URI: 
       # taz.de -- Lebensmodell Verantwortungsgemeinschaft: Drei Singles sind eine Familie
       
       > Die Ampelkoalition will das Familienrecht reformieren. Das ist eine gute
       > Nachricht für Alleinstehende, denn sie brauchen dringend mehr Rechte und
       > Anerkennung.
       
   IMG Bild: Freund-schaften sind Wahlverwandtschaften
       
       Zwischenmenschlichkeit in Deutschland, Beispiel eins: Vier Menschen von
       Mitte 30, drei Frauen und ein Mann, die eine frisch getrennt, der andere
       früh verwitwet, zwei Langzeitsingles, pachten gemeinsam einen Garten.
       Warum? Weil sie sich das jeweils allein nicht leisten könnten, weder die
       Kosten noch den Arbeitsaufwand. Sie sind seit dem Studium befreundet,
       pflegen die Beete abwechselnd oder gemeinsam und laden Bekannte zu
       Gartenpartys ein, so ist immer etwas los auf der Parzelle, es „vereinsamt“
       garantiert keine:r der vier.
       
       Alltagsbeispiel zwei: Zwei Freundinnen, die eine alleinerziehend mit
       kleiner Tochter, die andere Langzeitsingle ohne Kind, ziehen zusammen in
       eine Wohnung. Ist die eine beruflich unterwegs oder übernachtet bei einem
       „Flirt“, kümmert sich die andere um das Mädchen, gekocht wird fast immer
       gemeinsam. Das macht Spaß und spart – wie bei der geteilten Miete – viel
       Geld.
       
       Gegenwartsschnipsel Nummer drei: Drei Kleinstädter von Ende 50, zwei
       Männer, eine Frau, alle aus unterschiedlichen Gründen allein lebend, wollen
       etwas gegen die Verödung der Fußgängerzone tun. Sie kümmern sich um die
       Zwischennutzung eines leerstehenden Geschäfts, stellen dort
       Kulturveranstaltungen auf die Beine, richten einen Fahrdienst ein, damit
       auch Senior:innen aus umliegenden Altenheimen teilnehmen können.
       
       So oder so ähnlich sieht die bundesdeutsche Realität heute vielerorts aus –
       gar nicht mal so übel, auch wenn Kulturpessimist:innen gern vor der
       „Zersplitterung der Familien“ und einer [1][„Einsamkeitsepidemie“] warnen.
       Oft weit unter dem Radar der staatlichen Statistiken organisieren Menschen
       ihr Zusammenleben, passen aufeinander auf, greifen einander unter die Arme.
       Und das, ohne verheiratet, verschwistert oder verliebt zu sein. Stattdessen
       finden sie sich zu Wahlverwandtschaften zusammen. Zu Cliquen, Zirkeln,
       Nachbarschaftsgruppen, auf die sie sich verlassen können, auch wenn es mal
       hart kommt.
       
       ## Eine kleine gesellschaftspolitische Revolution
       
       Für genau „solche Leute“ soll der Alltag künftig ein wenig leichter werden.
       So sieht es ein Gesetz vor, dessen erste Umrisse FDP-Justizminister Marco
       Buschmann demnächst auf den Kabinettstisch der Ampel legen will. [2][Die
       Liberalen machen sich für sogenannte Verantwortungsgemeinschaften stark.]
       In ihrem ersten Eckpunkteentwurf aus dem Jahr 2020 heißt es dazu:
       „Möglichst unbürokratisch“ sollen sich „mindestens zwei oder mehrere
       volljährige Personen“, die nicht miteinander verheiratet oder verpartnert
       sind, zusammentun können – und dabei wenigstens ein paar Rechte genießen,
       die ihnen bisher verwehrt sind. Die Stärkung „selbstbestimmter
       Lebensentwürfe“ sei das Ziel, heißt es von der FDP, und [3][nicht nur die
       Soziologin Andrea Newerla lobt] den Vorstoß als „sehr spannenden Vorschlag,
       weil es solch ein Modell in dieser sehr freien Form, ohne Fokus auf
       Zweisamkeit, noch nirgendwo anders gibt.“
       
       In der Tat wäre die „Verantwortungsgemeinschaft“ eine kleine
       gesellschaftspolitische Revolution. Denn damit stünde nach den
       Alleinerziehenden und den Homosexuellen erstmals die größte – und am
       stärksten wachsende – Minderheit im Mittelpunkt einer familienpolitischen
       Maßnahme: die Alleinstehenden, die von den Medien und im Alltag oft kokett
       „Singles“ genannt werden.
       
       Es geht etwa um Krankheitsfälle. Angenommen Single A liegt auf der
       Intensivstation: Single B, eng mit A befreundet, würde die gleichen
       Auskunfts- und Vertretungsrechte erhalten, die ein Ehepartner hätte. Oder
       im Prozessfall: Stünde A vor Gericht, genösse B das
       Zeugnisverweigerungsrecht.
       
       Auffällig an den bislang noch vagen Plänen ist, dass es nicht um das
       Ausgeben von Steuergeldern geht, sondern ums Gegenteil: um Sparpotenziale:
       „Wenn Menschen […] sich im Falle von Krankheit pflegen oder finanziell
       füreinander einstehen, sollte der Staat diese selbstbestimmten
       Lebensentwürfe fördern, nicht verhindern, […] das entlastet auch den Staat,
       insbesondere bei den sozialen Sicherungssystemen.“
       
       Einkaufen für die verwitwete Nachbarin, Suppe kochen für die depressive
       Freundin, das Kind des alleinerziehenden Kumpels beaufsichtigen, dem
       abgebrannten Single-Kollegen die Wohnzimmercouch anbieten: Das ist
       angewandte Solidarität, und Alleinstehende sind darin Profis, sind gewöhnt,
       sich gegenseitig zu helfen – weil sie bislang von öffentlicher Seite kaum
       Unterstützung erfahren. Vieles haben Hetero-Singles dabei von queeren
       Menschen gelernt, die ebenfalls Outsider der Mehrheitsgesellschaft sind,
       dabei aber weitaus mehr Stigmatisierung erfahren: „Für uns, deren Leben von
       der Norm abweicht, ist Solidarität eine Notwendigkeit, keine Option“, sagt
       etwa [4][die deutsch-französische trans Künstlerin Astrée Duval].
       
       Gut 18 Millionen Deutsche schlagen sich ohne feste Partnerschaft durchs
       Leben, grob gerechnet jede:r vierte Erwachsene. [5][Das Statistische
       Bundesamt] spricht von „Alleinstehenden“, wenn es um Personen geht, „die
       ohne Ehe- oder Lebenspartner/-in und ohne ledige Kinder“ leben, gleich ob
       ledig, geschieden, verwitwet oder noch verheiratet, aber getrennt lebend.
       Alleinerziehende mögen sich als „Singles“ fühlen, sind in den
       Staatstatistiken aber als „Lebensgemeinschaften mit Kindern“ geführt.
       
       Fakt ist: Die Zahl der Einpersonenhaushalte hat sich seit 1991 fast
       verdoppelt, nicht nur in Großstädten, sondern, in etwas flacherer Kurve,
       auch auf dem Land. 42 Prozent aller Privathaushalte bestehen aus nur einem
       Menschen, und nach Einschätzung des Bundesinstituts für Raumforschung wird
       dieser Anteil noch steigen. Wackelige Erwerbsbiografien, der
       kapitalistische Befehl, sich „flexibel“ zu halten, sind der
       Familiengründung nicht gerade zuträglich. Hinzu kommt, dass mehr und mehr
       Menschen das Modell der romantischen Paarbeziehung, „die bürgerliche Ehe“,
       grundsätzlich anzweifeln. Jede zweite bis dritte Ehe geht bekanntlich in
       die Brüche, im Schnitt dauert es bis zur Scheidung 15 Jahre.
       
       Manche Solist:innen haben sich ihre Einzelexistenz so ausgesucht, andere
       leben unfreiwillig allein. Nicht für alle ist das Solo-Dasein eine
       „Lifestyle-Entscheidung“, wie reaktionäre Kräfte es gern behaupten. Laut
       Statistischem Bundesamt setzen sich die 18 Millionen Alleinstehenden zu
       fast gleichen Teilen aus Menschen mit Hauptschulabschluss (29 Prozent),
       Mittlerer Reife (28 Prozent) und Abitur (35 Prozent) zusammen. 2021 lag das
       Nettoäquivalenzeinkommen für gut zwei Drittel von ihnen bei unter 2.100
       Euro im Monat. Ein Viertel ist von Armut bedroht, ergab 2016 eine kleine
       Anfrage der Linkspartei an die Merkel-Regierung.
       
       ## Alleine wohnen ist teuer
       
       Alleinstehende zahlen meistens drauf: Alleine wohnen ist teuer; auf Reisen
       zahlen Singles Einzelzimmerzuschläge, im Supermarkt Aufpreise für kleine
       Verpackungen und bei den Pflegebeiträgen happige Zuschläge. Mit ihren
       Steuern finanzieren sie die Kitaplätze und Elternzeiten der anderen mit –
       obwohl all die Familienvergünstigungen keineswegs zu mehr Nachwuchs führen,
       die Geburtenrate sinkt.
       
       Kaum öffentliche Anerkennung gibt es bisher für den sozialen „Mehrwert“,
       den Alleinstehende in die Gesellschaft einbringen. Schon die einstige
       CDU-Familienministerin Ursula Lehr stellte fest, dass Menschen, die „sehr
       familienzentriert“ sind, ein „geringeres Interesse für Angelegenheiten,
       die einen als ‚Bürger‘ interessieren“, zeigten. Heute macht [6][der
       Chicagoer Soziologe Eric Klinenberg] darauf aufmerksam, wie stark die
       Gesellschaft von Singles profitiere, denn diese verhielten sich, allen
       Vorurteilen zum Trotz, weniger „selbstsüchtig“ – nicht nur, indem sie
       tendenziell mehr Ehrenämter übernähmen, sondern auch, indem sie „das
       öffentliche Leben [lebendig halten], weil sie häufiger Zeit mit Freunden
       und Nachbarn verbringen als diejenigen, die mit anderen zusammenleben“.
       
       In den 1990er Jahren sagte das damalige Traumpaar der Soziologie, Elisabeth
       Beck-Gernsheim und Ulrich Beck, eine Zukunft voller frei „gewählter
       Vertrauenspartnerschaften“ voraus. Sie gingen davon aus, dass
       unverpartnerte Menschen im 21. Jahrhundert „neue, exemplarische, lebbare
       Lebensstile von stilbildender Vorbildlichkeit“ entwickeln würden. Exakt
       dies ist eingetreten im englischsprachigen Raum, wo statt von
       „relationships“ heute viel mehr von „kinships“ oder [7][„emotionships“] die
       Rede ist.
       
       [8][Nicht nur die Jungen experimentieren längst mit Alternativen der
       Zwischenmenschlichkeit.] „Es geht auch um unsere Zukunft als alternde
       Gesellschaft. Wir haben jetzt schon enorme Versorgungsprobleme, die ein
       romantischer Liebesdienst nicht lösen kann“, sagte die Soziologin Andrea
       Newerla kürzlich der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Das
       Horrorbild der einsamen, in Heime abgeschobenen Alten: Es entstand vor
       Jahrzehnten, während die Mehrheitsgesellschaft weiterhin ihre ordentlichen
       Kernfamilien gründete. Wo sind sie denn am Lebensende alle, die Verwandten,
       die Kinder, die Enkel? [9][Eine Studie der Uni Bamberg mit dem Titel
       „Älterwerden als Single“] zeigt: Wer zeitlebens nichtfamiliären „sozialen
       Kontakten einen zentralen Stellenwert“ beigemessen hat, ist aufs hohe Alter
       meist besser vorbereitet – und mitunter glücklicher.
       
       Der US-Soziologe William Ogburn prägte einst den Begriff der „kulturellen
       Phasenverschiebung“: Die Menschen sind wandelbar, sie erproben fortwährend
       neue Lebensformen – doch die Kultur, die Politik, der allgemeine
       Sprachgebrauch, sie hängen lange an alten Worten und gescheiterten Idealen.
       Das erste FDP-Papier zur Verantwortungsgemeinschaft hält am „besonderen
       Schutz der Ehe im Grundgesetz“ fest. Von der Abschaffung des
       Ehegattensplittings ist keine Rede. Und auch sonst fällt einer
       Alleinstehenden manches ein, was darin fehlt.
       
       Zum Beispiel eine Änderung im III. Sozialgesetzbuch, in dem es um
       Arbeitslosigkeit geht: Laut Paragraf 140 kann eine Person zum Umzug
       „außerhalb des zumutbaren Pendelbereichs“ aufgefordert werden, um eine
       Beschäftigung aufzunehmen – es sei denn, sie kann „familiäre Bindungen“ am
       bisherigen Wohnort aufweisen. Das bedeutet aber: Singles, die arbeitslos
       werden, laufen Gefahr, ihre sozialen und emotionalen Sicherheitsnetze
       aufgeben zu müssen.
       
       Wie weit die Liberalen mit ihren Plänen letztlich kommen, wird sich noch
       zeigen. Aber allein die Tatsache, dass dieses unübersichtliche Deutschland,
       nun endlich die Lebensrealität der Alleinstehenden wahrnimmt und darüber
       spricht, ist schon ein Fortschritt. So hat es einst schon einmal
       angefangen, Jahre bevor sich das Land an das Wort „Patchworkfamilie“
       gewöhnte und die „Ehe für alle“ kam.
       
       20 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Einsamkeit-als-Phaenomen/!5718587
   DIR [2] /Ampel-reformiert-Familienrecht/!5949567
   DIR [3] /programm/2023/tazlab2023/de/speakers/1886.html
   DIR [4] http://www.astr.ee/
   DIR [5] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Haushalte-%20Familien/Tabellen/4-1-alleinstehende.html
   DIR [6] https://www.ericklinenberg.com/
   DIR [7] https://labs.psych.ucsb.edu/gable/shelly/sites/labs.psych.ucsb.edu.gable.shelly/files/mem%20bers/files/cheung_gardner_anderson_2015.pdf
   DIR [8] /Seniorenwohnen/!5929280
   DIR [9] https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/19481/ssoar-2004-vaskovics_et_al-alterwerden_als_single.pdf;jsessionid=4827CB496F0199AD3F41915EFFA753BD?sequence=1
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katja Kullmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Familie
   DIR Familienrecht
   DIR Ampel-Koalition
   DIR Singles
   DIR Marco Buschmann
   DIR Zusammenleben
   DIR wochentaz
   DIR GNS
   DIR IG
   DIR Marco Buschmann
   DIR Familienrecht
   DIR Familie
   DIR Ehe und Familie
   DIR Schwerpunkt Armut
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Plan für Verantwortungsgemeinschaften: Noch ein wenig schwachbrüstig
       
       Bei den Vorstellungen von Justizminister Buschmann zur
       Verantwortungsgemeinschaft ist noch Spielraum nach oben. Unsäglich ist
       indes die Kritik der Union.
       
   DIR Justizminister reformiert Familienrecht: Gleichstellung für lesbische Mütter
       
       Marco Buschmann (FDP) will das Familien- und das Abstammungsrecht
       reformieren. Es soll der Vielfalt heutiger Familienformen Rechnung tragen.
       Die taz hat die Eckpunkte exklusiv.
       
   DIR Ampel reformiert Familienrecht: Mehr als Mama, Papa, Kind
       
       Justizminister Buschmann will das Zusammenleben ohne Liebesbeziehung
       rechtlich stärken. Auch für lesbische Mütter soll es endlich Verbesserungen
       geben.
       
   DIR Warum Ehe Frauen abhängig macht: Geld für Sex
       
       Die Ehe ist ein Instrument, das Frauen finanziell in Abhängigkeit halten
       soll. Unsere Autorin fordert deshalb das „Ende der Ehe“. Ein Auszug.
       
   DIR Abschaffung der Witwenrente: Charmant in die Altersarmut
       
       Für viele ist die Hinterbliebenenrente eine Aufstockung für den
       Lebensunterhalt. Eine Kürzung würde nur eins bedeuten: verschärfte
       Altersarmut.