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       # taz.de -- Fernkältenetz in Schweden: Erfrischung aus 68 Metern Tiefe
       
       > Wenn die Sommer immer heißer werden, sind kühle Räume gefragt. Kommunale
       > Fernkältenetze können eine gute Lösung sein. Schweden ist da schon weit.
       
   IMG Bild: Auch Österreich experimentiert mit Fernkälte: Wien nutzt Absorptionsenergie aus der Müllverbrennung
       
       Stockholm taz | Für Mölndal ist es die größte Investition seit der
       Inbetriebnahme einer neuen [1][Fernwärmeanlage] vor 15 Jahren. Wieder geht
       es dem kommunalen Energieunternehmen der im Großraum Göteborg gelegenen
       westschwedischen 70.000-EinwohnerInnen-Stadt um Fernenergie – aber dieses
       Mal um Fernkälte.
       
       Bereit seit 2017 hat Mölndal ein Fernkältenetz, nun soll es erweitert
       werden. Dafür müssen neue Produktionsanlagen entstehen. „Die Nachfrage
       unserer Kunden nach Kälte steigt stetig an“, sagt Christian Schwartz, Chef
       von Mölndal Energi.
       
       Fernwärme – das ist nachvollziehbar. Aber besteht wirklich auch ein Bedarf
       an Fernkälte? Und das im vermeintlich so kühlen Norden? Offenbar ja. Denn
       tatsächlich gehört Schweden neben Frankreich zu den europäischen Ländern,
       die eine führende Rolle im Bereich Fernkälte spielen. Immer mehr
       Verantwortliche in den Städten hier denken Fernwärme und Fernkälte direkt
       zusammen. Der Ausbau eines Fernkältenetzes gehört deshalb mittlerweile zum
       festen Bestandteil vieler [2][kommunaler Klimapläne]. Insbesondere bei
       sommerlichen Temperaturen müssen Bürogebäude, Einkaufszentren,
       Krankenhäuser und Industrien gekühlt werden. Und dabei ist Fernkälte eine
       Alternative zu stromfressenden lokalen Kühl- und Klimaanlagen.
       
       Fernkälte funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie Fernwärme: Wasser wird
       über unterirdische Leitungen zu den einzelnen Grundstücken transportiert.
       Aber statt heißem Wasser zum Aufwärmen ist es kaltes Wasser zur Kühlung. In
       den angeschlossenen Gebäuden überführen Wärmetauscher die Kälte des Wassers
       in das geschlossene Kühlsystem des Gebäudes. Produziert man Kälte im großen
       Maßstab zentral anstatt in vielen kleinen Anlagen, ist das
       energieeffizienter und damit sowohl ökologisch als auch ökonomisch
       vorteilhafter – so wie auch bei der zentralen Wärmeproduktion.
       
       ## 536 Kilometer Kälte
       
       Anfang der 1990er Jahre hat der Energieversorger in der Stadt Västerås das
       erste schwedische Fernkältenetz in Betrieb genommen. Nun bieten Unternehmen
       in mehr als 40 Kommunen Fernkälte an. Größere Netze gibt es vor allem in
       Göteborg, Lund, Uppsala und Linköping. Zusammengerechnet belief sich die
       Länge dieser Netze im vergangenen Jahr auf 536 Kilometer.
       
       Das Netz in Stockholm ist mit rund 250 Kilometern das längste städtische
       Fernkältenetz Europas. Bislang sind daran vorwiegend kommerzielle Gebäude
       und Industrieunternehmen angeschlossen. Laut der Umweltbehörde besteht aber
       ein stetig steigender Bedarf, neben Krankenhäusern auch andere öffentliche
       Einrichtungen wie Altenheime oder Kindergärten und Schulen mit Kälte zu
       versorgen. Denn in der schwedischen Hauptstadt ist die mittlere Temperatur
       seit 1990 um 1,1 Grad gestiegen, [3][die jährlichen Hitzewellen werden
       länger].
       
       Die regelmäßig aktualisierte Wärmekarte der Stadt zeigt eine stetige
       Zunahme der „Hitzeinseln“. Derzeit gibt es etwa 180 mehr als ein Hektar
       große Gebiete, in denen Höchsttemperaturen von über 35 Grad gemessen
       werden. Dort wohnen 18 Prozent der StockholmerInnen. 70 Prozent leben in
       Zonen, in denen die maximalen Temperaturen auch schon zwischen 32 und 34
       Grad liegen.
       
       Gerade Neubauten seien sehr gut isoliert und wiesen eine hohe
       Energieeffizienz auf, sagt Jan Akander, Lektor für Energiesysteme und
       Bauphysik an der Hochschule Gävle: „Das ist natürlich gut. Aber in einem
       wärmeren Klima wird es zu einer Gratwanderung, weil ein gut gedämmtes Haus
       Kälte weder herein- noch herauslässt, wie das bei älteren Gebäuden der Fall
       ist.“ Untersuchungen, die sein Hochschulteam im Auftrag der schwedischen
       Energiebehörde angestellt hat, kamen zum Ergebnis, dass der künftige
       Kühlbedarf von Wohnungen bis 2050 vermutlich um das Sechsfache ansteigen
       wird.
       
       ## Mal so, mal besser so
       
       Für Einfamilienhäuser seien elektrisch betriebene Kühl- und Klimaanlagen
       die optimale Lösung. Vor allem, wenn dafür der Strom aus Solarzellen zur
       Verfügung stünde, „denn die erzeugen am meisten Energie, wenn der
       Kühlbedarf am höchsten ist“, sagt Akander.
       
       Für Mehrfamilienhäuser und kommerzielle Gebäude sei dagegen Fernkälte am
       effektivsten und könne auch dazu beitragen, das Stromnetz zu entlasten,
       weil keine individuellen Anlagen mehr eingesetzt werden müssten. Für neue
       Stadtviertel solle man von vornherein planen, zusammen mit
       Fernwärmeleitungen auch solche für Fernkälte zu verlegen.
       
       Vor zehn Jahren habe man den Aufbau eines Fernkältenetzes schon einmal
       durchgerechnet, aber wie in manchen anderen Städten die Pläne dann als
       unwirtschaftlich beiseitegelegt, berichtete Henrik Näsström vom kommunalen
       Energieversorger der westschwedischen Hafenstadt Varberg in der
       Fachzeitschrift Tidningen Energi. Aufgrund der wärmeren Sommer sei diese
       Kalkulation nun – und auch das ähnlich wie in anderen Städten – bereits
       wieder überholt. Man habe die Entscheidung revidiert und arbeite jetzt an
       einem Netz, das man im Sommer 2026 in Betrieb nehmen wolle.
       
       In Varberg hat man sogar eine Kältequelle direkt vor der Haustür: In die
       Produktionsanlage wird eiskaltes Meerwasser aus der Tiefe des Kattegat
       gepumpt, das dann das Wasser im Fernkältenetz kühlt. Das machen auch viele
       andere am Meer oder an großen Binnenseen gelegene Städte so. In Jönköping
       holt man das kühle Nass beispielsweise aus 68 Meter Tiefe aus dem
       Vätternsee. „Freikühlung“ nennt sich das. Mit Absorptionskälte muss hier
       nur kühlend nachgeholfen werden, soweit die Temperatur des Meer- oder
       Seewassers über 6 Grad liegt.
       
       Ansonsten wird Fernkälte in Schweden überwiegend mit Absorptionskälte
       produziert – dem Prinzip, nach dem beispielsweise Campingkühlschränke oder
       Minibars in Hotels funktionieren: Dabei wird die in der Wärme enthaltene
       Energie in Kälte umgewandelt. Auf diese Weise kann für die Fernkälte
       überschüssige Wärme aus der Fernwärmeproduktion, dem Abwasser oder der
       Abwärme aus der Industrie genutzt werden. Für die Kälte muss so nicht extra
       Wärme produziert werden, was die Klimagasemissionen niedrig hält. Die
       andere Technik: Kompressorkälte wie beim Haushaltskühlschrank.
       
       Fernkälte sei ein wichtiger Baustein im Energiesystem schwedischer Städte
       geworden, ist die Bilanz [4][einer im Frühjahr veröffentlichten Studie mit
       dem Titel „30 år av fjärrkyla i Sverige“]. Die AutorInnen konstatierten,
       dass die gestiegenen Strompreise die Nachfrage nach dem Anschluss sowohl an
       Fernwärme- wie an Fernkältenetze so massiv erhöht hätten, dass die
       Energieversorger Probleme haben, damit Schritt zu halten. Und sie fragen
       auch, ob Schweden Inspirationsquelle für andere Länder sein könne, „denn
       der weltweite Kältebedarf ist hoch und dürfte die kommenden Jahre stark
       ansteigen“. Ihre eigene Antwort: Schweden könne für Länder mit ähnlichen
       geografischen und klimatischen Bedingungen ein Vorbild sein.
       
       In der Studie weisen sie aber auch darauf hin, dass es Besonderheiten gibt,
       die nicht so leicht übertragbar sind – etwa die lange schwedische Tradition
       der Fernwärmeversorgung und die Möglichkeit, in großen Teilen der
       Kühlsaison auf Freikühlung zurückgreifen zu können. Denn das sei es vor
       allem, was die Kosten senke und sich in der Klimabilanz positiv auswirke.
       
       „Entscheide dich für Fernkälte“, wirbt das Energieunternehmen der Stadt
       Karlstad derzeit um neue Kunden für seine „natürliche Kälte aus dem
       Vänernsee“. Ihr Argument: So könne der sonst [5][für die Kühlung benötigte
       Strom] für etwas verwendet werden, wo er nicht ersetzbar ist.
       
       17 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nach-dem-Waermepumpentheater/!vn5954087
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   DIR [3] /taz-Podcast-klima-update/!5953886
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   DIR [5] /Andauernde-Hitze-in-China/!5947385
       
       ## AUTOREN
       
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