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       # taz.de -- Neuer Krieg in Äthiopien: Es geht um die Existenz
       
       > In der Region Amhara kämpft Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed mit
       > seiner Regierung gegen Milizen. Diese ermöglichten den Sieg um die Region
       > Tigray.
       
   IMG Bild: Eine orthodoxe Weihnachtsmesse in Lalibela am 6. Januar 2022. Heute wird in der Region gekämpft
       
       Berlin taz | Wieder herrscht Krieg in Äthiopien, und diesmal steht die
       Existenz des Landes auf dem Spiel. In der Region Amhara, dem historischen
       Kernland des alten äthiopischen Kaiserreiches, setzt die Armee der
       Zentralregierung schwere Waffen und Kampfjets ein, um Städte
       zurückzuerobern.
       
       Irreguläre Amhara-Milizionäre, kollektiv als „Fano“ bekannt, hatten
       vergangene Woche die Kontrolle über die Provinzhauptstadt Bahir Dar, die
       alte Kaiserstadt Gondar, die alte Klosterstadt Lalibela und den
       Verkehrsknotenpunkt Dessie übernommen. Am Mittwoch wurde berichtet, die
       Armee habe die Milizen teilweise zurückgeschlagen, doch blieb die Lage
       unübersichtlich.
       
       Die Vorgänge erinnern an den Beginn des Krieges um die Kontrolle der Region
       Tigray im November 2020, der in den folgenden zwei Jahren nach Schätzungen
       der Afrikanischen Union (AU) 600.000 Tote forderte. In Amhara verhängte
       Äthiopiens Zentralregierung am 4. August als Reaktion auf die
       Stadtbesetzungen durch Amhara-Milizen das Kriegsrecht. Das beinhaltet die
       Suspendierung der regionalen Institutionen, ein komplettes
       Versammlungsverbot sowie Hausdurchsuchungen und Festnahmen ohne Begründung.
       
       Die Maßnahmen gelten zunächst für sechs Monate. „Illegale bewaffnete
       Aktivitäten“ in Amhara seien „durch reguläre Maßnahmen nicht mehr unter
       Kontrolle zu bringen“, erklärte Äthiopiens Ministerrat in der Hauptstadt
       Addis Abeba zur Begründung. Die Umsetzung des Kriegsrechts soll Äthiopiens
       Geheimdienstchef Temesgen Tiruneh leiten, bis zu seiner Ernennung zu Beginn
       des [1][Tigray-Krieges] 2020 Regionalpräsident von Amhara.
       
       ## Wichtiges Tourismusziel
       
       Am 3. August hatten Fano-Milizen den Flughafen von Lalibela besetzt –
       [2][ein wichtiges Tourismusziel], um die uralten Felsenkirchen der Region
       zu besichtigen. In Gondar hatten die bewaffneten Auseinandersetzungen
       bereits am 26. Juli begonnen. Gondar und Bahir Dar waren nach BBC-Berichten
       am Mittwoch noch immer umkämpft. Es gibt keine gesicherten Angaben über
       Opferzahlen.
       
       Der Konflikt hängt mit dem Tigray-Krieg von 2020–22 zusammen. Damals war
       Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed auf die Regionalarmee der Region
       Amhara und die als Fano bekannten Amhara-Freiwilligenmilizen angewiesen, um
       die in Tigray herrschende ehemalige äthiopische Regierungspartei TPLF
       (Tigray-Volksbefreiungsfront) in einem sehr blutigen zweijährigen Krieg
       niederzukämpfen.
       
       Tigrays Westhälfte entlang der Grenze zu [3][Sudan] ist bis heute von
       Amhara-Kämpfern besetzt und es hat zahlreiche wechselseitige ethnische
       Massaker zwischen Tigray und Amhara gegeben. Zeitweise hatten sich der
       Krieg und die ethnische Gewalt bis ins Umland der Hauptstadt Addis Abeba
       ausgeweitet, wo Rebellen der größten äthiopischen Volksgruppe der Oromo
       sich mit der TPLF verbündeten.
       
       Im November 2022 schlossen Äthiopiens Regierung und die [4][TPLF] Frieden
       bei Verhandlungen in Südafrika. Die TPLF ist seitdem wieder in Tigray an
       der Macht und hat im Gegenzug ihre schweren Waffen abgegeben und 50.000
       Kämpfer demobilisiert. Parallel dazu sollten sich die Amhara-Kämpfer aus
       Tigray zurückziehen. Aber das verweigerten diese, weil Amhara an den
       Friedensgesprächen nicht beteiligt waren.
       
       ## Friedensschluss als Verrat
       
       Viele Amhara-Führer sehen in Abiys Friedensschluss mit der TPLF einen
       Verrat. Amhara war historisch die dominante Region Äthiopiens, sowohl unter
       dem Kaiserreich als auch nach dessen Sturz 1975 unter der kommunistischen
       Militärdiktatur. Das änderte sich erst, als 1991 die TPLF mit verbündeten
       Guerillagruppen das Land eroberte und zwar Äthiopien zur föderalen
       Bundesrepublik erklärte, aber faktisch die Macht monopolisierte.
       
       2018 verhalfen zunehmende Proteste von Amhara und Oromo dem Jungpolitiker
       Abiy Ahmed mit Oromo- und Amhara-Wurzeln an die Spitze der bis dahin
       Tigray-dominierten Regierung. Abiy entmachtete danach die alte TPLF-Elite,
       löste die bisherige Regierungspartei auf, ließ politische Gefangene frei,
       schloss Frieden mit Eritrea und predigte nationale Einheit anstelle des
       Föderalismus. Aber als sich die TPLF 2020 der Entmachtung in ihrer Region
       Tigray widersetzte, führte er einen unbarmherzigen Krieg, der ihm den
       Vorwurf des Völkermords durch Aushungern eingebracht hat.
       
       Bereits im Verlauf des [5][Krieges gegen Tigray] gab es zunehmend Probleme
       zwischen Äthiopiens Zentralmacht und Amhara-Milizen. Ein bekannter
       Fano-Anführer wurde im September 2022 wegen „Aufstellung einer illegalen
       Gruppe“ verhaftet, insgesamt 12.000 Fano-Milizionäre sollen in den Monaten
       zuvor festgenommen worden sein.
       
       Im April 2023, kurz nachdem die TPLF offiziell die Macht in Tigray zurück
       erhielt, verkündete Äthiopiens Regierung, alle Armeen unter Kontrolle von
       Regionalregierungen würden aufgelöst – also auch die in Amhara. Es kam zu
       Unruhen in mehreren Amhara-Städten. Am 27. April wurde der
       Amhara-Regionalchef von Äthiopiens Regierungspartei PP (Prosperity Party)
       erschossen und daraufhin kündigte die Regierung „extensive Maßnahmen gegen
       extremistische Kräfte“ an. Aus Amhara-Regionalsoldaten, die sich in die
       Streitkräfte eingliedern müssen, wurden irreguläre Fano-Milizionäre, die
       über Nacht zu Rebellen werden können.
       
       ## Dramatische Verschlechterung der Sicherheitslage
       
       Äthiopiens Menschenrechtskommission warnte in ihrem vor wenigen Wochen
       vorgelegten Jahresbericht 2023 vor einer dramatischen Verschlechterung der
       Sicherheitslage in Amhara, Verschwindenlassen und wahllosen Festnahmen.
       Bereits Ende Juni berichtete eine Amhara-Exilgruppe der taz, ihre
       Volksgruppe sei „einer beispiellosen Verfolgung und Verdrängung aus ihren
       angestammten Heimatorten“ ausgesetzt. Die aus Tigray abgezogenen
       Regierungstruppen „marodieren jetzt in der Amhara-Region“, mehr als eine
       Million Menschen seien vertrieben worden.
       
       Inzwischen kursiert auf sozialen Netzwerken der Kampfbegriff
       #AmharaGenocide, so wie vor zwei Jahren #TigrayGenocide. Und eine neu
       gegründete „Amhara-Volksfront“ rief am Mittwoch die äthiopischen
       Streitkräfte auf, „alle Befehle zu verweigern, die Angriffe auf Zivilisten
       beinhalten. Stattdessen sollen sie sich hinter einer zu bildenden
       Übergangsregierung der nationalen Einheit versammeln“.
       
       9 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Dominic Johnson
       
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