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       # taz.de -- Ex-Grüne über ihren Wechsel zur SPD: „Diversität wird nur behauptet“
       
       > Begüm Langefeld ist von den Grünen zur SPD gewechselt. Ihr
       > Kreistagsmandat hat sie mitgenommen. Ihre Enttäuschung auch.
       
   IMG Bild: Eine reine Akademiker*innenveranstaltung? Grünen-Parteitag 2022 in Hameln
       
       taz: Begüm Langefeld, Sie sind ja schon im Mai bei den Grünen ausgetreten
       und – mitsamt Kreistagsmandat – zur SPD gewechselt. Abgeschlossen haben Sie
       damit aber anscheinend noch nicht. Warum nicht? 
       
       Begüm Langefeld: Weil ich glaube, dass dieses Signal nicht richtig
       wahrgenommen wird. Ich bin ja nicht die Einzige, die ausgetreten ist. Es
       sind mit mir drei weitere Personen aus meinem Ortsverband ausgetreten und
       viele Freunde in anderen Städten. Ich bin durch mein Engagement bei Amnesty
       International in der kurdisch-alevitischen Community bundesweit gut
       vernetzt. Daher kann ich die Stimmung bei den migrantischen Mitgliedern gut
       einschätzen. Die Spitzenkandidatin der Grünen für Bremerhaven, Sülmez
       Çolak, ist ein weiteres prominentes Beispiel. Und ich bekomme ganz viele
       Rückmeldungen von enttäuschten Grünen und Ex-Grünen. Da gärt etwas, aber
       man will das nicht wahrnehmen.
       
       Gab es denn gar keine Gespräche über Ihren Austritt, keine Versuche, Sie zu
       halten? 
       
       Es gab kein persönliches Gespräch, nur einige Whatsapp-Nachrichten. Die
       Diskussion ist dann auch ganz schnell auf einer persönlichen Ebene beendet
       worden. Nach dem Motto: Die ist beleidigt, weil sie nicht in den
       Landesparteirat gewählt wurde und hatte sowieso vor, zur SPD zu gehen. Ich
       habe das eher als Nachtreten empfunden.
       
       Was war für Sie denn der ausschlaggebende Grund für den Austritt? 
       
       Da gab es viele. Eine Sache, die mich sehr stört, ist, dass Menschen mit
       Migrationsgeschichte unterrepräsentiert sind. Also vor allem, wenn man auf
       die zahlenmäßig größte, türkisch-kurdische Community schaut. 60 Jahre
       Zuwanderungsgeschichte, die einfach weder in Niedersachsen auf Landesebene
       noch auf Bundesebene entsprechend beachtet wird. Auch ältere, erfahrene
       Menschen trauen sich nicht mehr, für bestimmte Ämter zu kandidieren, da sie
       sowieso nicht gewählt werden. Das gilt auch für die wenigen Personen
       [1][ohne akademischen Hintergrund].
       
       Aber sind nicht die grünen Fraktionen noch am diversesten aufgestellt im
       Vergleich zu anderen? 
       
       Eben nicht, wenn man genau hinguckt. Bei den Grünen wird Diversität mehr
       behauptet als gelebt. Da werden einzelne Personen ins Schaufenster gestellt
       – je exotischer, desto besser. Aber wenn man genau hinsieht, stellt man
       fest man, dass es sich ganz oft um Menschen aus relativ privilegierten,
       bildungsbürgerlichen Elternhäusern handelt, die ein Hochschulstudium in
       Politik oder Sozialwissenschaften haben und auf eine Karriere bei den
       Grünen hingearbeitet haben. Aber so klassische Zuwanderer aus der zweiten,
       dritten Generation, die vielleicht auch nicht studiert haben, sondern eine
       Ausbildung gemacht haben? Fehlanzeige!
       
       Ist das nicht von jeher ein Problem der Grünen – eine eher großstädtische
       Akademikerpartei zu sein? 
       
       Aber da muss man doch gegen anarbeiten! Ich verstehe nicht, warum eine
       Parteiführung, die sich [2][Diversity verschreibt], nicht größere
       Anstrengungen unternimmt, auf diese Communitys zuzugehen. Im Gegenteil: Ich
       habe den Eindruck, der Kreis, aus dem sich der Nachwuchs rekrutiert, wird
       immer enger. Alles Akademiker, viele davon mit einem abgebrochenen Studium,
       die sich den Luxus leisten konnten, sich neben dem Studium schon in der
       [3][Grünen Jugend] zu engagieren und dann irgendwann Mitarbeiter von grünen
       Abgeordneten zu werden, mit dem Ziel einer politischen Karriere. Wer
       arbeiten muss, hat halt Pech gehabt. Ich hatte Frank Bsirske, also einem
       erfahrenen Gewerkschafter, ein Empowerment-Programm für Arbeiterkinder
       vorgeschlagen. Er ist nicht weiter drauf eingegangen.
       
       Das ist doch in der SPD oder bei anderen Parteien nicht anders. 
       
       Da kommt aber viel Nachwuchs immer noch über die Gewerkschaftsschiene. Und
       in der kurdischen Community hat auch die Linke traditionell ein gutes
       Standing. Grüne kommen da nicht vor. Und was das Großstädtische betrifft:
       Auch da klafft ja etwas auseinander.
       
       Sie meinen, die grüne Basis auf dem Land sieht anders aus als in der Stadt? 
       
       Natürlich. Da gibt es eben ganz viele, die aus der klassischen
       Umweltbewegung kommen und eher konservativ sind. Da schafft man oft – wie
       auch in meinem Kreisverband – nicht einmal eine paritätische Besetzung,
       weil der Frauenanteil so gering ist, während man anderswo fürs
       Gendersternchen kämpft.
       
       Und was folgt daraus? 
       
       Da werden Einwände und Bedenken dann eben auch gerne mal vom Tisch
       gewischt. Ich hatte zum Beispiel ein Problem damit, dass wir in einer
       Gaststätte tagen, die auch von der AfD als Stammlokal genutzt wird. Das war
       aber egal, die persönliche Verbindung zum Gastwirt war wichtiger. Für mich
       ist das ein Verrat an grünen Idealen, genauso wie dieser [4][faule
       Kompromiss bei Lützerath]. Aber das darf auch alles nicht mehr diskutiert
       werden. Hier ist doch die in Berlin beschworene [5][Brandmauer zur AfD]
       schon brüchig. Ich hatte sogar die politische Geschäftsführerin angemailt,
       ob wir in AfD-Stammlokalen tagen sollten, bekam aber als Antwort, dass man
       das nicht pauschal beantworten könne.
       
       Dabei gelten die Grünen doch als so basisdemokratisch und
       diskussionsfreudig? 
       
       Das dachte ich auch. Als ich eingetreten bin, war das auch noch so. Aber
       ich habe den Eindruck, diese Diskussionskultur ist auf dem Rückzug. Ich
       erinnere mich an einen Kongress der European Green Party in Kopenhagen, wo
       uns als Delegierten regelrecht ein Maulkorb verpasst worden ist – wir
       sollten uns nicht direkt äußern, alles sollte über den Mitarbeiter der
       international-europäischen Koordinatorin der Partei gehen. Da habe ich
       gedacht: Wo bin ich denn hier gelandet! Das ist doch nicht mehr meine
       Partei – und ich bin nicht die Einzige, die das so sieht. Die Partei ist
       ungesund gewachsen.
       
       Liegt das daran, dass die Regierungsverantwortung eine größere
       Wagenburg-Mentalität produziert? 
       
       Vielleicht. Ich finde jedenfalls, dass das der Partei nicht gut tut. Sie
       verliert die Bodenhaftung und sie verliert den Kontakt zur Basis. Aber
       Selbstkritik ist im Moment nicht angesagt. Da müssten doch so langsam alle
       Alarmglocken schrillen.
       
       23 Aug 2023
       
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