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       # taz.de -- Maßregelvollzug Berlin: Untragbare Zustände
       
       > Die Zuweisungszahlen in das Krankenhaus des Maßregelvollzugs sind in
       > allen Bereichen stark gestiegen. Eine Erweiterung des Standorts wird
       > lange dauern.
       
   IMG Bild: Hinter diesem hohen Zaun beginnt der Maßregelvollzug
       
       Berlin taz | Schon seit Jahren schlagen Fachleute Alarm: Der
       Maßregelvollzug ist hoffnungslos überbelegt. In fast allen Bundesländern
       ist das so, allerdings hat Berlin in den vergangenen Jahren im Unterschied
       zu anderen überhaupt nicht in eine bauliche Erweiterung des Krankenhauses
       für Maßregelvollzug (KMV) investiert.
       
       Der Maßregelvollzug ist eine freiheitsentziehende Unterbringung für
       verurteilte Straftäter, die nicht oder nur vermindert schuldfähig sind. Das
       KMV hat in Berlin zwei Standorte. Auf dem Gelände der ehemaligen
       Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Reinickendorf gibt es 17 Stationen, im
       Krankenhaus Buch sind es drei. Stand Juli waren im KMV 613 Patienten
       untergebracht, es gibt aber nur 541 ordnungsbehördlich genehmigte Betten.
       
       10 Prozent der Untergebrachten sind Frauen. Es gibt zwei gemischte
       Stationen und eine reine Frauenstation. Letztere sei inzwischen aber ebenso
       überbelegt, da auch bei Frauen die Zuweisungszahlen steigen, teilte die für
       das KMV zuständige Senatsverwaltung für Gesundheit der taz mit.
       
       Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter hat in Erfahrung gebracht,
       dass die angespannte Belegungssituation bundesweit häufig zu einer
       Mehrfach- beziehungsweise Überbelegung der Patientenzimmer führt. Selbst
       bei ausreichender Zimmergröße sei eine Belegung mit drei und mehr psychisch
       oder suchtkranken Personen problematisch, heißt es im Jahresbericht der
       Nationalen Stelle, der im Juni 2023 vorgestellt wurde. Die mangelnde
       Privatsphäre könne Aggressionen auslösen und Zwischenfälle provozieren.
       
       ## Keine angemessene Versorgung
       
       Die Unterbringung sei zum Teil menschenunwürdig und die Arbeitsbedingungen
       für die Mitarbeiter untragbar, hatte der Präsident der Berliner Ärztekammer
       Peter Bobbert moniert, nachdem er das KMV im Januar besucht hatte. Das
       zentrale Problem sei der mangelnde Platz in den veralteten Gebäuden und zu
       wenig Personal. Die Patienten könnten so nicht angemessen versorgt werden,
       und das vor dem Hintergrund, dass sie im Durchschnitt acht Jahre im KMV
       verblieben. Die schwierige Situation habe dazu geführt, dass zahlreiche
       Ärzte und Pflegekräfte in den vergangenen Jahren gekündigt hätten.
       
       Die Überbelegung führt auch immer wieder dazu, dass Verurteilte die
       Maßregel nur mit Verspätung antreten können. Einige mussten wegen
       Platzmangels auch aus der Übergangshaft freigelassen werden.
       
       Die gerichtliche Einweisung in das KMV erfolgt auf Grundlage von drei
       Paragrafen: nach § 64 StGB, wenn eine Person wegen einer Drogen- oder
       Alkoholsucht straffällig geworden und therapiebereit ist. [1][Nach § 63
       StGB], wenn sie aufgrund einer psychischen Krankheit eine Gefahr für die
       Allgemeinheit darstellt. [2][Oder nach § 126a StPO, der eine Art
       Untersuchungshaft im KMV ermöglicht, wenn der Beschuldigte psychisch krank
       ist].
       
       Die Gründe für die Überbelegung sind komplex. Bundesweit haben vor allem
       Einweisungen nach § 64 stark zugenommen. Hintergrund: Verteidiger machen
       bei ihren Mandaten zunehmend eine Drogenabhängigkeit geltend,
       möglicherweise auch, weil man aus dem Maßregelvollzug eher freikommen kann
       als aus der Strafhaft. [3][Im Oktober tritt deshalb ein neues Gesetz in
       Kraft, in dem die Anordnungsvoraussetzungen für die Unterbringung in einer
       Entziehungungsanstalt enger gefasst sind]. Ein Anstieg an Zuweisungen zeigt
       sich aber auch nach § 63 StGB und § 126a StPO.
       
       Für die Sanierung des Hauses 8 auf dem Gelände in Reinickendorf stehen laut
       Gesundheitsverwaltung nun bis 2027 insgesamt 53,3 Millionen Euro zur
       Verfügung. Auch investive Mittel zur Ertüchtigung neuer Platzkapazitäten an
       einem weiteren Standort seien „noch“ für 2023 zugesagt, heißt es.
       
       21 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Plutonia Plarre
       
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