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       # taz.de -- Fotograf über das Lager Sandbostel: „Die Schicksale sind spürbar“
       
       > Carsten Karstensen fotografiert die Gedenkstätte Lager Sandbostel um zu
       > verarbeiten, was ihm dort durch den Kopf geht. Nun zeigt er seine
       > Arbeiten.
       
   IMG Bild: Persönlicher Blick aufs Lager: Ein Selfie Carsten Karstensens, entstanden in Sandbostel
       
       taz: Herr Karstensen, worüber wurde bei Ihnen zuhause nie gesprochen? 
       
       Carsten Karstensen: Ich wurde schon sehr früh politisch geprägt, weil meine
       Eltern bis zu ihrem Lebensende den Holocaust geleugnet haben. Als ich auf
       die Rente zuging, habe ich mich als ehrenamtlicher Fremdenführer in der
       Gedenkstätte [1][Lager Sandbostel] beworben. Der Titel meiner
       Fotoausstellung bezieht sich auf eine Aussage, die ich sehr, sehr häufig
       von Gästen höre.
       
       Es hätte dort durchaus Dinge gegeben, über die zu sprechen gewesen wäre. 
       
       Hier in Stalag X-B sind zwischen 10.000 und 50.000 Menschen [2][ums Leben
       gekommen]. Das ist Alltag gewesen, das hat jeder gesehen. Wir haben
       Fotografien von Schulausflügen, bei denen an einem Zaun vor sowjetischen
       Kriegsgefangenen Rassenkundeunterricht gegeben wurde. Wenn ich Leuten aus
       der unmittelbaren Umgebung von diesen Verbrechen erzähle, sind sie sehr
       schockiert darüber, dass man ihnen nie etwas davon vermittelt hat.
       
       Was löst dieser Ort in Ihnen aus? 
       
       Eine große Demut, manchmal auch Bestürzung. Dieser Ort ist getränkt mit
       Geschichte und Geschichten. Das ist meiner Ansicht nach spürbar. Von den
       ehemals 35 Hektar des Kriegsgefangenenlagers stehen ja noch 16 historische
       Gebäude. Man kommt an der Steinbaracke vorbei, und sieht einen Stein, in
       dem ein sowjetischer Kriegsgefangener seinen Namen eingeritzt hat. Das ist
       Geschichte zum Anfassen und beeindruckt die Leute schon stark.
       
       Drücken Ihre Bilder etwas aus, das Worte so nicht können? 
       
       Es ist ja keine Dokumentation, sondern mein persönlicher Blick auf diesen
       Ort. Gerade, wenn man mit Angehörigen von ehemaligen Lagerinsassen spricht,
       ist das manchmal sehr bewegend. Diese Schicksale, das, was mir durch den
       Kopf geht, versuche ich zu verarbeiten. Da ist kaum ein Bild dabei, wo eine
       Person drauf ist. Ich lasse den Ort sprechen.
       
       Geht das den Teilnehmer*innen der Fotoworkshops, die Sie dort anbieten,
       auch so? 
       
       Die Leute kommen ja ganz gezielt wegen des sehr engen Kontaktes zu diesem
       Ort. Ich habe auch noch nicht erlebt, dass das irgendwie missbraucht oder
       in einen falschen Kontext gebracht wurde. Wir würden niemals Fashion oder
       Aktfotografie zulassen, um Gotteswillen! Meistens gehe ich mit einer
       Fotogruppe rüber, wenn die Gedenkstätte geschlossen ist. Dann sind wir
       total ungestört. Oft kommen da wirklich sehr emotionale Dinge zum
       Vorschein. Ich habe bestimmt schon bis zu 6.000 Aufnahmen dort gemacht und
       entdecke immer was Neues. Permanent.
       
       Gibt es dennoch wiederkehrende Motive? 
       
       Sehr viele Fenster. Fenster haben eine hohe Symbolik, sie ermöglichen
       sowohl einen Einblick in ein Leben oder einen Ort, aber auch gleichzeitig
       den Ausblick in die Ferne. Ein Bild ist perfekt, wenn sich dahinter eine
       Geschichte verbirgt. Zum Beispiel hatten Angehörige in den Flur einer
       Baracke einen Strauß Rosen abgelegt. Ein Gast hat eine dieser Rosen
       genommen und in das Fenster gestellt. Das habe ich durch Zufall dann
       entdeckt und fand es sehr aussagekräftig und melancholisch. Ich nehme immer
       das, was ich vorfinde, stelle nichts hin oder verändere nichts.
       
       Worüber sollte heute mehr geredet werden? 
       
       Zum einen sollte dieses Thema nicht relativiert werden. Gerade bei dem
       Erstarken der Rechten, nicht nur in Deutschland, muss man einen Gegenpol
       setzen und zeigen, wohin Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, und
       Nationalismus führt. Dieser Ort steht dafür, was passiert, wenn man solche
       Parteien gewähren lässt.
       
       10 Aug 2023
       
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