Venus. Günther Groissböck führt als markiger Landgraf die
       fabelhafte Sängertruppe an, in der Siyabonga Maqungo als neuer Walther
       auffällt. Markus Eiche ist wieder der vital-markante, aber auch mitfühlende
       Konkurrent um Elisabeths Liebe. Wenn er Elisabeth auf deren Wunsch im
       Clownskostüm Heinrichs in den Theaterwagen folgt, ist das eine tieftraurige
       und exemplarisch erschütternde Szene.
       
       Dazu kommen als glockenklarer junger Hirte Julia Grüter und der vorzügliche
       Chor des Hauses, der als Pilgertruppe von Festspielbesuchern auftritt, als
       Festgesellschaft beim Sängerwettstreit mitwirkt und sich schließlich am
       Ende in eine Truppe von gründlich Gescheiterten verwandelt. Bei der
       Premiere stand noch der Valery Gergiev am Pult, der seinerzeit noch (nur)
       künstlerisch enttäuschte.
       
       Wie sehr die Festspiele – entgegen allem Untergangsgeraune – mit der Zeit
       gehen, belegt nicht zuletzt das Festspieldebüt von Nathalie Stutzmann als
       bereits zweite Dirigentin im verdeckten Graben. Das Publikum feierte sie
       mit Standing Ovations für eine Lesart, bei der man die Sensibilität der
       Sängerin am Pult (die sie ja auch ist) durchweg zu spüren meinte und die
       auf die innere Erzählung der Musik setzte, ohne der (wirklich großartigen)
       Show auf der Bühne eine im Graben entgegenzusetzen. Wie schön, dass dieser
       „Tannhäuser“ erst mal auf dem Spielplan der Festspiele bleibt.
       
       31 Jul 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Joachim Lange
       
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