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       # taz.de -- Lackierte Fingernägel bei Männern: Desillusionierte Symbolpolitik
       
       > Manche sehen lackierte Nägel als feministische Praxis. Tragen kann sie
       > jede*r, doch ein Kampf gegen das Patriarchat ist das nicht.
       
   IMG Bild: Heterosexuelle cis Männer, die sich die Fingernägel lackieren – das Phänomen ist alt bekannt
       
       Es war eine turbulente Woche für die Critical-Masculinity-Bubble auf
       Instagram. Erst gab das Literaturhaus Rostock aus Solidarität mit einer
       Betroffenen sexualisierter Gewalt die Absage der Lesung von Valentin Moritz
       und Donat Blum, [1][den beiden Herausgebern des Sammelbands „Oh Boy!“],
       bekannt. Moritz hat in seinem Text gegen den Willen der Betroffenen über
       seine Täterschaft geschrieben, von Blum gab es volle Rückendeckung für
       seinen Kollegen, inklusive sämtlicher Cancel-Culture-Schlagworte. Da
       kristallisierte sich mal wieder heraus, dass die Mehrheit der cis Typen –
       egal ob hetero- oder homosexuell – nur so lange profeministisch agieren,
       wie sie sich damit profilieren und Lob einsacken können.
       
       Die Shitshow wurde am Wochenende mit einem mittlerweile gelöschten Video
       des Influencers Sebastian Tigges abgerundet. Der Blogger, der sich
       hauptberuflich als reflektierter Vater und Partner inszeniert, etwa als
       „The Walking Dad“ mit GoPro-Kamera am Kinderwagen, sprach in einem Video
       mit seiner Partnerin Marie Nasemann über das Lackieren seiner Fingernägel
       als feministische Praxis. Diesen Gender-Hack habe er sich natürlich nicht
       selbst ausgedacht, sondern sich beim [2][Schauspieler Lars Eidinger]
       abgeguckt. Was wie ein Satirevideo anmutet, fasst den Diskurs um kritische
       Männlichkeit im Kern zusammen: Es ist in erster Linie eine oberflächliche
       Selbstbeweihräucherung.
       
       Heterosexuelle cis Männer, die sich die Fingernägel lackieren – das
       Phänomen ist älter als Eidinger und Tigges. Wer sich je in Subkulturen wie
       Punk, Emo oder manchen linken Räumen aufgehalten hat, hat bereits
       Bekanntschaft mit lackierten Nägeln oder Make-up an Typen gemacht. Weniger
       mackerig in ihrem Verhalten hat sie diese vermeintliche Provokation nicht
       sonderlich gemacht.
       
       ## Der Sexist mit Nagellack
       
       Im Gegenteil, manche cis Männer betrachten ihre Maniküre als woke Plakette,
       ein feministisches Siegel, für das sie lediglich ein paar Minuten die
       Finger stillhalten mussten. Der Sexist mit Nagellack ist regelrecht zum
       Meme geworden.
       
       Nun machen Trends wie „Menicure“ – Männermaniküre – auch im Mainstream ihre
       Runden. Wie in den Nullerjahren schon der Begriff „metrosexuell“ es tat,
       ist es maximal cringe, dass Männer für grundlegende Körperpflege ein
       eigenes Wort brauchen, um sich nicht irgendwie schwul vorzukommen.
       
       Gleichzeitig kann man davon ausgehen, dass ein solches Auftreten auf dem
       Land subversiver sein kann als in der Großstadt, wo gegenderte
       Kleidungsstücke wie Kleider und Röcke, aber eben auch Kosmetikpraxen von
       allen Geschlechtern getragen werden. So liegt es nicht fern, dass
       irgendeine homofeindliche Knalltüte cis hetero Männer mit Nagellack
       abwertend kommentiert oder gar angreift.
       
       Eine trans Freundin von mir erzählte mir mal, dass das [3][Tragen von
       Nagellack] ihr erster Schritt aus der cis Männlichkeit gewesen ist – um die
       Gewässer auszutesten. Ich halte es deshalb nicht für sinnvoll, fremde
       Menschen als „Männer mit Nagellack“ zu labeln und sich über sie lustig zu
       machen, weil man hinter der Person einen Möchtegernfeministen vermutet.
       Männer, egal ob cis oder trans, mit Nagellack, was soll man schon groß
       dagegen einwenden? Die Leute sollen tragen, worauf sie Bock haben – wenn
       vermeintliche queere Ästhetiken sich so in die allgemeinen Sehgewohnheiten
       einschleichen und queere Personen seltener zur Zielscheibe von Gewalt
       werden, wäre das ein willkommener Nebeneffekt.
       
       Unangenehm wird es eher, wenn Typen sich durch ein bisschen Nagellack
       einbilden, irgendetwas gegen das Patriarchat unternommen zu haben. Diese
       Art von desillusionierter Symbolpolitik gibt es zur Genüge – das reiht sich
       aber perfekt in den Diskurs um kritische Männlichkeit ein, in der es
       offensichtlich wichtiger ist, als korrekter Typ wahrgenommen zu werden, als
       sich Frauen gegenüber korrekt zu verhalten.
       
       21 Aug 2023
       
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