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       # taz.de -- Das andere Ende der Kanalisation: Berlins Großgrundbesitz
       
       > Vor 150 Jahren wurden die Berliner Stadtgüter gegründet. 17.000 Hektar
       > Land vor den Toren besitzt die Hauptstadt bis heute. Was macht man bloß
       > damit?
       
   IMG Bild: Die Schönerlinder Teiche bei Berlin sind ein Naturschutzgebiet mit S-Bahn-Anschluss
       
       Die beste Aussicht auf das Naturschutzgebiet „[1][Schönerlinder Teiche]“
       gibt es von der Holzbrücke. Der Blick geht auf eine halboffene
       Savannenlandschaft, Bäume und Sträucher lose verstreut, Blumen blühen, aber
       auch offene Flächen und Wasserstellen sind zu sehen. „Da hinten sind die
       Koniks“, sagt Katrin Stary. Koniks sind halbwilde Pferde. Dann hält sie
       Ausschau nach den Wasserbüffeln, doch die haben sich versteckt. Unterhalb
       der Aussichtsbrücke entdeckt sie schließlich drei Fäkalienhaufen. Sie
       lächelt: „Vor Kurzem waren sie noch hier.“
       
       Katrin Stary ist Geschäftsführerin der [2][Berliner Stadtgüter], die in
       diesem Jahr ihren 150. Geburtstag feiern. An die 17.000 Hektar besitzt die
       dem Land Berlin gehörende GmbH auf Brandenburger Gebiet, das ist fast
       50-mal so viel wie das Tempelhofer Feld.
       
       Nur wenige Flächen sind wie die hinter dem nördlichen Stadtrand gelegenen
       Schönerlinder Teiche Naturschutzgebiete. Auf dem größten Teil der Güter
       wird auf 13.700 Hektar Landwirtschaft betrieben. Seit der Umstrukturierung
       der Gesellschaft 2007 werden die Flächen von Pächterinnen und Pächtern
       bestellt. „Würden wir das noch selber machen“, sagt Stary, „wären wir der
       größte Landwirtschaftsbetrieb Deutschlands.“
       
       Auch wo auf dem halboffenen Land des Naturschutzgebietes Schönerlinder
       Teiche heute Wasserbüffel ihren Kot hinterlassen, wurden bis vor noch nicht
       allzu langer Zeit menschliche Fäkalien entsorgt. Auf die Rieselfelder in
       Schönerlinde wurden seit 1908 vom Pumpwerk in der Weddinger Seestraße die
       Abwässer der Berliner Kanalisation gepumpt. Durch die Verrieselung wurde
       das Abwasser geklärt und konnte ins Grundwasser sickern. Der Klärschlamm
       selbst diente als Dünger für die Landwirtschaft auf den Stadtgütern. In
       Schönerlinde wurden in den Teichen zudem auch Karpfen gezüchtet und Enten
       gehalten.
       
       Berlin versorgt sein Umland mit menschlichen Hinterlassenschaften, das
       Umland versorgt Berlin mit Obst, Gemüse und zu Weihnachten mit Karpfen. So
       ging das in Schönerlinde fast 80 Jahre lang. Erst als 1985 unweit der
       Teiche ein Klärwerk gebaut wurde, wurde die Verrieselung eingestellt. Die
       Teiche fielen in einen Dornröschenschlaf, es kamen Rohrammer,
       Teichrohrsänger, Braunkehlchen und Zwergtaucher.
       
       ## Mit der S-Bahn ins Naturschutzgebiet
       
       Als die verbuschte Teichlandschaft nach der Wende wiederentdeckt wurde,
       kamen auch die Konikpferde und Wasserbüffel. Sie sollen das Land beweiden
       und damit die Artenvielfalt sichern. Und natürlich die stadtmüden
       Berlinerinnen und Berliner anziehen. Der Aussichtsturm gehört zu einem vier
       Kilometer langen Lehrpfad, der am S-Bahnhof Mühlenbeck-Mönchmühle beginnt.
       
       „Es ist das einzige Naturschutzgebiet in Deutschland mit einem
       S-Bahn-Anschluss“, sagt Katrin Stary. Sie ist seit 2015 Chefin der
       Stadtgüter. Seitdem die Landwirtschaftsflächen verpachtet sind, ist sie
       zwar nicht mehr Deutschlands größte Bäuerin, aber doch Berlins
       Großgrundbesitzerin Nummer eins. Wie ist es dazu gekommen?
       
       Der Blick zurück kommt nicht aus ohne beißenden Gestank. Bis weit ins 19.
       Jahrhundert hinein landete das Abwasser aus den Berliner Haushalten direkt
       in den Rinnsteinen der Straßen. Abgeleitet wurde es direkt in die Spree.
       Typhus und andere Krankheiten breiteten sich immer wieder in der Stadt aus.
       
       Das rief [3][Rudolf Virchow] auf den Plan. Der Pathologe an der Charité war
       1867 vom Berliner Magistrat damit beauftragt worden, Pläne für eine Reform
       der Wasserversorgung zu entwickeln. Konkret ging es darum, ob das bisherige
       System der Abfuhr von Fäkalien verbessert oder der Neubau einer
       unterirdischen Kanalisation vorangetrieben werden sollte. Gegen Letzteres
       gab es viele Vorbehalte. Immer wieder war von einem „Reich der Ratten“ die
       Rede, die Gefahr einer neuen Pestepidemie wurde beschworen.
       
       Mit ins Boot holte Virchow den Ingenieur James Hobrecht. Der hatte mit dem
       nach ihm benannten Hobrechtplan bereits die Matrix für das Wachstum des
       überirdischen Berlin vorgelegt. Nun war er auch für die unterirdische Stadt
       zuständig. Denn Virchow und Hobrecht plädierten bald für ein ausgeklügeltes
       Kanalisationssystem. Aufgeteilt auf zwölf sogenannte Radialsysteme sollte
       die Kanalisation werden, die Rohre sollten die Abwasser an den jeweils
       tiefsten Punkt bringen und von dort auf die Rieselfelder gepumpt werden.
       
       „Bald schon war Berlin die sauberste Stadt Europas“, sagt Katrin Stary und
       steuert ihr Auto von Schönerlinde Richtung Hobrechtsfelde. „In London
       wurden die Fäkalien bis zum Bau der ersten Klärwerke noch ungefiltert in
       die Themse geleitet.“
       
       ## Genossenschaftsdorf der Ideen
       
       „Kommunikation ist das Wichtigste“, sagt Antonia Gerke und nippt an ihrem
       Kaffee. „Wenn man miteinander redet, entstehen die besten Ideen.“ Gerke
       sitzt im Café „James“ in Hobrechtsfelde, benannt nach James Hobrecht, der
       hier allgegenwärtig ist. Sogar ein Relief am Eingang zum Gut an der
       Dorfstraße zeigt sein Konterfei.
       
       Doch das letzte der zwölf ehemaligen Stadtgüter, 1908 gegründet nach
       Hobrechts Tod, ist kein Museum, sondern ein [4][überraschend lebendiger
       Ort]. Seit 2010 gehört das 250-Seelen-Dorf der Berliner Genossenschaft
       Bremer Höhe, die die 25 Vierfamilienhäuser nach und nach saniert hat. Nicht
       nur im James kann man sich seitdem treffen, sondern auch im Café des
       Besucherzentrums im ehemaligen Kornspeicher des Guts. Und natürlich in der
       „Pferdekultur“ von Antonia Gerke.
       
       „Als die Verrieselung in Hobrechtsfelde zu Ende war, wurde versucht, die
       Rieselfelder zu rekultivieren“, sagt die Schleswig-Holsteinerin, die 2011
       nach Hobrechtsfelde kam und 2015 ihren Pferdehof gründete. „Bald hat man
       aber festgestellt, dass viele Bäume auf den Flächen nicht anwuchsen.“ Ein
       Hybrid aus Wald und Offenland ist seitdem im 850 Hektar großen
       Hobrechtswald entstanden. Für das offene Land sorgen 80 Koniks. Zu ihnen
       gesellen sich noch 135 Rinder, vorwiegend Galloways.
       
       In Hobrechtsfelde sind viele an der Gestaltung der ehemaligen
       Rieselfeldlandschaft beteiligt. Der Förderverein des Naturparks Barnim
       hatte Fördermittel für das Projekt beantragt und betreibt inzwischen auch
       das Besucherzentrum. Die Berliner Forsten sind für den Hobrechtswald
       verantwortlich und die extensive Beweidung der Flächen. Die Stadtgüter von
       Katrin Stary wiederum haben den Gutshof an die Agrar GmbH Crawinkel und die
       Pferdekultur von Antonia Gerke verpachtet.
       
       Wo viel geredet wird, entstehen Ideen. Die jüngste von ihnen: Warum nicht
       auf dem Südhang unter dem ehemaligen Kornspeicher Wein anbauen?
       
       Es gab auch Rückschläge. Die Berliner Stadtgüter mussten Flächen abgeben,
       an den Flughafen [5][BER] oder für den [6][Neubau der Justizvollzugsanstalt
       Heidering] in Großbeeren südlich von Berlin. Doch das ist nichts im
       Vergleich zu den Überlegungen der Nachwendezeit, die Berliner Besitzungen
       in Brandenburg meistbietend zu verscherbeln.
       
       Auf 2,1 Milliarden Mark war der Wert damals geschätzt worden – als
       potentielles Bauland. Wäre es zur Privatisierung der Stadtgüterflächen
       gekommen, hätte sich das wachsende Berlin heute ins Umland hineingefressen.
       Ein Siedlungsbrei wie in Paris oder London wäre entstanden.
       
       Weil der Komplettverkauf 1992 mit Hilfe eines Entwicklungskonzepts gestoppt
       wurde, ist die Stadtkante bis heute sichtbar geblieben. Rückblickend
       betrachtet war diese Entscheidung für die Siedlungsstruktur des Berliner
       Großraums ebenso weitsichtig wie der Bau der Kanalisation für die
       Krankheitsbekämpfung vor 150 Jahren.
       
       Berlin darf zwar ins Umland wachsen, aber nur entlang der Verkehrsachsen.
       Zwischen den Zacken dieses „Siedlungssterns“ bleibt die Landschaft frei von
       Bebauung. Nicht ganz zu unrecht heißt es im Begleitbuch zur 150-jährigen
       Geschichte: „Die Stadtgüter halten Berlin den Rücken frei.“
       
       Doch der Betrieb war in den neunziger Jahren defizitär. Von den
       Volkseigenen Gütern der DDR hatte das wiedervereinigte Berlin nicht nur die
       alten Besitzungen zurückbekommen, es erbte auch 34.000 Schweine, 25.000
       Mastrinder, 10.000 Kühe, 5.600 Schafe. Hinzu kamen 4.000 Beschäftigte, von
       denen aber schon 1994 nur noch 700 übrig geblieben waren.
       
       Bald war klar, dass Berlin das nicht kann: Bäuerin sein. Der große Schnitt
       kam 2001. Die Stadtgüter wurden zu einer Liegenschaftsgesellschaft
       umgewandelt, die landwirtschaftlichen Flächen sollten verpachtet werden.
       „Damit war die Hoffnung verbunden, großflächig auf Biolandwirtschaft
       umstellen zu können“, sagt Katrin Stary. Allein, es fand sich kein
       passender Bewerber. „Also wurden zwei Lose verpachtet, eines im Norden,
       eines im Süden.“
       
       „Aus heutiger Sicht“, sagt die Stadtgüter-Chefin, „hätte man mehr Lose
       vergeben sollen.“ Die Chance einer auf Berliner Flächen betriebenen groß
       angelegten ökologischen Landwirtschaft ist vertan. „Zwar hatte der Pächter
       im Süden den Auftrag, zum Teil ökologisch zu wirtschaften“, sagt Stary,
       „durchgesetzt wurde das aber nie.“ Die Böden sollten stattdessen nach
       „guter fachlicher Praxis“ bewirtschaftet werden.
       
       Ein nennenswerter Umstieg zwischendurch ist auch nicht möglich. Von den
       13.700 Hektar landwirtschaftlicher Fläche sind 10.000 Hektar bis 2054 und
       2056 verpachtet. Bleiben also nur kleine Umstiegsflächen. „2024 suchen wir
       für 300 Hektar einen neuen Pächter“, kündigt Katrin Stary an. Ob sie da auf
       Bio besteht, will sie aber nicht versprechen. „Was mache ich, wenn da ein
       nicht regional ansässiger Landwirt um die Ecke kommt und zertifiziert ist,
       und sich gleichzeitig ein regionaler Landwirt bewirbt, der ohne
       Zertifizierung nachhaltig wirtschaftet?“
       
       ## Ausgleich am Stadtrand
       
       Wer so viele Flächen hat wie die Stadtgüter, muss sich auch Fragen gefallen
       lassen. Nicht nur die nach biologischer Landwirtschaft, sondern auch warum
       nicht mehr Flächen für Naturschutz zur Verfügung stehen. Fragen wie diese
       stellt zum Beispiel der Bund für Umwelt und Naturschutz in Deutschland. Die
       Antwort der Stadtgüter lautet dann: Machen wir doch. „Für Ausgleichs- und
       Ersatzmaßnahmen bei Berliner Bauprojekten stellen wir als Stadtgüter
       Flächen zur Verfügung“, sagt Katrin Stary.
       
       Für Andreas Faensen-Thiebes, Vorstandsmitglied des BUND Berlin, ist das
       nicht genug. „Oft sind Ausgleichsflächen weit weg vom Ort des eigentlichen
       Eingriffs“, sagt er. „Und dann verdienen die noch gut daran, weil der
       Investor die Flächen und die Maßnahme finanzieren muss.“
       
       Es gibt allerdings auch Beispiele, die nach Ansicht des BUND funktionieren.
       In Lichterfelde-Süd wird ein großes Bauprojekt der Groth Gruppe auf dem
       ehemaligen US-Stützpunkt Parks Range Teile einer gewachsenen
       Weidelandschaft in Anspruch nehmen. Als Ausgleichsmaßnahme entsteht nun auf
       Brandenburger Gebiet die „neue Weidelandschaft Lichterfelde“. „Das Gute
       daran ist, dass die Brandenburger Fläche unmittelbar an der Stadtgrenze an
       die alte Fläche grenzt“, sagt Andreas Faensen-Thiebes.
       
       Zu deren 150. Geburtstag wünscht sich der BUND-Mann noch einmal eine
       Neuausrichtung der Stadtgüter. „Sie sollten als landeseigene GmbH nicht
       mehr dem Finanzsenator unterstehen und Gewinn einbringen müssen“, überlegt
       er. „Wenn sie zur Umweltverwaltung gehören würde, könnten auf den Berliner
       Flächen in Brandenburg viel mehr Umweltschutzprojekte gemacht werden.“
       
       Aber auch Andreas Faensen-Thiebes weiß, dass das Zukunftsmusik ist. Gerade
       weil der Baudruck im rasch wachsenden Berlin immer größer wird und immer
       weniger Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen auf dem Stadtgebiet stattfinden
       können, wächst der Druck auf die Flächen der Stadtgüter.
       
       Und dann sollen sie auch ihren Teil zur Energiewende beitragen. „42
       Windkraftanlagen drehen sich bereits auf dem Gelände der Stadtgüter“, sagt
       Katrin Stary als wir uns verabschieden. Zwölf Weitere sind geplant.
       
       Die Zeiten, in denen auf den ehemaligen Rieselfeldern halboffene
       Savannenlandschaften wie in Schönerlinde oder Hobrechtsfelde entstanden,
       neigen sich dem Ende zu.
       
       13 Aug 2023
       
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