URI: 
       # taz.de -- Bodo Ramelows Minderheitsregierung: Thüringer Verhältnisse
       
       > Nach drei Jahren Regierung von Gnaden der CDU wirken Linke, SPD und Grüne
       > in Thüringen müde. Doch eine Verbesserung ist nicht in Sicht.
       
   IMG Bild: Schmeckt die Thüringer Bratwurst noch? Ministerpräsident Ramelow beim Sommerfest der Landesvertretung
       
       Erfurt taz | Im Jahr 1989 hielt der ehemalige CDU-Generalsekretär Kurt
       Biedenkopf die „Usurpation des Parlamentarischen durch die Parteien“ für
       einen Kardinalfehler. Im Buch „Zeitsignale“ plädierte er für wechselnde
       Mehrheiten im Dienst an der Sache. Das hinderte ihn ein Jahr später nicht
       daran, als der neue „König“ von Sachsen CDU-Herrschaft mit absoluten
       Mehrheiten vorauszusetzen und durchzuregieren.
       
       Verhältnisse, die bei der CSU in Bayern oder der CDU in Thüringen nur noch
       wehmütige Erinnerungen hervorrufen. Im so wenig grünen „Grünen Herzen
       Deutschlands“ gleicht seit 2019 jegliche Mehrheitsfindung einer Quälerei.
       
       Ein Jahr vor der Landtagswahl fühlt sich niemand, mit dem man in Erfurt
       spricht, wohl in der Rolle des Versuchskaninchens für ein
       demokratietheoretisch noch so interessantes Experiment. Nach der Wahl im
       Herbst 2019 fehlten der bis dahin regierenden rot-rot-grünen Koalition vier
       Stimmen an der parlamentarischen Mehrheit. Eine Mehrheitskoalition war
       nicht in Sicht, wenn auch der populäre erste [1][Linken-Ministerpräsident
       Bodo Ramelow] und die arbeitsfähige Regierung eine gewisse Kontinuität
       versprachen.
       
       Also mussten sich Linke, SPD und Grüne fortan von Fall zu Fall Mehrheiten
       für ihre Koalitionsvorhaben suchen. Der Eklat um die [2][Wahl des
       Liberalen Thomas Kemmerich] zum Ministerpräsidenten anstelle Ramelows
       mithilfe von AfD-Stimmen am 5. Februar 2020 war eine Folge dieser
       Konstellation.
       
       ## Linke im Abwärtssog
       
       Nach dreieinhalb Jahren wirken die Koalitionäre müde. „Es zermürbt, wenn
       man nie weiß, was kommt“, winkt SPD-Fraktionschef Matthias Hey ab.
       „Theoretisch spannend wäre es, wenn es sich um eine echte Tolerierung und
       nicht um eine Erpressung durch die CDU handelte.“ Ähnlich empfindet seine
       Kollegin Astrid Rothe-Beinlich von der fünfköpfigen Grünen-Fraktion: „Unser
       Kampf um wichtige Vorhaben zehrt, da die Opposition mit ihrer Mehrheit
       einfach alles blockieren kann.“
       
       Für die Linke, die 2019 sogar noch auf 31 Prozent zugelegt hatte, aber
       jetzt im Abwärtssog ihrer Partei auf 22 Prozent gefallen ist, nennt
       Fraktionsvorsitzender Steffen Dittes zwei Hauptgründe, die zu „Demotivation
       und Abnutzung“ führen. Handelte man wie 2014–19 üblich in der Koalition
       Anträge, Gesetze oder den Haushalt aus und beschloss dann im Plenum, so
       folgt seit drei Jahren stets die zweite Runde eines Korrektivs durch die
       CDU oder die FDP. „Wir können jetzt viel verhandeln, aber das Ergebnis wird
       nicht das parlamentarische sein“, beschreibt Dittes das geringere Gefühl
       von Verbindlichkeit unter Linken, SPD und Grünen.
       
       Lange spricht er dann über den zweiten Dämon, der nicht nur in Thüringen
       über der parlamentarischen Arbeit schwebt. Sie werde untergraben vom
       allgemeinen Verlust von Vertrauen in demokratische Institutionen. Aber
       ebenso von „Blödsinn und Denunziation, vom Personalisieren und
       Pathologisieren“ bei den politischen Akteuren, vom um sich greifenden
       Populismus. Nicht nur bei der AfD, die jüngste Umfragen bei mehr als 30
       Prozent sehen.
       
       Nach Beobachtung von Rothe-Beinlich übernimmt auch die CDU immer mehr
       „AfD-Sprech“, etwa wenn Fraktionschef Mario Voigt Wendungen wie
       „Energie-Stasi“, „Heizungshammer“ oder „kalte Enteignung“ gebraucht.
       
       ## CDU sieht den Hauptfeind links
       
       Nicht einmal an den Beginn des Arrangements mit der CDU will man noch gern
       erinnert werden. Der Schock der Kemmerich-Wahl 2020 bewirkte bei der CDU
       einen Personalwechsel und eine begrenzte Konzessionsbereitschaft. Der Deal
       mit RRG wurde „Stabilitätsmechanismus“ genannt, eine bislang beispiellose
       Verabredung jenseits einer Tolerierung oder gar Viererkoalition.
       
       Eine echte Regierungsbeteiligung wäre undenkbar für die Union, für die der
       Hauptfeind nach wie vor links steht. Immerhin ermöglichte die CDU-Fraktion
       durch ihre Enthaltung die Wiederwahl von Ministerpräsident Bodo Ramelow,
       die Verabschiedung des Landeshaushalts 2021 auch mit ihren Akzenten und den
       Plan einer Selbstauflösung des Landtags.
       
       Doch die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit kam im Sommer 2021 nicht
       zustande: Mindestens vier Parlamentarier der völlig heterogenen, nur aus
       direkt gewählten Abgeordneten bestehenden 21-köpfigen CDU-Fraktion
       kündigten ihre Verweigerung an. Bei solchen Abhängigkeiten mag keiner von
       einer Win-win-Situation sprechen.
       
       Wohl gelingen immer wieder kleinere Abstimmungserfolge, etwa bei der
       Erzieherinnenausbildung, der Kindertagespflege oder der Unterbringung von
       Geflüchteten. Bei den Beratungen zum Landeshaushalt 2023 habe die CDU in
       langen Nächten ihre Wünsche hineinverhandelt, sich dann bei der
       Schlussabstimmung aber enthalten. Das, was gut läuft, verkaufe sie jetzt
       als ihre Erfolge, ärgert sich die Grüne Astrid Rothe-Beinlich. „Enthaltung
       beim Haushalt ist keine Haltung!“
       
       ## Kein Ausweg in Sicht
       
       Eine große Nummer war im vorigen Sommer der sogenannte Windfrieden, ein
       Kompromiss über Mindestabstände geplanter Windräder. Zugleich ein
       anschauliches Beispiel für das Drohpotenzial der 19 AfD-Abgeordneten im
       90-köpfigen Landtag, mit dem die Koalitionsminderheit, vor allem aber die
       CDU spielen kann – selbstverständlich unausgesprochen. Zum Beispiel bei der
       mehrheitlichen Aufforderung an Thüringer Behörden, auf das Gendern zu
       verzichten.
       
       Dazu bedarf es keiner förmlichen Absprachen. Die CDU schmiert es
       Rot-Rot-Grün gern aufs Brot, dass sich auch die Koalition im April dieses
       Jahres von der AfD bei der Erweiterung des Auftrages für den
       Untersuchungsausschuss zur Personalpolitik unterstützen ließ. Der zielte
       ursprünglich auf die amtierende Landesregierung, befasst sich aber zum
       Verdruss von CDU, FDP und Fraktionslosen nun auch mit der CDU-geführten
       Regierung vor 2014.
       
       Ein Ausweg aus diesen Dilemmata, aus der gegenseitigen Paralysierung, von
       der nur die AfD profitiert, ist nicht in Sicht. Im September beginnt das
       Gezerre um den Landeshaushalt 2024, für den die CDU bereits einen eigenen
       Entwurf präsentiert hat. Die oft kolportierten „Thüringer Verhältnisse“
       könnten sich auch nach der Wahl im nächsten Jahr fortsetzen, was höchstens
       noch für politikwissenschaftliche Vorlesungen von Interesse wäre.
       
       Nach derzeitigen Umfragen würden die Koalitionsparteien gemeinsam nicht
       einmal 40 Prozent erreichen, die Grünen sogar um ihren Wiedereinzug
       fürchten müssen. Die Basis für eine Regierungsbildung würde noch schmaler,
       weil die AfD bis zu einem Drittel der Sitze erringen könnte, mit der offen
       aber niemand koalieren will.
       
       ## Kommt die Viererkoalition?
       
       Für eine Lösung hielt die ehemalige FDP-Abgeordnete Ute Bergner offenbar,
       den Landtag künftig per Volksentscheid auflösen und Neuwahlen herbeiführen
       zu können. Im Zerwürfnis mit Kemmerich hatte sie 2021 die FDP verlassen und
       gemeinsam mit AfD-Dissidenten die Kleinstpartei und die inzwischen wieder
       aufgelöste parlamentarische Gruppe „Bürger für Thüringen“ gegründet. Doch
       nur 20.000 Bürger unterschrieben ihr Begehren.
       
       Astrid Rothe-Beinlich brachte indes eine Viererkoalition ins Spiel, aber
       mit wem? Die inzwischen auf eine Vierergruppe geschrumpfte FDP hätte schon
       seit dreieinhalb Jahren die fehlenden vier Stimmen für eine Mehrheit
       beisteuern können. Ausgeschlossen sei das bei einem „von Kemmerich stramm
       konservativ geführten Laden“, wie sich SPD-Fraktionschef Matthias Hey
       ausdrückt. FDP und CDU sehen im Hinblick auf die Linke im doppelten Sinne
       rot. Der Partei lässt sich trotz Bodo Ramelow bequemerweise immer noch das
       Stigma der SED-Altlast anheften.
       
       So schießt sich CDU-Generalsekretär Christian Herrgott mittlerweile auch
       auf den nach Umfragen klar führenden Ministerpräsidenten Ramelow ein, mit
       dem man zugleich hinter verschlossenen Türen Absprachen trifft. Der
       Parlamentarische Geschäftsführer Andreas Bühl wirbt verdeckt um Partner und
       zählt SPD und sogar die Bündnisgrünen zur permanent beschworenen „Mitte“.
       Matthias Hey bestätigt strategische Bemühungen der Union, seine SPD aus der
       Koalition herauszulösen.
       
       ## In der Mitte gelähmt
       
       Welche Alternative für Thüringen aber sollte kommen, wenn die Doktrin der
       Bundes-CDU Linke und AfD gleichsetzt und Koalitionen mit ihnen ausschließt?
       Nur mit einer der beiden Parteien gibt es absehbar Mehrheiten, zumal sich
       die FDP trotz der Haudrauf-Politik ihres Chefs Thomas Kemmerich derzeit
       unterhalb der Fünfprozenthürde bewegt.
       
       Obwohl also auch ihre Situation alles andere als rosig ist, fällt der CDU
       und der FDP nichts Anderes ein, als ein gefühltes bürgerliches Lager zu
       beschwören. Linke und AfD vertieften die Spaltung der Gesellschaft, das
       Land sei „in der Mitte gelähmt“, sagt der parlamentarische
       CDU-Fraktionsgeschäftsführer Andreas Bühl. Doch wie hatte der verstorbene
       Kurt Biedenkopf 1989 seiner CDU ins Stammbuch geschrieben? „Die Mitte an
       sich ist noch kein politisches Programm!“
       
       17 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Linken-Politiker-zur-AfD/!5948528
   DIR [2] /Die-FDP-in-der-Bundesregierung/!5935571
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Bartsch
       
       ## TAGS
       
   DIR Thüringen
   DIR Bodo Ramelow
   DIR Minderheitsregierung
   DIR Thomas Kemmerich
   DIR GNS
   DIR Schwerpunkt AfD
   DIR Schwerpunkt Thüringen
   DIR Krise der Demokratie
   DIR Thüringen
   DIR Schwerpunkt AfD
   DIR Schwangerschaft
   DIR Schwerpunkt AfD
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Brandmauer bröckelt in Thüringen: AfD verhilft CDU zu Steuersenkung
       
       Wie hält es die Thüringer CDU mit der Brandmauer zur AfD? Offenbar
       flexibel. Die CDU setzte die Senkung der Grunderwerbssteuer durch – dank
       AfD.
       
   DIR Schwarz-braune Allianzen in Thüringen: Welche Brandmauer?
       
       Die Thüringer CDU erpresst die Landesregierung mit einem Antrag, den sie
       nur mit der AfD durchbringen kann und schwächt so die demokratischen
       Kräfte.
       
   DIR Debatte um Teilverbot der AfD: Eine Einstiegsdroge
       
       In Leitartikeln großer Medien wurde ein Verbot des radikalen Thüringer
       AfD-Landesverbands gefordert. Doch das wäre kein geschickter Mittelweg.
       
   DIR Thüringen ein Jahr vor der Landtagswahl: Es geht um die Wurst
       
       In Thüringen wurde das Deutsche Bratwurstmuseum wiedereröffnet. Die AfD war
       nicht da, die taz schon.
       
   DIR Linken-Politiker zur AfD: Ramelow verteidigt Ostdeutsche
       
       Wer AfD wähle, sei nicht automatisch ein Nazi, sagt Thüringens linker
       Ministerpräsident Bodo Ramelow. Er beklagt eine „Verzerrung der Realität“.
       
   DIR Schwangerschaftsberatung in Thüringen: Kein Geld mehr übrig
       
       Schwangerschaftsberatungsstellen in Thüringen sind seit Jahren
       unterfinanziert. Die Politik sagt, sie habe das Thema auf der Agenda.
       
   DIR AfD-Landrat in Sonneberg: Sesselmann darf im Amt bleiben
       
       AfD-Landrat Sesselmann besteht den „Demokratie-Check“. Der Fall zeigt
       rechtliche Schwachstellen. Auch bleiben Zweifel an der Neutralität des
       Landrats.