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       # taz.de -- Wahlkampf in den Niederlanden: Rot-grüner Messias sucht Mehrheit
       
       > Ex-EU-Kommissar Frans Timmermans kehrt als Retter der Linken in die
       > Niederlande zurück. Sozialdemokrat*innen und Grüne sind
       > euphorisch.
       
   IMG Bild: Noch etwas Puder: Frans Timmermans kurz vor seinem Auftritt am Dienstagabend in Den Haag
       
       Den Haag taz | Eine Spur Neues Testament liegt in der Luft, als Frans
       Timmermans am Dienstagabend erstmals als Spitzenkandidat in Erscheinung
       tritt. Der Erlöser erscheint am Rande Den Haags auf einem ein wenig
       trostlosen Industriegelände, um den lange vom Elektorat verschmähten
       Linksparteien bessere Zeiten zu verkünden.
       
       Der Ort wirkt sorgfältig ausgewählt: eine proletarische Vergangenheit als
       Zigarettenfabrik, die Gegenwart ist kreativ, innovativ, progressiv,
       unterschiedliche Betriebe kommen hier zusammen. Passend zum
       Schulterschluss, den rote und grüne Fahnen am Eingang verkünden.
       
       Einige Stunden zuvor haben die Mitglieder von Timmermans’ Partij van de
       Arbeid (PvdA) und GroenLinks, die bei den Neuwahlen im November erstmals
       eine gemeinsame Liste bilden, ihn mit knapp 92 Prozent bestätigt – ein mehr
       als deutliches Ergebnis, auch wenn der frisch abgetretene Vizepräsident
       der EU-Kommission der einzige Kandidat war.
       
       Der Saal ist zum Bersten gefüllt, die Vorfreude groß. Schon seit [1][der
       62-Jährige im Juli verkündete, nach Den Haag zurückzukehren], um Premier zu
       werden, ist die Euphorie an der Basis beider Parteien spürbar. Sie entlädt
       sich in standing ovations, sobald er zu sprechen beginnt.
       
       ## Ziel ist ein linker Premier
       
       „Macht ist kein schmutziges Wort“, unterstreicht Timmermans seine
       Ambitionen gleich zu Beginn. Natürlich kommt jemand wie er nicht mit dem
       Ziel, Fraktionschef einer schrumpfenden Oppositionspartei zu werden. Genau
       das aber sind PvdA und GroenLinks in den letzten Jahren.
       
       Insofern wirkt dieses Ziel – ein linker Premier in Den Haag – vermessen.
       Arithmetisch, aber auch inhaltlich, denn welche Krisen das Land in diesem
       Jahrhundert auch erschütterten, eines zeichnete die niederländischen
       Wähler*innen aus: ein stetiger Hang nach rechts.
       
       Inzwischen hat die neue Verbindung, von ihrem Spitzenkandidaten durchweg
       „Vereinigte Linke“ genannt, in den Umfragen zugelegt und könnte nach
       aktuellem Stand tatsächlich die meisten Stimmen bekommen. Der bevorstehende
       [2][Abgang des skandalumwitterten Premiers Mark Rutte] und mehrerer
       anderer bekannter Abgeordneter bringt einiges an Dynamik.
       
       ## Ein Neuanfang
       
       Auch Protestparteien wie die BoerBurgerBeweging (BBB) oder die gerade erst
       gegründete Nieuw Sociaal Contract des sehr beliebten abtrünnigen
       Christdemokraten Pieter Omtzigt könnten die Wahlen am 22. November
       gewinnen.
       
       Timmermans nutzt die von einer Moderatorin gestellten Fragen, die
       Mitglieder vorher schickten, um sich innerhalb dieses Spektrums zu
       positionieren. Wie?
       
       Mitte-links ist insofern eine zutreffende Bezeichnung, als dass „Mitte“ im
       niederländischen Kontext derzeit einen Neuanfang bedeutet: weg von der
       empathielosen, bürger*innenfernen Politik der letzten Jahre, von der
       sich ein wachsender Teil der Menschen nicht mehr vertreten fühlt. „Das
       Vertrauen wiederherstellen, ineinander und in den Staat“, nennt Timmermans
       das. Ein Ziel, das die BBB oder Pieter Omtzigt ganz ähnlich formulieren.
       
       ## Nur wenn die Klimapolitik gerecht ist
       
       „Links“ wiederum ist die starke Betonung, dass der Staat gerade in diesen
       Zeiten aktiv eingreifen müsse, um die Existenz seiner Bürger*innen zu
       sichern, vor allem beim Thema Wohnen. „Umverteilung auf der Grundlage von
       Solidarität“ nennt der Spitzenkandidat das.
       
       Sein besonderes Augenmerk gilt dabei der Klimapolitik, die auch in den
       Niederlanden von populistischer Seite als unsozial angegriffen wird.
       Timmermans hat eine deutliche Botschaft: „Lasst euch von niemand erzählen,
       dass beide Themen nicht zusammengehören. Klimapolitik geht nur, wenn sie
       gerecht ist!“
       
       Timmermans, ein Roter mit grüner Reputation, verkörpert diesen Ansatz und
       war auch deshalb als Spitzenkandidat konkurrenzlos. An der Basis genießt
       der Rückkehrer aus Brüssel großes Vertrauen. Gerard van Oosterhout, 86 und
       PvdA-Mitglied seit 68 Jahren, der den Abend für seinen Youtube-Kanal
       gefilmt hat, ist am Ende „hoffnungsvoll“. Die 25-jährige Sam Schwancke,
       GroenLinks-Mitglied, denkt, dass Timmermans „in der neuen Regierung für die
       Dringlichkeit von Klimaschutz einsteht und dafür sorgt, dass dieser nicht
       immer verwässert wird.“
       
       24 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /EU-Kommissionsvize-Timmermans-verlaesst-Bruessel/!5948832
   DIR [2] /Regierungskrise-in-den-Niederlanden/!5943352
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Müller
       
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