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       # taz.de -- Zukunft der Linkspartei: Das Charisma-Problem
       
       > Brauchen wir die Linkspartei? Und wenn ja, wie viele? Eine
       > Wagenknecht-Partei wäre für die Bundesrepublik jedenfalls etwas
       > revolutionär Neues.
       
   IMG Bild: Der Kitt ist weg: Amira Mohamed Ali, Martin Schirdewan, Janine Wissler und Dietmar Bartsch
       
       Die Spaltung der Linkspartei ist noch nicht vollzogen, aber absehbar.
       Entweder wird sich der Wagenknecht-Flügel aus der Partei unter Absingen
       schmutziger Lieder ins Private verabschieden – oder er wird ein neues
       Projekt starten.
       
       [1][Dieser Zerfall vollzieht sich qualvoll lange.] Die Unfähigkeit, die
       Trennung zu realisieren, ist das Ergebnis einer für die Linkspartei
       typischen Scheu, Konflikte offen auszutragen und eines von Dietmar Bartsch
       verkörperten Organisationspatriotismus: Hauptsache, der Apparat bleibt
       intakt. Dieser Kitt ist mürbe geworden.
       
       Zwei Fragen: Was wäre das Neue an der Wagenknecht-Partei? Und was bleibt
       übrig, wenn Wagenknecht, Klaus Ernst und Sevim Dağdelen gehen?
       
       Die Linkspartei von Janine Wissler und Martin Schirdewan wird dann stark
       auf junge, urbane, aktive Milieus setzen. Die Nominierung der Klima- und
       Flüchtlingsaktivistin Carola Rackete für die Europawahl ist eine Art
       Wegweiser. Auf den ersten Blick ist das ein Rückgriff auf die Geschichte
       der PDS, die in den 90er Jahren Unabhängige wie Stefan Heym in den
       Bundestag schickte. Allerdings war dies eine Rehabilitierung von
       SED-Dissidenten, die eng mit kommunistischer Parteigeschichte verbunden
       waren.
       
       ## Viele ungelöste Probleme
       
       Die Kür von Rackete ist eher der Versuch, [2][der kriselnden Partei mit
       einer Frischzellenkur aus parteifernen sozialen Bewegungen wieder auf die
       Beine zu helfen]. Wenn Parteien ihre Hoffnungen auf soziale Bewegungen
       setzen, ist das oft ein Missverständnis. Bewegungen, so Ulrich Beck, kommen
       und gehen – vor allem gehen sie. Die Klima- und die
       Refugee-welcome-Bewegung sind derzeit in der Krise. Die Hoffnung,
       ausgerechnet aus diesen Bewegungen einen vitalen Schub zu bekommen, ähnelt
       dem Griff nach dem Strohhalm.
       
       Und selbst wenn die Linkspartei aktivistische Milieus in ausreichendem Maß
       an sich binden kann, bleibt ein ungelöstes Problem. Denn Wagenknecht ist
       nicht der Grund für den Riss in der Partei – sondern nur dessen dröhnend
       lauter Verstärkerin. Die Streitfrage lautet: Vertritt die Linke den Rentner
       in der Provinz mit Ölheizung und Diesel – oder woke Akademiker? Dieser
       Konflikt hat, lädt man ihn zur Identitätsfrage auf, etwas Toxisches.
       
       Die Linke (nicht nur die Partei) hat zudem ein intimes Verhältnis zu
       Wahrheit und Moral. Beides ist, anders als bei Liberalen oder
       Konservativen, ein hart umkämpftes Gut. Weil es bei Moral schnell um fast
       alles geht, sind Linke oft unfähig, die zerstörerische Eskalationsdynamik
       solcher Kämpfe abzukühlen und zu entgiften.
       
       Kurzum: Ob die Linkspartei ohne Wagenknecht über das Personal und das
       Handwerkszeug verfügt, Rackete & Co zu gewinnen, ohne traditionell
       eingestellte ältere GenossInnen zu verlieren, ist zweifelhaft. Die
       Linkspartei kann auf von der Ampel enttäuschte WählerInnen hoffen, denen
       die Klima- und Sozialpolitik zu unentschlossen ist. Aber auch das wird nur
       gelingen, wenn sie rational und geschlossen auftritt. Das ist offen.
       
       Und die Wagenknecht-Partei? Es gibt berechtigte Zweifel, ob dieses Kind je
       laufen können wird. Es fehlen die politischen Profis, die jede Partei
       braucht. Die Gefahr, Magnet für Profilneurotiker jeder Couleur zu werden,
       ist groß. Zwar könnte eine autoritäre Top-down-Organisation diesen Zustrom
       verhindern. Aber Ansagen von oben würden die basisdemokratischen
       Beteiligungsbedürfnisse jener „Misstrauensgemeinschaft“ (Sven Reichardt)
       von Querdenkern, Altlinken und Coronaskeptikern frustrieren, die die Partei
       für sich gewinnen müsste.
       
       ## Eine Partei für Unzufriedene
       
       Die Wagenknecht-Partei würde auf Unzufriedene spekulieren, die keine
       Rassisten sind. Sie wäre eine populistische Partei, deren Kern die
       Bewirtschaftung der Wut gegen Regierung und (grüne) Eliten wäre. Eine
       Partei, die kulturell rechts, sozialpolitisch links auftritt, könnte –
       jedenfalls auf dem Reißbrett – eine Repräsentationslücke füllen. Abwegig
       ist das nicht. Es gab auch in der SPD mit Blick auf die dänische
       Sozialdemokratie Überlegungen, einen solchen Kurs einzuschlagen –
       allerdings ohne populistische Affekte.
       
       Für die Bundesrepublik wäre die Wagenknecht-Partei etwas revolutionär
       Neues: nämlich eine Organisation, die vollkommen auf eine charismatische
       Figur an der Spitze fokussiert ist. Man kennt solche schillernden,
       abgründigen, hypertrophen Figuren aus dem internationalen Rechtspopulismus.
       Silvio Berlusconi, Donald Trump, Jörg Haider und Sebastian Kurz
       verkörperten diese charismatische Herrschaft, die sich um Verfahren, Justiz
       und Parteiapparate nicht scherte und völlig auf sie zugeschnitten war.
       
       Zur politischen Kultur der Bundesrepublik gehört indes ein tiefes
       Misstrauen gegenüber Charisma. Man vertraut lieber Pragmatikern, die
       emotionsarm Sachfragen darlegen. Das verbindet das großväterliche
       Besänftigende von Adenauer mit dem kühl Technokratischen von Helmut
       Schmidt, das Provinzielle von Helmut Kohl mit der Leidenschaftsferne von
       Angela Merkel. Der einzige Kanzler mit einem gewissen, demokratisch
       gründlich entschärften Charisma war Willy Brandt.
       
       Diese Charisma-Skepsis ist das Pendant zu der ebenfalls typisch
       bundesdeutschen Fixierung auf die Mitte, die Schutz vor Unheil verspricht.
       Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, in beidem einen Reflex auf 1933
       und Hitler zu erkennen. Beides ist ein bis in die politische Verästelung
       eingesickerter Lernprozess.
       
       Es ist auch kein Zufall, dass an der Spitze der AfD ein sächsischer
       Malermeister und eine lesbische Neoliberale stehen, mithin charismaarme
       Figuren. Auch die AfD traut sich bis jetzt nicht, ihren einzigen
       Charismatiker, Björn Höcke, an die Spitze zu stellen.
       
       Eine erfolgreiche Wagenknecht-Partei würde wohl der AfD Konkurrenz machen.
       Vor allem aber wäre sie eine Erschütterung des hiesigen Parteiensystems,
       das noch immer um die beiden Volksparteien SPD und Union zentriert ist. Es
       wäre das Zeichen, dass die typisch bundesdeutsche mittige Stabilität
       verschwindet und von einer europäischen Normalisierung verdrängt wird.
       
       10 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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