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       # taz.de -- Festival in der Lausitz: Yoga gegen den Kater
       
       > Das „Wilde Möhre“-Festival behauptet sich seit zehn Jahren in der
       > brandenburgischen Gemeinde Drebkau. Ein Einblick vom Rande der
       > Tanzfläche.
       
   IMG Bild: Container für den Lärmschutz: die Pampa-Bühne auf dem Prærie Festival in Möhritz
       
       Drebkau taz | Was sind das für Verrückte, die mitten in der
       brandenburgischen Lausitz an einem versteckten Stück Erde namens Göritz den
       kleinen Kosmos, der sich „Wilde Möhre“ nennt, jeden Sommer aufs Neue
       erfinden? Hat man es bis hierher geschafft, liegt das Treiben von Berlin,
       Cottbus oder Leipzig längst hinter und der mit Discokugeln geschmückte Wald
       direkt vor einem. Spätestens ab Mitte Mai kommen hier nach und nach bis zu
       400 Helfende zusammen – freiwillig, festangestellt oder als PraktikantInnen
       – um nicht nur eins, sondern gleich vier Festivals vorzubereiten.
       
       „Seelenkiste“ und „Maskenball“ nennen sich die Editionen der „Wilden
       Möhre“. Zusätzlich laden das „Lusatia“ und erstmalig auch das „Prærie
       Festival“ nach „Möhritz“ ein. Durch diesen Zusammenschluss war es trotz
       steigender Kosten möglich, die Ticketpreise zu halten. Jede Veranstaltung
       setzt ihren eigenen Schwerpunkt, doch vereint sie die Lust an
       elektronischer Musik und ausgefallener Kunst.
       
       Mitwirken können alle, die sich mit Birkenstocks durch den Matsch trauen
       und kein Problem damit haben, über längere Zeit im Zelt zu wohnen. Was die
       Menschen dort verbindet, ist mehr die Lust am kreativen Entfalten in der
       Natur als ihr scheinbares Hippie-Dasein. Es müssen Schilder bemalt, Bühnen
       gezimmert und Lichtshows getestet werden. Aus jeder Ecke hört man Musik die
       Akkuschrauber anfeuern. Wo gerade noch matschige Radladerspuren den Boden
       durchzogen, sollen bald elektronische Bässe nächtelange Performances
       begleiten.
       
       Während der Aufbauzeit geht es weniger um die Flucht vor der Routine als um
       deren Neuerfindung: Nach dem gemeinsamen Essen wird gemeinsam gebastelt und
       der Feierabend gemeinsam am Lagerfeuer zelebriert. Auch Arnfried setzt sich
       gerne dazu. Vor 27 Jahren kaufte er das Gelände, um hier eigene Festivals
       zu veranstalten, bis er 2014 sein Gut an die „Wilde Möhre“ verpachtete. Als
       „Lebenselixier“ beschreibt er den Flair, den dieser Ort auf ihn ausübt.
       Mitten im Gewusel steht sein eigenes Häuschen, daneben werden tagtäglich
       Tribünen und Piratenschiffe aus dem Nichts hochgezogen: „Wenn ich keine
       Lust mehr habe, nehme ich den Hund und fahre an den See.“
       
       ## Alle sind willkommen
       
       Trotz der Abgelegenheit zieht es die verschiedensten Gemüter und Alter in
       diese kleinstadtähnliche Gemeinschaft. „Ohne erhobenen Zeigefinger, dafür
       mit Sanftheit und Schönheit“ lebt man hier laut „Wilde Möhre“-Gründer
       Alexander Dettke den gesellschaftlichen Austausch. Soll heißen: alle sind
       willkommen, unabhängig von Hautfarbe, Gender, sexueller Orientierung,
       Religion oder Herkunft.
       
       Am Wochenende wird es neben musikalischen Acts auch Workshops und Vorträge
       zu gesellschaftsrelevanten Themen wie Feminismus oder Achtsamkeit geben.
       Body Painting, Yoga und Breathwork sollen das Nötige gegen den
       morgendlichen Kater tun. Man hat den Anspruch, ein Ort zu sein, „an dem
       sich die Menschen nachhaltig verändern können“, erzählt Dettke.
       
       Ein bisschen mehr als 3.000 Leute versammelten sich am letzten
       Juliwochenende, um die fleischlosen Essensstände und selbstgebauten
       Komposttoiletten einzuweihen. Überall funkeln aufwendig gestaltete
       Installationen, welche von teils internationalen KünstlerInnen entworfen
       wurden.
       
       Nur eines stört die Optik etwas: Hinter den drei größten Bühnen thront eine
       monströse Wand aus bis zu sechs Überseecontainern. Sie sollen die Handvoll
       AnwohnerInnen, die im unmittelbaren Umkreis wohnen, vor dem Lärm schützen.
       Zusätzlich werden hochwertige Systeme zur Bassauslöschung eingesetzt.
       
       ## Ein Euro für die Anwohnenden
       
       Allerdings ist das aus Sicht einiger der insgesamt acht betroffenen
       Menschen nicht ausreichend. Vor der Pandemie gab es nur ein einziges lautes
       Wochenende, nun lägen sie viermal im Jahr wach im Bett – von Freitag bis
       Montag, schildert eine Nachbarin. Zwar fließt ein Euro pro verkauftem
       Ticket direkt an die Anwohnenden, jedoch reicht der Unmut soweit, dass es
       einen schon lang währenden Rechtsstreit gibt. Die weiter gehenden Angebote
       der Veranstalter – der Einbau besserer Fenster oder die Erstattung
       einer Reise während der Festivaltage – wurden abgelehnt. Aus diesem Grund
       geht der Prozess im Oktober dieses Jahres in die nächste Runde.
       
       Demnach gleicht ein kostenloses Ticket erst recht nicht die Forderung nach
       dem Verschwinden des Festivals aus. „Wir haben nichts davon“, äußert eine
       Frau den Wunsch, wenigstens mehr eingebunden zu werden. Früher kamen die
       Busse mit den Feierwütigen an der nahegelegenen Gaststätte „Drehpunkt
       Göritz“ an. Nach der ersten Stärkung führte der Weg zum Festival durch die
       überschaubare Siedlung. Da lohnte sich für die Anwohnenden noch der Aufbau
       kleiner Stände. „Seitdem geklagt wird, ist das nicht mehr möglich“, erzählt
       sie weiter.
       
       Die Gemeinde Drebkau spricht sich prinzipiell für die „Wilde Möhre“ aus.
       Ohne sie ginge „kulturelle Vielfalt für den Landkreis Spree-Neiße
       verloren“, bemerkt der Bürgermeister Paul Köhne. Diese Gunst ist auch die
       Grundlage für die Fördermittel, die das Festival zugesagt bekommen hat.
       Einst geprägt vom Kohleabbau, sieht sich die Region mit einer
       weitreichenden Abwanderung der Bevölkerung konfrontiert. „Wir sind ein
       wertvoller Teil der Lösung, weil wir junge Menschen hierher holen“, sagt
       Dettke.
       
       Um diese familiäre Festivalsubkultur zu erhalten, will man nächstes Jahr
       zusammen mit den „Prærie“-Gründern eine neue Veranstaltungsreihe
       etablieren: „Laut, Leise, Lausitz.“ Zusätzlich läuft ein
       Bebauungsplanverfahren, das das Gelände endlich legalisieren soll, auch
       wenn dies bedeutet, dass die in kürzester Zeit liebevoll errichteten
       Gebäude alle wieder abgerissen werden. Die Anwohnenden werden wohl
       weiterhin den Bässen vor ihrer Haustür standhalten müssen. Dettke hält
       fest: „Es wird für die Ewigkeit gebaut.“
       
       Transparenzhinweis: Die Autorin nahm an der Aufbauwoche des Festivals teil.
       
       11 Aug 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nina Christof
       
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