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       # taz.de -- Tarek Al-Wazir im Hessen-Wahlkampf: Kaum Chancen für grüne Turnschuhe
       
       > Der Grüne Tarek Al-Wazir will Hessens Ministerpräsident werden. Er kämpft
       > mit prominenter Konkurrenz und schlechten Umfragewerten.
       
   IMG Bild: Kommt nicht so richtig in Fahrt: Der Wahlkampf von Tarek Al-Wazir in Hessen
       
       Wiesbaden taz | In Wiesbaden hat Tarek Al-Wazir am Vormittag die Motive der
       Grünen-Wahlkampagne enthüllt. „Ihre Wahl. Ihr Ministerpräsident“, steht da
       in großen Lettern. Auf den Fotos strahlt der grüne Spitzenkandidat
       Zuversicht aus im Gespräch mit Kindern und Landeskindern, vor Windrädern
       und grünen Landschaften. Seit fast zehn Jahren regieren die Grünen Hessen
       als Juniorpartner der CDU mit. Diesmal will Al-Wazir, noch Wirtschafts- und
       Verkehrsminister, Ministerpräsident werden und seinen [1][Koalitionspartner
       Boris Rhein (CDU)] ablösen. „Weil ich Hessen noch stärker machen will. Ich
       habe einen Plan für das Land“, sagt er bei der Präsentation der Plakate.
       
       Als die hessischen Grünen im Februar mit der Wahl eines
       „Ministerpräsidentenkandidaten“ erstmals Kurs auf die Staatskanzlei nahmen,
       hatten sie weder den quälenden Dauerstreit der Berliner Ampel noch die
       Querelen um das völlig verunglückte Heizungsgesetz auf dem Schirm. Jetzt,
       acht Wochen vor dem Wahltermin in Bayern und Hessen, bläst ihnen der Wind
       ins Gesicht. In den Umfragen liegen sie in Hessen nur noch auf Platz drei,
       weit hinter der CDU des Ministerpräsidenten und auch hinter der SPD, die
       mit ihrer [2][Spitzenkandidatin Nancy Faeser] die Medienpräsenz der
       Bundesinnenministerin ausspielt.
       
       „Wahlen werden wirklich am Wahltag entschieden“, antwortet Al-Wazir auf
       skeptische Fragen zu seinem Wahlziel. Er ist in den hessischen Schulferien
       an jedem Tag im Land unterwegs. Dabei muss er große Entfernungen
       überbrücken. Die Regierungsaufgaben erledigt der Minister unterwegs im
       vollelektrischen Dienstwagen.
       
       Dort wo die Lahn am schönsten ist, an der Schleife bei Flusskilometer 39,6,
       trifft Al-Wazir am Mittag die „Lahntaucher“. Unter dem Weilburger Felsen,
       auf dem die Nassauer Regenten ihre prächtigen Schlossanlagen errichtet
       hatten, fischen an diesem Tag junge UmweltschützerInnen im Trüben. Die
       Teams operieren in Tauchermontur von Tretbooten aus, auf denen sonst
       Touristen dümpeln. In einem der Boote nimmt Al-Wazir Platz. In
       Bügelfaltenhose strampelt er mit seinen Hochglanzlederschuhen mit.
       
       ## Wahlkampf in der Strandbar
       
       Apnoetauchen nennt man die Technik, bei der TaucherInnen rund 30 Sekunden
       die Luft anhalten. Der oder die TeampartnerIn sichert den Tauchgang. Der
       Gast staunt nicht schlecht, was dabei alles an die Oberfläche kommt. An
       diesem Tag sind es zwei Verkehrsschilder, ein abgefackelter Einkaufswagen,
       eine Spitzhacke und jede Menge Schrott. Al-Wazir bringt persönlich den
       großen Kanister an Land, den sie im Uferbereich bergen konnten. „Lack,
       Sondermüll“, sagt der Minister und wundert sich über die Gedankenlosigkeit
       der Zeitgenossen.
       
       In den drei Jahren ihres Bestehens haben die Lahntaucher 10,4 Tonnen Müll
       aus dem Fluss geholt, darunter auch Objekte, für deren Bergung sie
       professionelle Hilfe von Feuerwehr und Müllabfuhr anfordern mussten. „Ich
       muss sagen, das hat mich schwer beeindruckt. Respekt!“, sagt Al-Wazir
       später und preist die vielen ehrenamtlichen Initiativen, ohne die
       Gesellschaft nicht funktionieren würde.
       
       In die stylishe Strandbar am Lahnufer hat die grüne Wahlkreiskandidatin
       Anke Föh-Harshman neben den TaucherInnen politische MitstreiterInnen aus
       Stadt und Land und Ehrenamtler aus anderen Initiativen eingeladen.
       
       Unter einem Sonnenschirm beantwortet Al-Wazir ihre Fragen. Der Grüne
       beklagt die Sünden der Vergangenheit: Der Salzeintrag in die Werra geht
       unterirdisch weiter, weil aus den tiefen Schichten die Abfallbrühe aus
       hundert Jahren Kalibergbau aufsteigt. „Einen guten Zustand werden wir auch
       nicht in Jahrzehnten erreichen“, räumt er ein.
       
       ## Rechte Hetze gegen die Grünen
       
       Doch dann listet er die Fortschritte auf. Die Versenkung von Salzabfällen
       an der Werra sei beendet, die Flüsse des Landes insgesamt in einem guten
       Zustand, sagt er. Mit dem Programm „100 wilde Bäche“ habe die grüne
       hessische Umweltministerin Priska Hinz landesweit die Renaturierung kleiner
       Gewässer angestoßen.
       
       Mit der EU-Wasserrichtlinie gebe es inzwischen sogar ein gesetzliches
       „Verschlechterungsverbot und Verbesserungsgebot“. Dass in dieser Richtlinie
       zwar Einträge von Landwirtschaft, Industrie und Haushalten geregelt werden,
       nicht aber das Müllproblem, ist auch ihm neu.
       
       Dass Menschen sogar Herde und Waschmaschinen in den Fluss werfen, macht den
       Minister etwas ratlos: „Das ist doch komplizierter, als Sperrmüll
       anzumelden“, sagt er und versichert: „Das Thema nehme ich mit.“ Die
       Unterwasserumweltschützer wünschen ihm für den 8. Oktober alles Gute, die
       Strandbar-Gäste sind ihm wohlgesinnt.
       
       Das ist nicht überall so. Der Grünen-Landesvorsitzende Sebastian Schaub,
       Direktkandidat im Nachbarwahlkreis Limburg, beklagt massive Anfeindungen.
       „Sehr heftig“ gehe es dort am Infostand auf dem Wochenmarkt zu. „Die Grünen
       sind an allem schuld, was schiefläuft“, sei einer der Sätze, die da fallen.
       Eine rechtsextreme Splittergruppe aus der Region habe sogar die Parole
       ausgegeben: „Hängt die Grünen an den Bäumen auf, solange es noch Bäume
       gibt“, berichtet Schaub.
       
       ## Wann wird man zum Frosch?
       
       Ist es in dieser Situation klug, einen Grünen als
       Ministerpräsidentenkandidaten auszurufen? „Ich bin skeptisch, dass das
       gelingen kann“, sagt nachdenklich Heinz-Jürgen Deuster,
       Fraktionsvorsitzender der Grünen im Weilburger Stadtparlament. Sein
       Tischnachbar widerspricht. „Das ist eine buchhalterische Frage, ohne
       Vision“, tadelt er die taz und fügt an: „Die FDP hatte schon
       Kanzlerkandidaten mit weniger Prozent.“ In der Auftragsverwaltung des
       Bundes musste der grüne Minister die Rodung des [3][Dannenröder Forstes]
       und des Fechenheimer Walds in Frankfurt mit Polizeieinsätzen absichern.
       
       Dabei gehört der Widerstand gegen die Autobahnprojekte zum Gründungsmythos
       der hessischen Grünen. Genau wie der Widerstand gegen den Ausbau des
       Frankfurter Flughafens. In der Amtszeit des grünen Ministers wurde die
       dritte Landebahn in Betrieb genommen, ein drittes Terminal gebaut und
       Billigflieger mit Rabatten angelockt. Immerhin sorgte der grüne
       Verkehrsminister für die strikte Einhaltung des Nachtflugverbots.
       
       „Man muss manche Frösche schlucken; die Frage ist, wann man selbst zum
       Frosch wird“, sagt der grüne Weilburger Fraktionschef lachend. Die
       konstruktive Regierungsbeteiligung auf Landesebene, mit der viel erreicht
       worden sei, verteidigt er ausdrücklich.
       
       ## Austausch mit der Windkraft-Wirtschaft
       
       Am Dienstagabend hat Al-Wazir auf einer Veranstaltung in
       Ginsheim-Gustavsburg für seine Sache geworben. Am Mittwoch drauf ist er im
       Odenwald unterwegs. In Heppenheim an der Bergstraße besucht er den
       Wochenmarkt. Es sind nur fünf Verkaufsstände, „aber die kommen regelmäßig
       und ziehen Leute in die Fußgängerzone“, sagt der erste Kreisbeigeordnete
       Matthias Schimpf, der seinen Parteifreund Al-Wazir durch das idyllische
       Fachwerkstädtchen mit Burg und Schloss begleitet.
       
       Am ehemaligen Kaufhaus Mainzer macht die Besuchergruppe Station. Die Nazis
       hatten das Jugendstilgebäude der berühmten Architektenbrüder Metzendorf den
       jüdischen Eigentümern abgepresst. Nach der Geschäftsaufgabe des letzten
       Besitzers stand es 15 Jahre lang leer, verfiel hinter Bauzäunen, bis Stadt
       und Land mit Mitteln aus der Städtebauförderung die alte Schönheit
       wiederherstellen konnten.
       
       In das Gebäude mit der großzügigen Eingangshalle sind die städtische
       Musikschule, eine Bibliothek und das Touristenbüro eingezogen. Der Minister
       begrüßt die städtischen MitarbeiterInnen und schüttelt Hände, man kennt
       sich. Al-Wazir besucht das Haus jedes Mal, wenn er in Heppenheim ist. „Wenn
       etwas sichtbar wird, wenn man etwas vorangebracht hat, dann motiviert mich
       das“, sagt er der taz.
       
       In der Halle trifft er zufällig den Heppenheimer Unternehmer Franz Mitsch.
       Der hat sein E-Bike von der Inspektion abgeholt und durch seine Frau vom
       Ministerbesuch erfahren. Al-Wazir stellt den Firmengründer und Erfinder als
       „hidden champion“ vor. „In Windrädern auf der ganzen Welt sind
       Schwingungsdämpfer aus Heppenheim eingebaut“, sagt Al-Wazir. Sie sorgen für
       einen Ausgleich der gewaltigen Kräfte, die die drehenden Rotorblätter auf
       die Masten ausüben.
       
       Der Windkraftpionier klagt über den schleppenden Ausbau der Windkraft, auch
       in Hessen. „Wir brauchen hier Anlagen, in denen wir unsere Innovationen
       testen können“, sagt er und fügt hinzu: „Nur mit Innovationen können wir
       der Offensive chinesischer Mitbewerber begegnen, die mit Kopien unserer
       Produkte den Markt überschwemmen. Nur wenn wir besser sind, können wir
       bestehen“, so der Unternehmer, der mehr als 150 Mitarbeitende beschäftigt.
       
       ## „Der Wind hat sich gedreht“
       
       „Auch mir geht es zu langsam“, bekennt der Landesminister, der die
       Energiewende umsetzen muss. Gleichzeitig versichert er dem Unternehmer:
       „Der Wind hat sich gedreht.“ Mit der Energiekrise infolge des russischen
       Angriffs auf die Ukraine sei die Akzeptanz für Windkraft enorm gewachsen;
       in den 18 Monaten der Ampelregierung seien mehr gesetzliche Veränderungen
       auf den Weg gebracht worden, die den Ausbau beschleunigten, als in den 18
       Jahren zuvor, lobt Al-Wazir seinen Berliner Amtskollegen Robert Habeck.
       
       Später räumt er im Gespräch mit der taz ein, dass ihm dessen verunglücktes
       Heizungsgesetz im Wahlkampf zu schaffen macht. „Wir als Grüne sind manchmal
       von der Sache getrieben und wollen alles regeln“, sagt er selbstkritisch.
       Doch verantwortlich für das Desaster macht er die FDP, die einen
       Referentenentwurf durchgestochen und so der Springer-Presse die Vorlage für
       eine unfaire Kampagne geliefert habe.
       
       Auch zur Blockade des Wachstumschancengesetzes durch seine Parteifreundin,
       Bundesfamilienministerin Lisa Paus, geht Al-Wazir auf Distanz. „Das
       bestätigt alle Vorurteile und ist nicht der Stil der hessischen Grünen“,
       sagt er. CDU und FDP sticheln unterdessen im Wahlkampf. Die FDP plakatiert
       „Feuer und Flamme für Hessen“, die CDU textet: „Auto verbieten verboten!“
       Darauf angesprochen, zuckt der Grüne mit den Schultern: „Wenn sie glauben,
       dass ihnen das nutzt?!“
       
       Für die Koalitionsfrage spielt das offenbar keine Rolle. „Alle
       demokratischen Parteien müssen untereinander gesprächsbereit und
       bündnisfähig sein“, ist Al-Wazirs Credo. Es folgt der allgemeine Hinweis,
       dass Zweier- offenbar besser funktionieren als Dreierbündnisse. Sollte nach
       der Wahl ein Bündnis, jenseits von CDU und AfD, mit SPD und FDP rechnerisch
       möglich sein, werden die Grünen auch diese Möglichkeit ausloten müssen.
       
       Im Februar gab ihm seine Partei grüne Sneaker mit auf den Weg. Er, der
       stets auf Ledersohlen unterwegs ist, musste versprechen, den Amtseid als
       Ministerpräsident in Turnschuhen abzulegen wie dereinst Joschka Fischer als
       erster grüner Landesminister. Dass Al-Wazir die Sneaker für die
       konstituierende Sitzung des Landtags tatsächlich auspacken muss, gilt indes
       als eher unwahrscheinlich.
       
       24 Aug 2023
       
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