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       # taz.de -- Ausstellung über die Kunst des Blödsinns: Schön albern
       
       > Die Hamburger Deichtorhallen zeigen eine Ausstellung über ernsthaft
       > inszenierte Albernheiten in der Kunst. Dabei verwässert der historische
       > Bezug.
       
   IMG Bild: Alles Kopfsache: Arbeit von Andreas Schulze, Untitled, 2012
       
       Clownsgesicht oder Karnevalsmaske: Absonderliche Nasen gelten als witzig.
       Und überlange Arme, metergroße Pantoffeln, Riesen und Zwerge öffnen mit
       ihren verkehrten Größenverhältnissen eine sowohl verwunschene wie
       verstörende Welt.
       
       So beginnt diese großangelegte Ausstellung zur ernsthaft inszenierten
       Albernheit in der Harburger Sammlung Falckenberg der Deichtorhallen mit
       Referenzen auf den Lunapark und die Kirmes – samt raumfüllendem
       Spiegel-Irrgarten mit einer lebensgroßen Giraffe. Gibt es eigentlich
       komische Tiere?
       
       In sechs Kapiteln wird ein weites Terrain durchforscht und im Ergebnis dem
       Publikum vieles geboten. Christina Ricupero und Jörg Heiser als
       Kuratierende bemühen sich, aus gänzlich unterschiedlichen Intentionen und
       Kontexten stammende Kunst in über 100 Positionen aus der ganzen Welt von
       Kino bis Karikatur samt kunsthistorischen Zitaten zusammenzufassen. Dafür
       haben sie den Begriff der „enthusiastischen Peinlichkeit“ neu erfunden.
       
       Das meint nicht Artefakte, die den BetrachterInnen peinlich sind, da sie in
       Form und Inhalt die normativen Grenzen gerne auch mit sexuellen
       Anspielungen überschreiten. Es soll eher auf die begeisterte Konsequenz
       verweisen, mit der in der Kunst und anderswo etwas verfolgt wird, auch wenn
       es unangenehm wird oder gar völlig aus dem Ruder läuft: Das geht bis zur
       allerdings etwas trivialen Konsequenz, an einer der großen Treppen des
       Hauses einen Film zu zeigen, in dem jemand die Treppe herunterfällt –
       Neo-Slapstick sozusagen.
       
       Das Kuratorenpaar sagt, es sei von US-amerikanischen B-Movies inspiriert.
       So ist den abenteuerlichen Billigprodukten der späten 50er bis frühen 70er
       Jahre ein eigenes Kapitel gewidmet.
       
       Aber das zeigt auch das Problem: Edward J. Woods „Plan 9 from Outer Space“
       gilt zwar mit seinen Außerirdischen und Vampiren auf dem Friedhof mit
       wackeligen Pappgrabsteinen allgemein als der schlechteste Film aller
       Zeiten. Im Kunstkontext ironisch gebrochen ist er jedoch geradezu genial:
       Das Objekt ist also nichts ohne seinen Kontext.
       
       Während im Katalog tiefschürfend philosophiert wird, tut die weitgehend auf
       erläuternde Bildlegenden verzichtende Ausstellung leider so, als ob alle in
       den letzten 100 Jahren entwickelten Unterscheidungen und Referenzsysteme
       plötzlich obsolet wären: Manierismus und verkehrte Welt, Schutz-Amulett
       oder politische Provokation, Spott, Karikatur oder Ironie, Surrealismus und
       Pittura Metaphysica, das real Stupide und gespielt Idiotische oder das als
       „entartet“ Diffamierte, die Institutionskritik oder die Affirmation des
       Kitsches im „Camp“, alles ordnet sich dem Begriff unter.
       
       Die hinter einer roten Absperrkordel auf grünem Grund gezeigten Bilder von
       De Chirico, Magritte, Kippenberger und Schwontkowski, samt Inszenierung
       traditioneller Porträts eines schielenden Paares und der kitschig beidäugig
       ergänzten Nofretete von Hans-Peter Feldmann und dem irrwitzig
       physiognomisch übertriebenen Kopf des „Erzbösewichts“ von Franz Xaver
       Messerschmidt von 1783 bilden zwar eine nette Inszenierung. Die zwingt aber
       doch sehr unterschiedliche Konzeptionen zusammen.
       
       Noch seltsamer wird der historische Bezug in der Abteilung zu den
       1920er-Jahren. Getreu dem dadaistischen Motto „Dada war da, bevor Dada da
       war“ werden in Kopie eine die Zunge heraussteckende barocke
       Fassadengroteske oder gar eine auf 1642 datierende Narrendarstellung von
       Pieter Bruegel kommentarlos herbeizitiert. Der 20-minütige, großartig
       anarchistische Film „Entr’acte“ von René Clair und Francis Picabia von 1924
       wird aber nur in einem absurden dreiminütigen Zusammenschnitt gezeigt und
       die politischen Implikationen von [1][Dada] bleiben unerwähnt.
       
       Den tiefsten Ernst des Unsinnigen erreicht vermutlich [2][Sigmar Polke] mit
       seinem „Apparat mit dem eine Kartoffel eine andere umkreisen kann“: Damit
       gelang ihm 1969 eine dringende künstlerische Innovation, auf die die Welt
       sehr lange hatte warten müssen. Die gleichzeitige [3][Mondlandung] wurde
       durch sie weit in den Schatten gestellt.
       
       Auch sie fügt sich also ins kuratorische Konzept der „enthusiastischen
       Peinlichkeit“: Trotz so viel präsentierter Aufmüpfigkeit, Ironie und
       Groteske scheint es aber weder allzu gewitzt noch witzig genug. Doch wie
       sagt der Therapeut zum Klienten: Schön, dass wir darüber gesprochen haben.
       „The Problem with the Humans“ bleibt wieder einmal ungelöst – in Jeremy
       Dellers Vision liest ein Buch mit diesem Titel ein gelehrter Oktopus.
       
       3 Aug 2023
       
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