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       # taz.de -- Keramik im Mies van der Rohe Haus: Gefäße und ihr elementares Gegenteil
       
       > In den 1930er Jahren stand im Mies van der Rohe Haus eine große Bodenvase
       > von Otto Douglas-Hill. Sie ist die Inspiration für die aktuelle
       > Ausstellung.
       
   IMG Bild: Blick in das Mies van der Rohe Haus auf Spindelvasen von Young-Jae Lee
       
       Ein Haus ist kein Gefäß. Und dieses Haus am wenigsten. Unauffällig steht
       [1][Mies van der Rohes „Haus Lemke“ in Weißensee am Ufer des Obersees], der
       Ende des 19. Jahrhunderts aus den Fabrikabwässern einer Brauerei entstanden
       war. Wohl zeigt das Haus zur Straße rote Ziegel (Mies liebte die
       Lebendigkeit der Ziegel und ihrer Fugen). Nach innen aber öffnet es sich
       licht und leicht und weit durch große Glasfenster in feinen Metallrahmen
       auf einen zauberhaften Garten am Wasser, den eine große Linde überwölbt.
       Dieser verschwiegene Ort für nachmittägliche Ausflüge, an dem sich
       Architektur und Natur verbinden, ist immer wieder die Bühne von
       Kunstausstellungen. Derzeit ist dort eine zu sehen mit dem Titel:
       „Elementare Gefäße“.
       
       Sie sind nicht alle so elementar wie das Gefäß des Japaners Ichiro Hori.
       Dickwandig, schwer, von gelber, toniger, ins Rostige spielender Farbe, der
       Rand ausfransend. Wie zufällig abgehauen steht dieses Gefäß da, wie ein
       Objekt gewordenes Loch in dunkler, lehmiger Erde, eine verrostete
       Weltkriegs-Bombe, fast unheimlich. Der Künstler Hori lebt abseits der
       Städte im Wald, in der japanischen Region Mino, die bekannt ist für ihre
       alte Keramiktradition. Dort betreibt er einen anagama-Brennofen, das ist
       ein länglicher Tunnelofen, zur Hälfte in den Berg hineingetrieben. Zweimal
       im Jahr nur feuert ihn der Künstler, vier Tage lang mit Holz, bis eine
       Hitze um die 1.400 Grad entsteht. Über 1.250 Grad aber schmilzt sogar die
       Asche von Holz und wird – zu Glas. Als Glasur legt es sich um die Tongefäße
       im Ofen, anders je nachdem, wo sie stehen, in vielfarbigen gelblichen Tönen
       (ki-seto) bis zu tiefem Schwarz (seto-guro).
       
       Außer Ichiro Hori sind drei weitere japanische Meister in der Ausstellung
       zu sehen: Machiko Ogawa, Kenji Gomi, Shuroku Harada. Der Katalog im
       Booklet-Format – er ist selbst ein kleines Kunstwerk an überraschenden
       Bezügen! – stellt die Gefäße der vier Japaner neben die Abbildung einer
       Teezeremonie, also jenes endlosen Ein- und Aus- und Umgießens von heißem
       Wasser und Tee nach einem genau vorgeschriebenen Ritual. [2][Die hohe
       japanische Kunst der Keramik] erhält hier ihre höchste Weihe, die New
       Yorker Galerie Joan B. Mirviss widmete 2016 den modernen Keramikgefäßen der
       Teezeremonie eine ganze Ausstellung, Ichiro Hori und Harada Shuroku waren
       auch vertreten.
       
       ## Rituale des Teetrinkens
       
       In der kleinen Berliner Ausstellung sind es vor allem die schlichten
       blütenweißen, auf der Drehscheibe entwickelten Porzellangefäße der
       österreichischen Künstlerin Uli Aigner, mit ihren fein abgestuften Rändern,
       die an europäische Rituale des Teetrinkens erinnern und von den
       Besucher*innen sogar benutzt werden dürfen.
       
       Im Kontext der Berliner Ausstellung freilich ist die Verbindung von
       Tongefäß und Teezeremonie etwas Besonderes. Das liegt am Ort der
       Ausstellung, dem letzten Privathaus, das Mies van der Rohe in Europa baute,
       bevor er nach Amerika emigrierte, um dann nur noch ein einziges Mal nach
       Deutschland zurückzukehren – für die 1968 eröffnete, kürzlich [3][aus der
       Renovierung neu erstandene Neue Nationalgalerie]. Zwischen Mies’ Haus Lemke
       und den ausgestellten Gefäßen baut sich eine elementare Spannung auf. Lange
       mag man nach dem Besuch der Ausstellung über sie nachdenken.
       
       Ein Gefäß: Das hält, umschließt, es ist innen dunkel und öffnet sich zum
       Ein- und Ausgießen. Das Gefäß, auch wenn es so verschieden ist wie Schale,
       Kanne, Tasse, Vase, Krug, ist „das Fassende“. (So wusste es auch Martin
       Heidegger.) Aber das Haus Mies van der Rohes in seiner Leichtigkeit und
       Einfachheit – fast sind es nur drei in einen Garten gestellte Zimmer –, in
       seiner rechteckigen Klarheit und Transparenz, die nicht weit entfernt ist
       von den dünnen, verschiebbaren Wänden eines japanischen Teehauses: Ist
       dieses Haus nicht das elementare Gegenteil von Gefäßen?
       
       Die Inspiration, überhaupt Keramikgefäße in Mies' Haus und Garten
       auszustellen (eine zauberhafte flache, tiefschwarze und glänzende Schale
       von Thomas Bohle findet sich im Freien auf der Terrasse), kommt aus seiner
       Geschichte. In den 1930er Jahren, als das Haus von den Auftraggebern, dem
       Ehepaar Karl und Martha Lemke, bewohnt war, stand im Eingang eine große
       Bodenvase des Berliner Bildhauers und Keramikkünstlers Otto Douglas-Hill.
       
       Eine erst voriges Jahr publizierte Serie von [4][Schwarzweißfotografien des
       Hauses (von Howard Dearstyne)] und seiner Einrichtung aus dieser Zeit zeigt
       die Vase, in der lange Zweige stecken. In der gegenwärtigen Ausstellung ist
       eine Gruppe hoher, schlanker und gewölbter Vasen von Young-Jae Lee mit tief
       glänzenden, blauen, grauen, weinroten Glasuren im ehemaligen Schlafzimmer
       des Hauses eine Art Echo auf die alte Vase.
       
       Der Fotograf Michael Wesely hat die alte in einem Composite mit einer neuen
       Vase und einem Strauß rosaroter Blüten überblendet. Daraus entstand das
       Titelbild der Ausstellung. Wesely hat auch das ganze Haus fotografisch für
       ein wunderbares Buch porträtiert, dessen Text und Konzeption von der
       Direktorin des Hauses, Wita Noack, stammt. Sie ist seit 30 Jahren mit dem
       Haus verbunden und hat 1992 seine originale Rekonstruktion in die Wege
       geleitet. Dieses Haus, „das seine Bewohner vor der Alltagswelt abschirmt,
       vor Störungen schützt und so ein ruhiges und versunkenes Betrachten der
       ‚Welt‘ möglich macht“, wie Noack es „schlicht und ergreifend“ im Buch
       gleichen Titels schreibt.
       
       1 Aug 2023
       
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       ## AUTOREN
       
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   DIR Peter Berz
       
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