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       # taz.de -- Öffentlicher Nahverkehr im Libanon: Geordnetes Chaos
       
       > Staatlichen ÖPNV gibt es im Libanon kaum. Busse und Taxis werden privat
       > betrieben. Wegen der Wirtschaftskrise steigen mehr Menschen ein.
       
   IMG Bild: Fenster auf im vollen Bus: Passagierin in Jieh, etwa 20 Kilometer südlich von Beirut
       
       Beirut taz | Der Busfahrer ist kurz angebunden: „10.000 mehr“, sagt er, als
       ich ihm einen 50.000-Lira-Schein hinhalte. „Kostet das Ticket nicht
       30.000?“, frage ich. „Nein“, sagt der Fahrer und zeigt auf die
       gegenüberliegende Straßenseite, „die Nummer 5 nimmt 30.000“.
       
       Die Busnummer 2, in die ich am Beiruter Knotenpunkt Sassine einsteige,
       fährt ab dort die gleiche Strecke wie die 5. Dennoch kostet das Ticket
       umgerechnet nicht 30, sondern 60 Cent. Den Preis bestimmen die Eigentümer.
       Denn obwohl das Beiruter Bussystem Nummern für bestimmte Linien und Routen
       hat und die Busse am Sassineplatz sogar eine Haltestelle, ist der
       Nahverkehr im Libanon keineswegs einheitlich geregelt, sondern folgt einem
       informellen System.
       
       „Im Libanon haben wir ein sogenanntes geteiltes Mobilitätssystem“, erklärt
       Chadi Faraj, Mitgründer und Vorsitzender der Organisation „[1][Riders
       Rights]“. Die Initiative setzt sich für behindertengerechten Nahverkehr,
       Sicherheitsvorkehrungen und die Rechte von Passagier*innen ein.
       
       Um die steht es oft nicht so gut: Üblicherweise teilen sich Fahrgäste einen
       alten Mitsubishi-Bus oder einen Minivan, in dem 14 Menschen Platz haben. In
       den Vans gibt es Doppelsitze und eine Reihe aus Klappsitzen neben der
       Schiebetür, damit die Leute ein- und aussteigen können. „Der Nahverkehr
       wird hauptsächlich von Privatpersonen oder Familien betrieben, die auf den
       Linien fahren und die den Bus oder die Kleinbusse besitzen oder mieten“,
       erklärt Faraj. Der Staat unterhalte zwar ein paar Busse, „ich nenne sie
       aber unsichtbare Busse, weil man sie nie zu Gesicht bekommt.“
       
       ## Die Dunkelziffer an Bussen, Vans und Taxis ist riesig
       
       Der Staat reguliert das System nur, indem er Kennzeichen für die Fahrzeuge
       ausgibt: Plaketten in roter Farbe, die öffentlichen Transport wie
       Sammeltaxis, Minivans oder Busse markieren. Laut Faraj gibt es 4.000
       lizenzierte Minivans und 1.000 Busse. Das Innenministerium gehe aber davon
       aus, dass es zusätzlich noch 30.000 irreguläre Taxis, 8.000 unlizenzierte
       Minivans und 1.000 nichtregistrierte Busse gibt.
       
       Das informelle Nahverkehrssystem ist historisch gewachsen. „Nach dem
       Bürgerkrieg, in den 90er-Jahren, hat der Staat wieder einige Buslinien und
       Stationen gegründet. Doch das ist gescheitert, weil es viel Korruption
       gab“, erzählt Chadi Faraj. Zum Beispiel habe ein Unternehmen die Busse
       betrieben, das dem ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri gehörte. Als
       die Linien nicht mehr profitabel waren, machte man dicht.
       
       „Gleichzeitig haben Einzelpersonen angefangen, Linien zu betreuen und neue
       Routen anzufahren.“ Das System habe sich dann anhand der Nachfrage und der
       Bedürfnisse der Menschen entwickelt – „und auf der Grundlage der Politik
       von Staat und Regierung, die nicht weiter in das System investiert haben“.
       Daher gebe es zum Beispiel keine Buslinie Nummer 1 mehr. „Es gibt Monopole
       bei jeder Buslinie. Jede Linie ist selbst organisiert durch ein
       Familienunternehmen oder einen Vertrag zwischen Individuen und Betreibern“,
       sagt Faraj.
       
       Der alte, weiße Mitsubishi-Bus der Nummer 2 hat rote Sternensticker an der
       Seitenwand. Eine goldene runde Medaille mit Bommel hängt an Rückspiegel,
       darauf steht: Allah. Beim Anfahren heult der Motor laut auf, dann röhrt er
       vor sich hin, der Sitz vibriert merklich. Schiebefenster und Schiebetür
       sind aufgezogen, damit bei der Hitze etwas Fahrtluft hineinzieht. Der
       Lederbezug der Sitze löst sich an einigen Stellen. An den Fenstern kleben
       rote Sticker: Rauchen verboten. Doch der Fahrer fährt mit Zigarette im Mund
       und verkauft rauchend Tickets beim Einstieg. Es gibt keine Busspuren und
       nur feste Anfangs- und Endhaltestellen. Das geordnete Chaos spiegele den
       Libanon als Land wider, meint Mobilitätsexperte Faraj.
       
       ## Wer den Nahverkehr nutzt, gilt als arm
       
       Eine Frau winkt den Bus heran, er hält an einer Kreuzung an. Autos hupen,
       weil das den Verkehr aufhält. Im Bus sitzen ein älterer Herr, eine etwa
       40-jährige Frau in Jeans und Birkenstocksandalen, eine junge Frau mit
       schwarzem Jutebeutel, ein Mann mit Kopfhörern. Außerdem ein Angestellter
       einer lokalen Fluggesellschaft – er trägt noch sein Arbeitsoutfit.
       
       „Der Nahverkehr ist mit einem großen Stigma behaftet. Vor der
       Wirtschaftskrise war er für Menschen gedacht, die sich kein Auto leisten
       oder keinen Kredit aufnehmen konnten, um ein Auto zu kaufen“, erklärt
       Faraj. Die Bustickets kosten umgerechnet zwischen 30 und 60 Cent. Ein Platz
       im Sammeltaxi hingegen kostet mindestens 1,50 Euro.
       
       Die Differenz ist erheblich – in einer Zeit, [2][in der die Menschen eine
       Wirtschaftskrise durchleben] und viele noch immer in der extrem schwachen
       Landeswährung verdienen. Faraj berichtet: „Seit Beginn der Krise im Jahr
       2019 sind die Lebenshaltungskosten stark gestiegen und die Transportkosten
       wurden verdoppelt, [3][da die Subventionen für Diesel gestrichen wurden].
       Wir wissen nicht, ob wir eine Mittelschicht haben, aber alle, denen die
       steigenden Lebenshaltungskosten und die Transportkosten zur Last gefallen
       sind, nutzen das Nahverkehrssystem.“ Darunter seien viele
       Regierungsangestellte.
       
       Der Fahrer hupt zwei Frauen an, die am Seitenrand stehen und fragt sie so,
       ob sie mitfahren wollen – sie wollen. Eine von ihnen ist Hala Kabani. Sie
       trägt eine Sommerhose mit Blumenmuster, blondierte Haare und leuchtend
       grünen Kajalstift auf den Augenlidern. Es ist ungewöhnlich, Frauen wie sie
       im Bus zu sehen. Vor allem Erwachsene, die sich zur Mittel- oder
       Oberschicht zählen, meiden die Busse. Es gibt das Vorurteil, sie seien
       schmutzig und nicht sicher. „Doch, es ist sicher. Und ja, es ist
       schmutzig“, sagt Hala, „aber damit kommen wir schon zurecht.“
       
       Sie komme aus Beirut, lebe aber seit mehr als 40 Jahren in den USA und sei
       gerade in Beirut zu Besuch. „Auch in den USA und Europa nutzen wir
       öffentliche Transportmittel, selbst dort sind sie etwas schmutzig.“ Während
       sie redet, ruckelt der Bus über ein paar Schlaglöcher und Hubbel in der
       Straße, die Bremse quietscht. „Wenn wir in Eile sind, nehmen wir das Taxi,
       wenn wir Zeit haben, nehmen wir den Bus.“ Der Hauptgrund sei, dass der Bus
       günstig und praktisch sei. „Hala!“, ruft ihre Freundin, als der Bus an
       einer Kreuzung zu Verdun anhält, einem Viertel, das fürs Shopping bekannt
       ist. Dann sprintet Hala aus dem Bus.
       
       9 Aug 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Neumann
       
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