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       # taz.de -- Internationale Blockbuster: Eine Vorliebe für Atemdepressionen
       
       > Das Humboldt Forum zeigt Filme aus Argentinien, Brasilien, Indien,
       > Nigeria, Thailand, Vietnam. Daheim waren sie ein Hit, im Rest der Welt
       > nicht zu sehen.
       
   IMG Bild: Filmstill aus der Komödie „Nhà Bà Nữ/The House Of No Man“ von Tran Thanh, Vietnam 2023
       
       Deutschland hat’s mit Genderdiskursen: In Karoline Herfurths Episodenfilm
       „Wunderschön“ kämpften sich im letzten Jahr Frauenklischees (gestresste
       Mutter, selbstbewusste Singlefrau, komplexbeladene Agerin, dysmorphes
       Model, unglücklicher Teen) durch damit verbundene Körperproblematiken. Die
       Tragikomödie war 2022 an der Kinokasse der erfolgreichste deutsche
       Erwachsenenfilm. Wenn man also davon ausgeht, dass Kino das Leben spiegelt
       (und US-Blockbuster außer Acht lässt), dann zeichnet „Wunderschön“ die
       deutsche Gesellschaft als gesprächsfreudig, empfindlich und etwas bieder.
       Passt doch.
       
       Die Idee, Land und Kultur durch Film zu repräsentieren, und damit zu einem
       Diskurs über Unterschiede und Kongruenzen anzuregen, verfolgt die Filmreihe
       „Box Office Around the World“. Sie stellt Filme aus Argentinien, Brasilien,
       Indien, Nigeria, Thailand und Vietnam vor, die daheim ein Hit waren, und –
       im Gegensatz zur Konkurrenz aus Hollywood – nicht für den globalen Markt
       produziert wurden, wie die Filmexpertin Dorothee Wenner erklärt, die das
       Programm gemeinsam mit in der deutschen Diaspora lebenden
       Repräsentant:innen der verschiedenen Communitys kuratiert hat.
       
       Weit entfernt von klassisch-kitschigen Liebesträumen erzählt der
       Eröffnungsfilm „Afwaah“ eine düstere und blutige Geschichte über
       Korruption, religiöse Verschwörungstheorien und Misogynie in Indien. Mit
       dem eskapistischen Œuvre „Bollywoods“ hat er – trotz einer obligatorischen
       Tanzszene – nicht viel zu tun.
       
       Unter anderem um Misogynie und Rassismus geht es auch [1][im
       brasilianischen Beitrag „Regra 34“ von Julia Murat]: Die junge, Schwarze
       Jurastudentin und Frauenrechtsaktivistin Simona arbeitet als Camgirl.
       Zwischen den sexuellen Anweisungen ihrer Zuschauer:innen und
       angeheiterten „Schwanzroulette“-Spielen mit Freund:innen büffelt sie
       Kriminalitätstheorie und Funktionalismus – der Dildo steht dabei auf dem
       Schreibtisch.
       
       Durch eine Freundin entdeckt Simone ihre Vorliebe für sadomasochistische
       Praktiken, vor allem Asphyxie hat es ihr angetan. Sie experimentiert, und
       lässt ihre Erfahrungen in ihren Nebenjob einfließen. Die Fragen, die Murat
       ihre Protagonistin stellen lässt, sind komplex: Inwiefern darf man beim
       BDSM, das zwar auf konsensuellem Handeln beruht, aber dabei mit
       Machtstrukturen spielt, jene Strukturen vergessen, denen man ausgesetzt
       ist?
       
       Der Konflikt spitzt sich zu, als ein Gewaltopfer Simona seine Erfahrungen
       schildert: „Er machte eine Nacht lang mit mir, was er wollte“, sagt die
       traumatisierte Frau. Später wird Simona einen anonymen Onlinesexpartner
       genau mit dieser Formulierung nach Hause einladen: „Du kannst eine Nacht
       lang mit mir machen, was du willst.“ Die Konnotation, die Murat ihrem
       intensiv gespielten, intimen und modernen Film mitgibt, ist bewusst
       ambivalent. Schließlich geht es für Simona nicht nur um die
       Selbstbehauptung als BDSM-liebende, sondern auch als Schwarze Frau in einer
       rassistischen Gesellschaft.
       
       Talks zu den Filmen 
       
       In Brasilien, wo die Filmszene sich nach den repressiven Bolsonaro-Jahren
       erst wieder finden muss, wurde „Regra 34“ positiv aufgenommen. Was der Film
       über die dortige Gesellschaft auszusagen vermag, soll ein begleitendes
       Gespräch zwischen Wenner und der Hauptdarstellerin Sol Miranda beleuchten.
       Denn die Auswahl wurde laut der Kuratorin von drei Fragen geleitet, die
       auch bei den Talks eine Rolle spielen: Wie repräsentativ ist der Film? Was
       hat die Menschen in der Heimat daran angesprochen? Und was erfährt man über
       die jeweilige Nation und ihre Kultur?
       
       „Nhà Bà Nữ“ aus Vietnam kommt im Kleid einer schreiend-überspielten Komödie
       daher: Vier Frauen aus drei Generationen profitieren von der Nudelküche,
       die von der apodiktischen Familienmatriarchin geleitet wird. Als sich deren
       jüngste Tochter mit einem Frauenschwarm auf und davon macht, wird aus dem
       von Slapstick bestimmten Film ein Gesellschaftsdrama. Denn hinter der
       Comedyfassade lauern menschenverachtende Verhaltensweisen – und unter denen
       leiden auch die Männer, die sich zwischen Erwartungen und Bequemlichkeit
       aufreiben.
       
       Ein erfolgreiches Beispiel für das „Nollywood“-Kino Nigerias ist die
       Groteske „Battle on Buka Street“ von und mit Funke Akindele. Sie stellt die
       turbulenten Erlebnisse einer Großfamilie in den Mittelpunkt: Zwischen den
       vom polygamen Vater ausgehenden Familienzweigen herrscht kulinarisch
       Konkurrenz – an der „Buka Street“ in Lagos gibt es viele Straßenstände mit
       nigerianischen Spezialitäten. Zwei verfeindete Halbschwestern sind bei der
       Markierung ihres Gastro-Territoriums besonders eifrig – und kein bisschen
       zimperlich …
       
       Der argentinische Historienfilm „Argentina, 1985“ über [2][das Ende der
       Militärdiktatur] war im Heimatland ebenfalls erfolgreich – inwieweit man
       daraus den Aufklärungswillen der Gesellschaft ablesen kann, darf der
       argentinische Autor und Philosoph Darío Sztajnszrajber erklären. Und der
       thailändische Liebesfilmhit „OMG! Oh my girl“ erzählt eine sensible
       Variante der Boy-meets-Girl-Story, und porträtiert dabei die junge
       Generation.
       
       Vielleicht sollte man aus den nationalen Unterschieden in Filmsprache,
       Rhythmus und Spielweisen aber eher die Gemeinsamkeiten ablesen. Denn Reihe
       und Begleitprogramm zeigen, wozu Film vor allem in der Lage ist: zu
       verbinden.
       
       10 Aug 2023
       
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