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       # taz.de -- Michael Müller über Afghanistan: „Es tauchte die ‚Ursünde‘ auf“
       
       > Beim Bundeswehreinsatz in Afghanistan ging vieles schief. Michael Müller
       > (SPD) leitet die Enquetekommission, die Fehler und Versäumnisse aufklärt.
       
   IMG Bild: Soldaten der Bundeswehr während der hektischen Evakuierungsmaßnahmen im August 2021 auf dem Flughafen in Kabul
       
       wochentaz: Herr Müller, in Afghanistan jähren sich die Machtübernahme der
       Taliban und der Abzug der Bundeswehr zum zweiten Mal. Die von Ihnen
       geleitete [1][Enquetekommission des Bundestags] arbeitet 20 Jahre deutsche
       Politik am Hindukusch auf. Was ist Ihre Zwischenbilanz nach dem ersten Jahr
       der Kommission? 
       
       Michael Müller: Wir formulieren gerade den Zwischenbericht. In den
       Anhörungen tauchte immer wieder die „Ursünde“ auf, wie es einige nennen:
       dass die Taliban nie Gesprächspartner waren. Auch dass der Einsatz zu
       überhastet umgesetzt wurde, Bundeswehr und zivile Helfer hatten sich kaum
       vorbereiten können. Der Bundeswehr wurde zu viel übertragen, was nicht ihre
       Aufgabe ist, wie etwa der Staatsaufbau. Und dann hörten wir, dass die
       Koordinierung des Einsatzes der verschiedenen Ressorts weder hier noch vor
       Ort ausreichend funktioniert hat. Das klare Commitment, wer macht was, und
       wer steuert es dann von Berlin aus, damit es vor Ort umgesetzt wird, hat
       nach einigen Aussagen nicht hinreichend stattgefunden.
       
       [2][Die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hätte
       doch nicht Nein gesagt], hätte sie mehr Ressourcen und eine größere Rolle
       beim Institutionenaufbau bekommen, wo sich die Bundeswehr reingedrängt hat.
       War das keine politische Entscheidung? 
       
       Ja, aber auch Wieczorek-Zeul sagte uns, dass sie gar nicht gewollt hätte,
       dass die Bundeswehr mehr Aufgaben übernimmt. Damit stimmt beides: Das
       Entwicklungsministerium hätte gern mehr Ressourcen und eine klare
       Verständigung gehabt, was es machen soll. Aber auch die Koordination
       zwischen den Ressorts Verteidigung, Inneres, Entwicklung, Wirtschaft und
       Finanzen hat untereinander offenbar nicht ausreichend stattgefunden.
       
       Nach außen war stets die Rede vom „vernetzten Ansatz“ zwischen
       militärischen und zivilen Mitteln. Die Bundeswehr bekam aber das Gros der
       Mittel. Hat der vernetzte Ansatz so gar nicht stattgefunden? 
       
       Der Einsatz begann mit der militärischen Aufgabe Kampf gegen den Terror. Es
       bestand eine Abhängigkeit von militärischen Fähigkeiten und vom Engagement
       der Amerikaner, die bald ihren Hauptfokus auf den Irak richteten. Wir
       blieben ohne diese Koordinierung weiter in dieser militärischen
       Verpflichtung in Afghanistan. Die war damit von Anfang an auf einer
       schiefen Ebene. Es ist nachvollziehbar, dass man mit den Amerikanern gegen
       den Terror kämpfen wollte. Aber diese selbstkritische Bestandsaufnahme –
       was haben wir erreicht, was wollen wir mit welchem Schwerpunkt und welchen
       Ressourcen erreichen? – hat mutmaßlich nicht hinreichend stattgefunden.
       
       Warum versäumte die Regierung eine ehrliche Bestandsaufnahme? 
       
       Es mag mehrere Gründe für eine nicht weit genug gehende Analyse geben. Zum
       Ersten, um in dem internationalen Bündnis engagiert zu bleiben, zum Zweiten
       mangelndes Wissen zu Kultur, Geschichte und Entscheidungsstrukturen des
       Landes. Und drittens gab es ja durchaus Erfolge, insbesondere in der
       Anfangsphase. Bundeswehr und zivile Helfer waren gerade zu Beginn
       akzeptierte Partner. Bildungs-, Gesundheits- und Wasserinfrastruktur wurde
       aufgebaut, was zunächst beruhigte, denn es lief doch.
       
       Wollte man es womöglich gar nicht so genau wissen aus Angst vor möglichen
       Konsequenzen? Und war eine Funktion dieser Berichte vielleicht auch,
       leichter Flüchtlinge abschieben zu können? 
       
       Ich bleibe dabei: Eine intensivere Ressortabstimmung hätte vielleicht
       vieles in dem Dialog der Ministerien miteinander offengelegt. Womöglich gab
       es auch innenpolitische Gründe, nicht alles so klar zu formulieren. Bei den
       Anhörungen wurde deutlich: Wenn wir zumindest auf Regierungsebene zum
       Schluss kommen, dass wir nicht erfolgreich sind, was ist dann die
       Konsequenz? Können wir uns aus der internationalen Solidarität
       verabschieden? Es haben sich auch Abgeordnete vor Ort selbst ein Bild
       gemacht. Es gab kritische Diskussionen, aber nicht mit den Konsequenzen,
       die uns aus heutiger Sicht notwendig erscheinen.
       
       War die Option eines deutschen Rückzugs realistisch? 
       
       Es gab ja die Freiheit, sich nicht am Krieg der Amerikaner im Irak zu
       beteiligen. Vielleicht war dieses Nein möglich wegen des Ja zu Afghanistan.
       Dass Deutschland auch in der Verantwortung war, diesen auch von Afghanistan
       ausgehenden Terror zu bekämpfen, stellte niemand ernsthaft in Frage. Ich
       erinnere mich: 15 Jahre später als Regierender Bürgermeister– was wir hier
       in Berlin für Sorgen hatten nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz 2016
       und dem Terror in unseren Partnerstädten.
       
       Deutschland war 2001 Gastgeber der Konferenz auf dem Petersberg, die nicht
       nur einen sehr kleinen militärischen Einsatz beschloss, sondern vor allem
       den Aufbau staatlicher Strukturen. Hat man sich von dieser Führungsrolle zu
       früh verabschiedet? 
       
       Hatten wir nach 9/11 wirklich die Führungsrolle? Ihre Frage impliziert,
       dass Deutschland insbesondere am Anfang eine andere Rolle hätte spielen
       können. Aus den Anhörungen kann ich das nicht schlussfolgern.
       
       In der Kommission wurde deutlich, dass es beim Antiterrorkampf der USA wie
       der Verbündeten viele zivile Opfer gab und dies die Taliban stärkte. Müsste
       die Kommission nicht die Option diskutieren: Wir machen bei dieser Art
       Militäreinsatz nicht mehr mit, sondern kümmern uns um den Aufbau
       politischer Institutionen? 
       
       [3][Wir waren sehr aktiv beim Aufbau der Polizei, der auch nicht
       funktioniert hat.] Aber viele haben uns bestätigt, dass wir da inklusive
       der Stadt Berlin sehr engagiert waren und viel versucht haben. Doch welche
       Konsequenzen ziehen wir daraus, wenn wir heute sehen, dass es so nicht
       funktioniert hat?
       
       Polizei ist bei uns Sache der Länder, von denen sich viele nicht beteiligt
       haben. War es denn sinnvoll, das die Bundesregierung etwas übernommen hat,
       das unwillige Bundesländer umsetzen sollten? 
       
       Der Bundeswehreinsatz und die humanitäre Hilfe fanden ja auf Bundesebene
       statt. Bei der Polizei sollte gerade unsere Erfahrung der zivilen, also
       nichtmilitärischen Struktur eingebracht werden. Da sehe ich kein Problem.
       
       Aber wie? Da kommen wir doch wieder zur Frage: Hat der vernetzte Ansatz
       geklappt oder müssen wir nicht eigentlich viel mehr politisch tätig werden? 
       
       Eine Konsequenz dürfte sein, dass es eine klare Fehlerkultur geben muss,
       eine offene Auseinandersetzung zu Zielen und Fähigkeiten, der permanenten
       Evaluierung eines Einsatzes samt Schlussfolgerungen, um gegebenenfalls
       Dinge zu ändern.
       
       Die Intervention in Afghanistan scheiterte auch politisch. [4][Die
       Kooperation mit Warlords diskreditierte und destabilisierte das
       demokratische System], das man errichten wollte. Was lernen Sie aus dem
       gescheiterten Demokratie-Aufbau? 
       
       Offensichtlich kann man eine Demokratie oder ein Staatsgebilde aus
       Legislative, Exekutive und Judikative einer anderen Kultur nicht von außen
       überstülpen. Wir haben versäumt, auf relevante Entscheider zuzugehen und
       sie einzubinden. Dadurch fehlte bei ihnen wie bei großen Teilen der
       Bevölkerung die Akzeptanz für das Vorgehen.
       
       Kriminelle Warlords wurden bei Wahlen zugelassen und so in Positionen
       gebracht, wo sie von internationaler Hilfe sehr profitierten. 
       
       Ausgangspunkt war ein weltweiter Schock, das Engagement war anfangs klar
       militärisch geprägt. Nach Jahrzehnten Krieg in Afghanistan war die Frage:
       Wie können wir da überhaupt Strukturen aufbauen? Man hat zunächst mit
       Menschen kooperieren müssen, die einen mitunter zweifelhaften Ruf hatten.
       Dass man dann nicht auf andere zugegangen ist, die eine andere wichtige
       Rolle spielten, wird als größerer Fehler gesehen.
       
       Warlords stellten bei der Bonner Konferenz 2001 drei der vier Delegationen.
       Eine fünfte, demokratische Delegation wurde wieder ausgeladen. 
       
       Ich sehe das als großen Fehler. Wir haben noch nicht aufarbeiten können,
       warum es so war.
       
       Brauchen wir eine andere parlamentarische Begleitung? 
       
       Deutschland wird international wahrscheinlich mehr gefordert, woraus auch
       die Diskussion um den Bundessicherheitsrat folgt: Brauchen wir ein
       Regierungsgremium, wo Ressortinteressen und -verpflichtungen
       zusammengeführt werden? Wir haben aus gutem Grund starke
       Ressortverantwortung bei den Ministerien und kein Präsidialsystem.
       Parlamentarier haben die Aufgabe, das Regierungshandeln zu kontrollieren,
       einschließlich der Ressortabstimmung. Möglicherweise ist es sinnvoll, das
       in einem Gremium zu diskutieren, das das zusammenführt, oder in gemeinsam
       tagenden statt getrennten Ausschüssen.
       
       Transparenzhinweis: Thomas Ruttig ist taz-Autor und Mitglied des
       Afghanistan Analysts Network. Früher arbeitete er für die UN in Kabul,
       weshalb er von der Enquetekommission zur Afghanistan-Konferenz 2001 befragt
       wurde.
       
       13 Aug 2023
       
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