URI: 
       # taz.de -- Zum Todestag von Hans-Christian Ströbele: „Wir brauchen eine eigene Zeitung“
       
       > Vor einem Jahr starb Hans-Christian Ströbele. Unser Autor hat kurz vor
       > seinem Tod mit ihm über die wilden Gründungsjahre der taz gesprochen.
       
       Vergeistigt wirkte Hans-Christian Ströbele im Sommer vergangenen Jahres,
       nach zehn Jahren mit zwei unheilbaren Krankheiten. Engelsweiß die langen
       Haare, die Haut dünn wie Pergament, aber die Stimme fest und fröhlich.
       Hinter dem massiven Schreibtisch seines Arbeitszimmers mit Blick auf die
       Spree, unter einem vier Meter hohen Regal gefüllt mit Aktenordnern, rollte
       er auf seinem Stuhl hin und her und sprach über die Politik und sein Leben
       – wobei das für ihn eigentlich dasselbe war.
       
       Im März 2022 hatte ich damit begonnen, ihn mindestens einmal im Monat zu
       besuchen und zu befragen. Über sein politisches Erwachen 1967 in
       West-Berlin, sein Leben als Anwalt, die Konsequenzen aus dem russischen
       Überfall auf die Ukraine und natürlich auch über die Gründung der taz.
       
       Denn kennengelernt hatte ich ihn Anfang 1978, mehr als ein Jahr bevor wir
       die taz täglich produzierten, in der West-Berliner taz-Ini. Er hatte sich
       schon ein Jahr lang mit einem kleinen Kreis undogmatischer Linker
       getroffen, um den Traum der 68er von einer kritischen linken Tageszeitung
       zu verwirklichen, und nach dem [1][euphorischen Tunix-Kongress] im Januar
       1978 war ordentlich Schwung in das Projekt gekommen. Eine linksradikale,
       grüne Tageszeitung wäre auch ohne ihn gegründet worden, die Verwirklichung
       dieser Idee lag einfach in der Luft in den Jahren nach der Entstehung der
       [2][Anti-Atom-Bewegung], der Neuen [3][Frauenbewegung] oder auch der
       [4][Schwulenbewegung].
       
       Aber Christian, wie wir ihn nannten, war die wichtigste Person im
       taz-Gründerkreis, zu dem Initiativen in 30 Städten mit insgesamt mehreren
       hundert Menschen gehörten. Er war als furchtloser Anwalt der Kommunarden
       Dieter Kunzelmann und Fritz Teufel bekannt, als Verteidiger von Andreas
       Baader, Gudrun Ensslin und anderen Gründern der Rote Armee Fraktion.
       
       Bei der gemeinsamen Aufbauarbeit war er solidarisch, ohne Führungsanspruch,
       ein erfrischender Teamplayer und Pragmatiker, gleichzeitig prinzipientreu.
       Wenn wir Jüngeren uns in Kontroversen verrannten, holte er uns auf den
       Boden zurück oder wartete, bis wir uns abgeregt hatten.
       
       Am 23. Mai 2022 und noch mal am 20. Juni 2022 haben Christian und ich
       gemeinsam versucht, die Anfänge der taz zu rekonstruieren. Christian, der
       als Jurist immer für eine ordentliche Aktenführung gesorgt hatte, ging noch
       mal in seine Unterlagen, um bestimmte Vorgänge und Erinnerungen zu
       verifizieren.
       
       Auf dieser Grundlage ist das folgende Gespräch entstanden, das er danach
       noch zwei Mal korrigierte. Es ist ein historisches Zeugnis über die ersten
       wilden Jahre dieser Zeitung bis zur [5][Gründung der taz-Genossenschaft]
       1991.
       
       Anfang Juli vergangenen Jahres wollten wir uns erneut treffen, um noch ein
       paar Einzelheiten der taz-Historie zu vertiefen, doch dazu kam es nicht
       mehr. Christian war im Badezimmer gestürzt und hatte sich schmerzhafte
       Brüche zugezogen, von denen sich sein geschundener Körper nicht mehr
       erholte. Am Morgen des [6][29. August 2022] starb er in seiner Wohnung in
       Berlin-Moabit.
       
       Auch, um an den beeindruckenden Politiker und Menschen Christian Ströbele
       zu erinnern, der für die taz so wichtig war und dem die taz so wichtig war,
       veröffentlichen wir dieses Gespräch.
       
       wochentaz: Christian, wann und von wem wurde die Idee einer linken
       Tageszeitung geboren?
       
       Hans-Christian Ströbele: Die Idee einer linken Tageszeitung gab es seit den
       60er Jahren. [7][Fritz Teufel] hat das in einem 1978 für den „Prospekt:
       Tageszeitung“ verfassten Brief aus dem Gefängnis sehr schön formuliert. Er
       schrieb: „Eine neue Zeitung ist die Frau meiner Träume seit 67. Die Frau
       meiner Träume macht alle glücklich. Sie fegt Mauern weg wie nix.
       Ghettomauern, Knastmauern und das Monstrum vom dreizehnten August. Sie
       enteignet Springer durch Abspenstigmachen der Leser. Sie wird von Frauen,
       Kindern, Türken, Indianern, Studenten, Gefangenen und anderen Rentnern, von
       Lohn- und Drogenabhängigen für ihresgleichen gemacht. Olle Gutenberg kann
       endlich aufhören, im Grabe zu rotieren, und anfangen sich zu freuen, daß er
       die schwarze Kunst erfunden hat. Karl Valentin wird eine Kolumne kriegen
       und falls der schon tot sein sollte, vielleicht auch ich. Die Frau meiner
       Träume wird’s nicht leicht haben.“
       
       Fritz Teufel saß als Mitglied der „Bewegung 2. Juni“ im Knast, danach
       arbeitete er zur Resozialisierung bei der taz im Satz. Im Frühjahr 1981
       verfasste er einen Aufruf zu einem Aktionstag der Hausbesetzer, der uns
       eine ordentliche Razzia durch die Polizei einbrachte. Er schrieb ihn
       zusammen mit [8][Plutonia Plarre], die heute noch als Reporterin für den
       Berlin-Teil der taz arbeitet. 
       
       Fritz Teufel hat gerne provoziert. 1967 hat er, wie wir alle von der
       Außerparlamentarischen Opposition, der APO, ungeheuer unter der feindlichen
       und einseitigen Berichterstattung der etablierten Medien über uns gelitten.
       Deren Journalisten haben nicht darüber berichtet, was wir politisch wollten
       und was wir an den bestehenden Verhältnissen kritisierten, was unsere
       Auffassungen waren. Sie haben ein Zerrbild der antiautoritären Bewegung
       konstruiert. Neben den Zeitungen gab es ausschließlich
       öffentlich-rechtliches Radio und Fernsehen, Staatsmedien, die zu dieser
       Zeit viel intensiver von der Politik kontrolliert und gegängelt wurden als
       heute. Es existierte kein Internet, in dem sich alle nach Lust und Laune
       äußern können.
       
       Ihr habt die Presse als Gegner erlebt. 
       
       Als feindlich. Unser größter Feind war der Hamburger Verleger Axel
       Springer, mit seiner Bild-Zeitung und der in West-Berlin noch wesentlich
       auflagenstärkeren B.Z., die nahezu alle Arbeiter lasen. Die
       Springerzeitungen haben von Anfang an gegen die Gammler und Studenten, die
       sie „FU-Chinesen“ nannten, gehetzt und Rudi Dutschke, den Kopf der
       Bewegung, als dämonischen Bürgerschreck aufgebaut. Der Sozialistische
       Deutsche Studentenbund (SDS) – Peter Schneider, Hans-Joachim Hameister und
       andere – organisierten deshalb ein Springer-Tribunal, die Parole hieß:
       „Enteignet Springer!“ Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke an Ostern 1968
       war es überhaupt keine Frage, dass wir zur West-Berliner Springer-Zentrale
       in der Kochstraße zogen – heute dank der taz, der Grünen und der Linken
       Rudi-Dutschke-Straße –, um die Auslieferung der Bild-Zeitung und der B.Z.
       zu verhindern.
       
       War die gesamte Presse, die gesamte Öffentlichkeit in den 60er Jahren ein
       monolithischer Block? 
       
       Im Stern, in der Zeit oder im Spiegel gab es gelegentlich Artikel, die
       einigermaßen fair oder nicht diffamierend und feindlich, aber auch ziemlich
       distanziert waren. Die 68er-Bewegung hatte keine eigene Stimme, mal
       abgesehen vom Extra-Dienst, der linkssozialdemokratisch, gewerkschaftlich
       und DDR-freundlich war, und der 883, einem anarchistischen Szeneblatt. Alle
       waren sich einig: Wir brauchen eine eigene Publikation. Wir brauchen eine
       eigene Zeitung.
       
       Ihr wart nicht die einzigen, die sich an der Medienmacht von Springer
       stießen. Dem liberalen Hamburger Spiegel-Gründer und Eigentümer Rudolf
       Augstein gefiel es auch nicht, dass der Springer-Verlag an die 70 Prozent
       des Tageszeitungsmarktes in West-Berlin kontrollierte. 
       
       Augstein hat deshalb ein Projekt von linken Journalisten finanziert, die
       eine populäre linke Zeitung machen wollten, eine Art Gegen-Bild-Zeitung.
       Extrablatt lautete der Arbeitstitel, ich habe noch ein paar Ausgaben hier
       oben im Regal liegen. Aber Augstein fand die ersten Nummern so
       unprofessionell, dass er das Projekt bald nicht weiter unterstützte.
       
       Wie kam es 1978 zur Entstehung der Initiativen, die die taz gründeten? 
       
       Das lag nicht zuletzt an zwei Leuten, an [9][Max Thomas Mehr] und mir. Max
       gehörte zum Kollektiv eines linken Buchladens, des „Politischen Buchs“ in
       der Lietzenburger Straße. Das Büro unseres Sozialistischen
       Anwaltskollektivs in der Meierottostraße lag nicht weit davon entfernt. Ich
       ging ab und zu ins Pol-Buch, um dort Bücher zu kaufen und einen Kaffee zu
       trinken, so lernte ich Max kennen. Und als wir uns mal wieder über die
       tendenziöse Berichterstattung der bürgerlichen Medien ärgerten, sagten wir:
       Mensch, man müsste doch endlich eine linke Tageszeitung gründen, die dem
       etablierten Mainstream etwas entgegensetzt.
       
       Wann war das? 
       
       In meinem Terminkalender des Jahres 1976 findet sich für Donnerstag, den 2.
       Dezember, um 18 Uhr der Eintrag „Zeitungstreffen“. Etwa einmal im Monat
       trafen wir uns im Büro des Anwaltskollektivs, maximal zehn Leute kamen,
       manchmal saßen aber auch Max und ich alleine da. Wer außer uns noch
       mitdiskutierte, erinnere ich kaum mehr, das wechselte auch ständig. Annette
       Eckert, die später bei der taz als Kulturredakteurin arbeitete, war dabei.
       Und der Schriftsteller Wolfgang Dreßen; Thomas Krüger, Dozent am Institut
       für Publizistik. Mein Anwaltskollege Klaus Eschen, mal auch meine Frau
       Juliana. Aber die beiden blieben dann weg.
       
       Warum? 
       
       Weil es ihnen zu blöde war, immer zu hören: Man sollte mal, man müsste mal.
       Wir fragten uns: Wer könnte uns das Geld für eine linke Tageszeitung geben?
       Linke Journalisten? Gibt es die überhaupt? Müssen wir die ausbilden?
       Gleichzeitig trauten wir es uns zu, eine Tageszeitung auf die Beine zu
       stellen, denn es waren schon eine ganze Reihe von linken Unternehmen in
       West-Berlin und anderswo gegründet worden, Buchläden, Kneipen,
       Taxikollektive. Warum also nicht auch eine Tageszeitung?
       
       Wie sah euer Konzept aus? Was sollte anders gemacht werden als in der
       etablierten Tagespresse, den bürgerlichen Zeitungen? 
       
       Was in der neuen Zeitung stehen sollte, das war nicht wirklich klar, und
       unsere Vorstellungen davon waren auch widersprüchlich. Einerseits sollte
       die Zeitung abbilden, was in der linken Szene diskutiert wurde, was
       anderswo nicht veröffentlicht wurde, was verboten war. Politische Gruppen
       sollten auch zu Wort kommen, aber nicht mit endlosen Erklärungen.
       Andererseits sollte die Zeitung, was Aufmachung, Themen und Sprache
       anbelangt, auch Menschen außerhalb der linken Szene ansprechen. Die neue
       Zeitung sollte kein reines Szeneblatt sein. Wir wollten jeden Tag ein
       besonders aussagekräftiges Foto veröffentlichen, das gab es immerhin als
       „Augenblicke“ bis zu einer Layout-Reform 2005.
       
       Habt ihr euch auch mit den wirtschaftlichen und technischen Aspekten der
       Produktion einer Tageszeitung beschäftigt? 
       
       Zunächst kaum, deshalb war ein Treffen der Gruppe sehr wichtig, zu dem Max
       den erfahrenen Journalisten Jörg Mettke eingeladen hatte, den
       West-Berlin-Korrespondenten des Spiegels. Als Profi sollte er uns Amateure
       beraten, wie man genau eine Tageszeitung gründet, wie das praktisch
       funktionieren könnte. Mettke sagte, man brauche natürlich Journalisten,
       aber auch einen Verlag, der den Vertrieb organisiert, sowie eine Druckerei,
       und vor allem brauche man Geld, viel Geld. Eine Million Mark, sagte er. Das
       war damals unvorstellbar viel. Wir hielten dagegen, dass wir nicht so viel
       bräuchten, weil wir sowieso umsonst arbeiten würden. Es dachte niemand
       daran, Geld mit dieser Zeitung und der Arbeit für diese Zeitung zu
       verdienen; wir sahen eine solche Zeitungsgründung als politisches Projekt.
       Aber das Wort von der Million wirkte schon ziemlich desillusionierend. Ich
       dachte insgeheim: Vielleicht gründen wir doch lieber erst mal eine
       Wochenzeitung.
       
       Zur geläufigen Erzählung über die taz gehört, dass ihre Gründung dem
       Deutschen Herbst 1977 zu schulden sei. Die taz sei der Versuch gewesen, der
       Nachrichtensperre über die Schleyer-Entführung etwas entgegenzusetzen, der
       sich die etablierten Medien freiwillig unterworfen hatten. 
       
       In den Monaten nach dem Oktober 1977 war die Repression gegen die radikale
       Linke besonders heftig. Aber diese Situation war lediglich eine Art
       Katalysator, der die Gründung einer linken Tageszeitung befördert und
       beschleunigt hat.
       
       Wie wirkte sich das konkret auf eure kleine Gruppe aus? 
       
       Wir empfanden die Notwendigkeit einer linken Zeitung als größer denn je,
       aber auch die Bedingungen, sie in so einer repressiven Situation auf die
       Beine zu stellen, als schwieriger denn je. Was unser Berliner Kreis im
       Oktober 1977 gar nicht mitgekriegt hatte: Damals diskutierten auf der
       Frankfurter Buchmesse Spontis aus verschiedenen westdeutschen Städten über
       die von allen Medien nach Aufforderung durch die Bundesregierung
       praktizierte Nachrichtensperre in Sachen RAF. Sie sprachen auch über die
       Notwendigkeit von kritischer Gegenöffentlichkeit gegen eine solche
       Gleichschaltung der Medien.
       
       Wer war dabei? 
       
       Genossen der Zeitschrift Autonomie, der Hamburger Arzt und Theoretiker
       Karl-Heinz Roth, der vormalige Frankfurter Asta-Vorsitzende [10][Thomas
       Hartmann], der später eine wichtige Rolle bei der Gründung der taz spielte
       und heute noch die taz-Reisen organisiert; Thomas Schmid, später
       Chefredakteur von Springers Welt, Dany Cohn-Bendit, Leute vom Münchner
       Trikont-Verlag. Von einer Frankfurter Tageszeitungsinitiative hörte ich
       dann erst Ende des Jahres 1977. Sie sollte schon viel weiter und wesentlich
       professioneller sein als wir, hieß es.
       
       Ende Januar 1978 versammelten sich Tausende von Spontis an der Technischen
       Universität in West-Berlin zum „Treffen in Tunix“. Der Wille zum Aufbruch
       war enorm. Im Programm des dreitägigen Kongresses war eine Veranstaltung
       „Linke Tageszeitung in der BRD (Ströbele, Günter Wallraff, Lotta Continua
       und Alternativzeitungen)“ angekündigt, wobei Wallraff nicht auftauchte und
       auch kein Vertreter der italienischen linksradikalen Tageszeitung Lotta
       Continua.
       
       Aber diese Podiumsdiskussion war die erste öffentliche Veranstaltung zum
       Tageszeitungsprojekt. Zu den Tunix-Organisatoren zählten auch meine
       späteren Anwaltskollegen Stefan König und Johnny Eisenberg. Auf dem Podium
       im mit 3.000 Leuten völlig überfüllten Audi-Max saßen Max Thomas Mehr und
       ich, für die Berliner Gruppe, Hannes Winter vom Frankfurter ID, dem
       Informationsdienst für unterbliebene Nachrichten, Achim Meyer von der
       alternativen Münchner Stadtzeitung Blatt und Jean-Marcel Bouguereau von der
       Pariser Libération, einer 1973 von Jean-Paul Sartre und anderen gegründeten
       Tageszeitung, in der linke Intellektuelle wie Michel Foucault schrieben.
       Die Stimmung bei der Tunix-Veranstaltung war ungeheuer euphorisch. Alle
       wollten etwas tun. Alles schien möglich.
       
       Der [11][Elan von Tunix] brachte das Tageszeitungsprojekt in Schwung. Ich
       persönlich hatte schon von Münchner Genossen etwas davon erfahren und
       schloss mich der West-Berliner Tageszeitungsinitiative an. 
       
       Wir trafen uns nicht mehr im Büro des Anwaltskollektivs, sondern im
       Neuköllner Lehrerzentrum in der Hermannstraße. Dort tauchten neben anderen
       Gitti Hentschel auf, später Leiterin des Gunda-Werner-Instituts in der
       Heinrich-Böll-Stiftung, Vera Gaserow, die als freie Mitarbeiterin der
       Frankfurter Rundschau eine der ganz wenigen war, die schon ein wenig
       journalistische Erfahrung hatte. Und Armin Meyer, ein intellektueller
       Taxifahrer, der ein paar Jahre später im Berliner Häuserkampf so etwas wie
       der Stratege der Autonomen wurde. Spontis von der Uni, junge Leute wie du,
       Ute Scheub, Andreas Rostek, Stefan Schaaf, Rainer Berson. Und ziemlich
       schweigsam, wie auch meist später, Karl-Heinz Ruch beziehungsweise Kalle,
       der zum langjährigen erfolgreichen Geschäftsführer der taz werden sollte.
       
       Ganz schön viele. 
       
       Dank der Tunix-Veranstaltung kamen jetzt zwanzig, dreißig Leute zu den
       Treffen. Max und ich machten uns schon Sorgen, dass die ganze Sache aus dem
       Ruder laufen und von maoistischen Kadern unterwandert werden könnte.
       
       Aber das geschah nicht, die Angst war unbegründet. Wie ging es dann weiter? 
       
       Nach den Treffen der taz-Ini gingen wir oft in die Osteria No. 1, eine
       Kneipe von italienischen Genossen am Fuße des Kreuzbergs. Aus meinen
       Unterlagen ergibt sich, dass ich dort am 23. Februar 1978 mit vier Männern
       und zwei Frauen zusammensaß und wir den Verein „Freunde der alternativen
       Tageszeitung e. V.“ gründeten. Der Name „Freunde der alternativen
       Tageszeitung“ stammte von mir beziehungsweise aus einem meiner
       Lieblingsfilme, „Some Like it Hot“ von Billy Wilder, in dem amerikanische
       Mafiosi unter Führung von Al Capone als „Freunde der italienischen Oper“
       firmieren. Unseren ehrenwerten Verein ließ ich ordentlich beim Amtsgericht
       Charlottenburg ins Vereinsregister eintragen, am 9. März 1978, gegen eine
       Gebühr von 107,90 DM.
       
       Der neue Verein brauchte Räumlichkeiten. 
       
       Am 24. April 1978 unterschrieb der Vorstand des Vereins der Freunde der
       alternativen Tageszeitung e. V. einen Gewerbemietvertrag mit einer
       Erbengemeinschaft aus Hildesheim für ein „Presse-Büro“ in der Suarezstraße
       41 in Charlottenburg. Die Mietsache bestand aus: „Vorderhaus, Parterre
       rechts, Laden mit anschließenden drei Nebenräumen, sowie links im
       Souterrain ein weiterer Raum. Daneben ein Kellerraum unter dem Laden sowie
       ein Lagerkeller mit separatem Eingang von der Straßenseite. Die Fläche ist
       mit 101 qm vereinbart.“ Die monatliche Miete betrug 354,33 Mark. In dem
       Laden saß dann Peter Köker mit einem Holzkasten mit kleinen Karteikarten
       drin, auf die er jeweils Namen und Adresse der Leute getippt hatte, die die
       noch nicht existierende Zeitung vorab abonniert hatten. Das waren anfangs
       viel zu wenige.
       
       Wir versuchten die Zeitung mit Crowdfunding, wie man das heute nennen
       würde, zu finanzieren. 
       
       Es galt, unser Projekt bekannt zu machen. In der linken Szene und darüber
       hinaus. Im April 1978 brachten die taz-Initiativen deshalb den „Prospekt:
       Tageszeitung“ heraus.
       
       … wo dann auch der Brief von Fritz Teufel aus dem Gefängnis erschien. 
       
       Rudi Dutschke erklärte darin aus dem Exil im dänischen Aarhus: „Bei dem
       miserablen Zustand – verglichen mit der internationalen Situation – der
       deutschen Öffentlichkeit, wo nichts offen und wo kein Licht ist, daß da
       eine Zeitschrift, eine Tageszeitschrift überfällig ist, ist keine Frage.“
       Günter Wallraff meinte: „Es müßte erstmal eine Gegenzeitung geschaffen
       werden, die alles bringt, das woanders nicht mehr kommt. Und nicht nur von
       einer Linksaußen-Position getragen – das politische Bekenntnis braucht
       nicht in jedem Artikel mitschwingen.“ Und er sagte auch: „Eine große und
       überregionale Tageszeitung auf die Beine zu stellen, kostet 80 Millionen
       Mark.“ Viele 68er waren eher skeptisch. Der Ex-SDS-Mann Tilman Fichter
       unkte, „daß unglaublich viele Genossinnen und Genossen nicht belastbar sind
       und auch dann, wenn sie sich wirklich anstrengen, so etwas einfach nicht
       hinkriegen“. Falls diese Tageszeitung tatsächlich erscheinen würde, so
       Fichter, wäre sie „so etwas wie ein 7. Weltwunder“.
       
       Wie kam es zu dem nicht sonderlich prickelnden, im Grunde inhaltsleeren
       Namen „Die tageszeitung“? 
       
       Bei einem nationalen Treffen der taz-Inis im Schloss Trautskirchen bei
       Nürnberg, wo ein Künstlerkollektiv residierte, wurde 1978 der Name
       beschlossen. Es hatte eine Arbeitsgruppe zu dieser nicht unwichtigen Frage
       getagt, es war im „Prospekt: Tageszeitung“ ein Wettbewerb unter der
       künftigen Leserschaft ausgelobt worden. Die Vorschläge fielen aber eher
       skurril als überzeugend aus: „Unter dem Pflaster“, „Sumpfblüte“,
       „Republikanischer Landesbote“. Ich kam dann auf „Die Tageszeitung.“ Das
       drückte zweierlei aus, einmal, dass es sich um eine täglich erscheinende
       Publikation handelte, zum anderen, dass es die bedeutendste Tageszeitung in
       Deutschland sei. Das hatte etwas Größenwahnsinniges, aber so waren wir
       damals. Da niemandem etwas Besseres, Überzeugenderes einfiel, blieb es bei
       diesem zunächst provisorischen Namen.
       
       Welche Entscheidungen waren in dieser Phase der Vorbereitung sonst noch
       wichtig? 
       
       Die wichtigste Entscheidung in der Gründungsphase der taz war die, wo die
       sogenannte „Zentral-Redaktion“ arbeiten würde. Die Mitglieder der
       Frankfurter Ini gingen davon aus, dass dies gar keine Frage sei, dass die
       Redaktion natürlich bei ihnen in Frankfurt arbeiten würde. Sie verstanden
       sich mit Dany Cohn-Bendit, Joschka Fischer, Matthias Beltz und anderen als
       intellektuelles Zentrum der Spontis, der undogmatischen Linken in der
       Bundesrepublik. Uns Berliner, die eine Arbeitsgruppe „Betrieb und
       Gewerkschaft“ hatten und bei denen auch ein paar ehemalige Maoisten dabei
       waren, sahen die Frankfurter als zurückgebliebene traditionelle Linke. Sie
       hatten die Stadtzeitung Pflasterstrand, den ID, den wöchentlichen
       Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten, sie hatten
       deutlich mehr Erfahrung im Zeitungsmachen und traten selbstbewusst,
       manchmal leicht arrogant auf. Das wurde ihnen zum Verhängnis.
       
       Wann genau erfolgte die Festlegung des Redaktionssitzes? 
       
       Bei einem nationalen Treffen in Frankfurt am 10. Dezember 1978. Da bekam
       West-Berlin 43 Stimmen und Frankfurt 30. Die meisten Mitglieder der
       kleineren taz-Inis, Hamburg, Hannover, Köln, Stuttgart, München und andere,
       hatten weniger für Berlin als gegen Frankfurt gestimmt. Sie hatten den
       Verdacht, dass viele der Frankfurter sie vor allem als Wasserträger für ihr
       tolles Projekt begriffen. Heute muss man sagen, dass ohne die taz-Inis in
       rund 30 Städten, von Kiel bis Bad Schussenried, die taz nicht hätte
       gegründet werden können. Es war eine richtige kleine Bewegung.
       
       Für welche Stadt hast du votiert? 
       
       Ich war natürlich für Berlin, schlicht weil ich hier lebte. Und neben dem
       ungeschickten Auftreten der Frankfurter war es [12][Kalle], der auf den
       ersten Blick unscheinbare und wenig charismatische Kalle, der dafür sorgte,
       dass die Redaktion nach Berlin kam. Er rechnete ganz nüchtern vor, dass die
       monatlichen Kosten für die Produktion der Zeitung in West-Berlin um rund
       30.000 Mark unter denen in Frankfurt lägen, weil es hier
       Investitionszulagen und verschiedenste Steuersparmöglichkeiten gab. Nur in
       West-Berlin, so sein Credo, würde es finanziell möglich sein, mit unseren
       sehr knappen Ressourcen eine Tageszeitung zu gründen.
       
       In deiner pragmatischen Art hast du versucht, den Riss zu kitten, und hast
       – es erschienen bereits monatlich Nullnummern – einfach weitergemacht. 
       
       In meinen Akten findet sich ein Brief aus dem Januar 1979 an die
       Frankfurter Ini: „Im Wedding wurde eine Büroetage mit 620 qm angemietet.
       Mit idealen Arbeitsmöglichkeiten für die Zentralredaktion. Fotosatzgeräte
       sind gekauft.“ Anfang Januar 1979 zog die künftige Redaktion in die Etage
       in der Wattstraße ein, wobei es um die Finanzen weiterhin jämmerlich
       bestellt war. In dem zitierten Brief heißt es: „Ca. 3500 Vorausabonnenten
       haben inzwischen 270.000 DM bezahlt, die bis zum täglichen Erscheinen der
       TAZ festgelegt bleiben.“
       
       Was brauchte es noch? 
       
       Es mussten schnell Firmen gegründet werden, zwei Kommanditgesellschaften,
       die später in GmbHs umgewandelt wurden. Eine Verlags-GmbH beschäftigte die
       Redaktion, die Fotosatz- und anderen wertvollen Maschinen gehörten einer
       zweiten GmbH, damit sie im Falle einer Pleite nicht in der Konkursmasse
       gelandet wären. Diese GmbHs waren über Treuhänder mit dem Verein der
       Freunde der alternativen Tageszeitung verbunden, einer von ihnen war mein
       Kollege Otto Schily.
       
       Noch war nicht klar, ab wann die Zeitung täglich erscheinen sollte. 
       
       Im Frühjahr 1979 traten wir die Flucht nach vorne an. Nach zehn Nullnummern
       erschien die Zeitung ab dem 17. April 1979 täglich, 12 Seiten im Berliner
       Format, der Redaktionsschluss war schon um 13 Uhr. Die Filme der Seiten
       mussten in eine Druckerei bei Hannover gefahren und in eine zweite
       Druckerei nach Frankfurt geflogen werden. Doch es waren nicht 20.000
       Abonnenten zusammen, mit denen wir eigentlich starten wollten, sondern nur
       7.000. Die gedruckte Auflage lag bei 63.000 Exemplaren, die verkaufte bei
       nicht viel über 20.000.
       
       Die taz startete auch fast ohne journalistische Erfahrung. 
       
       Von den rund 50 Leuten, die im Frühjahr 1979 mit der täglichen Produktion
       loslegten, hatten nur drei überhaupt schon mal für eine Tageszeitung
       gearbeitet. Es gab Taxifahrer, Sozialarbeiter, Lehrer, viele Studenten,
       aber kaum gelernte Journalisten. Sie wollten zukunftsweisende Ideen
       propagieren. Die Frauen setzten bald mithilfe eines einwöchigen Streiks
       eine Frauenquote von 52 Prozent für alle Abteilungen durch. Die erste
       Frauenquote Deutschlands, noch ein paar Jahre bevor die Grünen eine solche
       einführten. Die Öko-Redaktion kämpfte nicht nur gegen die Atomenergie,
       sondern setzte sich für Windenergie, Sonnenenergie, Erdwärme ein. Das war
       avantgardistisch – und richtig. Die Redaktion hatte drei weitere
       inhaltliche Säulen bestimmt: die „Frauenfrage“, Gender würde man heute
       sagen; den Internationalismus, also die Solidarität mit der Dritten Welt;
       und alternatives Leben und Arbeiten.
       
       Wie siehst du deine Rolle bei der Gründung der Zeitung? 
       
       Meine Rolle bei der Gründung der taz war eine Dreifache. Ich bin viele
       Wochen lang abends, meist in Charlottenburg, in Kneipen von Tisch zu Tisch
       gegangen – wie später als Bundestagsabgeordneter der Grünen – und habe
       Zeitungen verkauft, habe versucht, die Leute dazu zu bringen, die Zeitung
       zu unterstützen und ein Abo zu zeichnen. Meine zweite Rolle war die des
       Organisators, des juristischen Vaters, wenn man so will. Als Drittes habe
       ich Redaktionsmitglieder, die von der Staatsanwaltschaft oder
       zivilrechtlich belangt wurden, juristisch vertreten, als Justitiar. In den
       ersten beiden Jahren überzog die politische Staatsanwaltschaft die
       presserechtlich Verantwortlichen der taz mit Strafverfahren. Es gab auch
       etliche Hausdurchsuchungen von Staatsanwälten in der taz. Da klingelte bei
       mir das Telefon und es hieß: „Christian, du musst schnell kommen, es steht
       mal wieder ein Staatsanwalt in der Tür.“
       
       Mitglied der Redaktion warst du nie. 
       
       Nein. Bei der Produktion der ersten Nullnummer im September 1978 war ich
       zwar in Frankfurt, aber hatte keine Ahnung, wie die Zeitung mit Composern
       und Fotosatz produziert wurde. Dass wir am 17. April 1979 mit dem täglichen
       Erscheinen starteten, lag nicht zuletzt daran, dass wir unerwartet
       Konkurrenz bekommen hatten.
       
       Du meinst Die Neue, die tägliche Ausgabe des Extra-Dienstes. 
       
       Traditionelle Linke vom bis dahin wöchentlich erscheinenden Extra-Dienst
       wollten uns Spontis nicht das Feld überlassen. Sie waren gewerkschaftsnahe,
       linkssozialdemokratische Linke, standen der DDR nahe, zwei von ihnen waren
       Stasi-Spitzel, wie sich viel später herausstellte. Uns behandelten sie
       etwas herablassend wie Amateure, die ihnen als erfahrenen Profis nicht das
       Wasser reichen könnten. Es kam aber genau umgekehrt. Sie starteten zwar
       kurz vor der taz, aber mussten nach weniger als drei Jahren das Erscheinen
       als Tageszeitung beenden. Nachdem die taz zum täglichen Erscheinen
       übergegangen war, war ich allerdings auch skeptisch, dass wir das lange
       durchhalten würden.
       
       Wegen des Geldes? 
       
       Finanziell sah es sehr schlecht aus. Es ging zwar langsam aufwärts, es
       wurden mehr Abonnements, aber nach einem halben Jahr konnten keine Löhne
       mehr bezahlt werden. Ein Teil der Redaktion suchte sich andere Jobs, um die
       Miete bezahlen zu können. Ich habe meine Skepsis nicht laut geäußert, weil
       ich keinen Defätismus verbreiten wollte. Aber ich hatte es in vielen
       alternativen Zusammenhängen erlebt, dass du dich nicht unbedingt auf die
       Leute verlassen konntest. Die hängten sich erst einmal schwer rein, aber
       dann fanden sie etwas anderes und waren von einem auf den anderen Tag weg.
       Doch das war bei der taz nicht so. Trotz dieses komplizierten
       arbeitsteiligen Produktionsprozesses erschien die Zeitung jeden Tag.
       Anfangs erschien mir das wie ein kleines Wunder. Auch wenn es große
       Kontroversen und großen Streit gab – und das gab es öfters – die Zeitung
       erschien. Tag für Tag. Die Leute kamen morgens um neun in die Etage im
       Wedding und machten die Zeitung – obwohl sie Spontis waren. Zu meiner
       großen Verwunderung ging es immer weiter.
       
       Es ging immer weiter, obwohl wir uns ständig in nahezu uferlosen, sehr hart
       geführten Debatten auf den Plena erschöpften. Die Selbstverwaltung war sehr
       anstrengend und oft auch frustrierend. 
       
       Das mag sein, aber für mich war die Selbstverwaltung neben der
       publizistischen und politischen Bedeutung einer linken Tageszeitung absolut
       entscheidend. Ein ganz wichtiges Motiv dafür, bei dem Projekt mitzumachen.
       Die taz war das größte Alternativprojekt der Bundesrepublik: Die
       Auflockerung der Arbeitsteilung, der Einheitslohn für alle, anfangs nur 650
       Mark netto im Monat, das war deutlich weniger als der Einheitslohn von über
       1.000 Mark, den wir uns im Sozialistischen Anwaltsbüro auszahlten. Aber
       jeder konnte beim Plenum mitdiskutieren und mitentscheiden, jeder, der bei
       der taz arbeitete, konnte bei den Vereinstreffen über die wichtigen
       Entscheidungen mitbestimmen.
       
       Das Geld blieb knapp. 
       
       Wirtschaftlich gesehen war das erste Jahrzehnt der taz sehr hart. Alle
       Jahre wieder tat sich das Sommerloch auf, das die taz aufgrund des
       geringeren Verkaufs im Sommer an den Rand des Ruins brachte. Es mussten
       Spenden- und Bettelkampagnen gestartet werden. Es herrschte eine desolate
       Mangelökonomie. Immer wieder gab es Situationen, in denen man eigentlich
       hätte bekennen müssen, dass das Geld nicht mehr reicht; in denen man
       Konkurs hätte anmelden müssen – und, da man das nicht getan hat, sich der
       Straftat der Konkursverschleppung schuldig machte. Ich habe das nie so
       ausgesprochen, ich habe das dem Geschäftsführer Kalle auch nie so gesagt,
       sondern habe lediglich angemerkt: Kalle, du weißt, was du hier riskierst.
       Er wusste es, denn er war ja nicht blöde.
       
       Kalle war weiß Gott nicht blöde, aber er war fast zwei Jahrzehnte jünger
       als du. Die große Mehrheit der Gründerinnen und Gründer der taz war in
       ihren Zwanzigern, du warst deutlich älter. Sind wir Jungen dir eigentlich
       nie auf die Nerven gegangen? Mit unserer Arroganz der Adoleszenz, unserem
       Mangel an Erfahrung? 
       
       Ich hatte mehr Erfahrung, aber unser Verhältnis war ein Verhältnis von
       Gleichen, auch wenn manche der Jüngeren mich auch als Vaterfigur sahen. Ich
       habe nie versucht, etwas mit meiner Autorität durchzusetzen. Auf die Dauer
       geriet ich allerdings in eine Rolle, in der ich mich nicht wohl gefühlt
       habe. Mein erster Mitstreiter Max warf mir vor: Du hast dein Anwaltsbüro
       und dein Auskommen, wir darben hier mit einem minimalen Einheitslohn, mit
       diesem Hungerlohn. Darauf habe ich geantwortet: Hör mal zu, Max, ich
       verbringe hier in der taz die Nachmittage und Abende und bekomme gar nichts
       dafür. Ich habe nie einen einzigen Cent beziehungsweise Pfennig von der taz
       bekommen. Es mag sein, dass ich dennoch das schlechte Gewissen eines
       Privilegierten hatte, auf jeden Fall habe ich regelmäßig Frühstück oder ein
       Blech Kuchen in die taz mitgebracht, die stets freudig verzehrt wurden.
       
       Du selbst hast dich bewusst nicht als Teil der Redaktion begriffen, aber du
       hast immer wieder für die taz geschrieben. 
       
       Ja. In den ersten Jahren der taz habe ich viele Artikel für sie
       geschrieben, zum Beispiel zwei ganze Seiten über einen Besuch von Juliana
       und mir bei der Guerilla in Guatemala, in ihren befreiten Zonen. Die
       Redakteurinnen und Redakteure kamen sich naturgemäß sehr wichtig vor,
       entscheidend aber waren andere. Kalle Ruch, der Geschäftsführer, Gudrun
       Kromrey und Heiner Kamp, die den Vertrieb aufbauten, Dieter Metk, der ein
       Konzept für die Produktionstechnik konzipierte, die moderner war als die
       der etablierten Zeitungen von Springer und anderen Verlagen. Ohne diese
       Leute hätte es die taz nicht gegeben. Gert Behrens spielte auch eine
       wichtige Rolle.
       
       Er war ein erfahrener Steuerberater. 
       
       Gert Behrens war bei der Gründung von „Netzwerk“ dabei, einem Verein zur
       finanziellen Unterstützung alternativer Projekte, er hatte beim Kauf des
       Mehringhofs in Kreuzberg als räumliches Zentrum der West-Berliner
       Alternativbewegung mitgemischt. Er entwickelte mit Kalle zusammen das
       Konstrukt von mehreren GmbHs, mit denen Steuern gespart und die Kosten
       gesenkt werden konnten.
       
       Du hast dich nicht nur auf das Organisatorische beschränkt, sondern zum
       Beispiel die große Kampagne „[13][Waffen für El Salvador]“ in der taz
       vorgeschlagen und durchgesetzt. 
       
       Ich war von Anfang an der Meinung, dass eine Zeitung, die von politischen
       Bewegungen getragen wird, auch ein Instrument für politische Kampagnen ist.
       Sie kann nicht nur neutral berichten, sondern sie soll versuchen, Einfluss
       zu nehmen, Macht auszuüben. In der radikalen Linken wurde damals eine
       Debatte geführt, mit der ich, da ich kein Pazifist war, keine Probleme
       hatte. Es ging um die Frage: Ist Gewalt als politisches Instrument
       gerechtfertigt, gibt es politische Situationen, in denen bewaffneter Kampf
       gerechtfertigt und nötig ist? Diese Diskussion sollte man offen führen. Ich
       habe Geld für den Kampf des ANC gegen die Apartheid in Südafrika gespendet.
       Oder für den Vietcong, die Kommunisten in Vietnam. Da war meine ganze
       Emotion dahinter. Dann Nicaragua, El Salvador. Es ging mir nicht darum,
       dass sich Guerilleros tausend Maschinengewehre kaufen können, sondern: Ich
       wollte diese Diskussion in Deutschland. Ich sah es auch als eine Aufgabe
       der taz an, solche Fragen zu diskutieren, durchaus hart und kontrovers zu
       diskutieren.
       
       Wie lief denn die Kampagne, nachdem ihr Start im Dezember 1980 auf der
       ersten Seite der taz verkündet worden war? 
       
       Klaus-Dieter Tangermann, der leider schon 2002 gestorben ist, und ich
       hatten viele und intensive Kontakte zu Genossen in Mittelamerika. Beim
       Start der Spendenkampagne dachten wir, es kommen vielleicht 2.000 oder
       3.000 Mark zusammen. Es wurden dann bis 1992 über 4 Millionen Mark. Es gab
       in den meisten Universitätsstädten öffentliche Diskussionen. Wir gaben Geld
       an vier Guerilla-Gruppen, die teilten das untereinander auf. Ich habe auch
       zweimal Dollars in Plastiktüten rübergebracht. Die Geldscheine wurden bei
       der Volksbankfiliale in Berlin abgeholt, nachdem ich angerufen hatte, wie
       viel Cash-Dollars wir haben wollten. In der taz flammte Streit auf, als
       bekannt wurde, dass sich Führungsfiguren verschiedener rivalisierender
       Guerilla-Gruppen gegenseitig hatten ermorden lassen. Wir haben denen auch
       gesagt: Wenn das so weitergeht, unterstützen wir euch nicht mehr.
       
       Was waren andere Themen, die in den ersten Jahren in der taz kontrovers
       diskutiert wurden? 
       
       Immer die „Frauenfrage“, wie es damals hieß. Und die [14][RAF] war ein sehr
       kontroverses Thema. Wolfgang Grundmann, der bei der RAF gewesen, aber
       ausgestiegen war, arbeitete als Justiz-Redakteur für die taz. Ich hatte ihn
       auch verteidigt, wegen eines Bankraubs in Kaiserslautern. Wenn es wieder
       mal eine Besetzung der Redaktion durch RAF-Unterstützer gab, wurde ich
       angerufen: „Christian, kannst du mal kommen und das klären?“ Meist wurde
       ein Kompromiss gefunden. Eine Erklärung veröffentlicht, gewöhnlich gekürzt
       oder in ganz kleiner Schrifttype.
       
       Auch die Pädophilen haben die taz besetzt. 
       
       Die waren noch unangenehmer und aggressiver als die RAF-Unterstützer. Dass
       ich mit denen geredet habe, das hängt mir heute noch nach. Die
       Indianerkommune war einen ganzen Tag in der taz. Ich habe mit einem
       blonden, vielleicht Vierzehnjährigen diskutiert, den habe ich heute noch
       vor Augen: „Und du willst mir keine Sexualität gönnen“, sagte der. „Du
       willst das nicht. Dann sag das laut.“ Die bekamen eine Seite. „Ihr seid
       doch unsere Zeitung“, sagte die Indianerkommune und auch andere Gruppen.
       „Ihr müsst das abdrucken.“ Es gab bitterböse Auseinandersetzungen.
       
       Anders als du hat die taz den Realo-Kurs der Grünen später unterstützt. 
       
       Ja. Ich habe darunter gelitten. Das hat mich sehr geärgert. Ich konnte die
       taz zeitweise nicht mehr lesen. Meine Verbündeten in der Fraktion sagten
       auch: „Greif doch mal bei der taz ein, rede mit denen.“ Aber die
       redaktionelle Unabhängigkeit der taz war für mich eine heilige Kuh. Ich
       habe keinen Einfluss genommen auf die Inhalte der taz. Wobei ich häufig zum
       Mainstream in der Redaktion quer lag.
       
       Wenn du dir die taz und ihre Macherinnen und Macher heute ansiehst, was
       denkst du? 
       
       Zwischen denen, die die taz gründeten, und denen, die heute für sie
       arbeiten, liegen Welten. Die Gründerinnen und Gründer waren nicht vom Fach,
       viele wollten auch gar keine Journalisten werden, sondern hatten die Idee,
       es müsse endlich mal – zum ersten Mal nach 1933 – eine unabhängige freie
       linke überregionale Tageszeitung geben. Um bei der taz angestellt zu
       werden, brauchte niemand ein Zeugnis aus einer Journalistenschule. Säzzer,
       die keine Lust mehr hatten, nur Säzzerbemerkungen in Artikel
       reinzuschreiben, konnten in die Redaktion wechseln. Leute, die in der
       Kantine anfingen, wurden sehr gute Redakteure. Es war sehr durchlässig.
       Heute kenne ich von denen, die für die taz arbeiten, kaum mehr jemanden.
       Sie erscheinen mir viel professioneller und scheinen das Arbeiten für die
       taz als Job zu begreifen, als relativ normalen Job bei einer etablierten
       Zeitung. Ein bisschen radikaler würde ich sie mir wünschen, habe ich
       gelegentlich gesagt.
       
       Zu einem stabilen Medienunternehmen wurde die taz 1991 durch die Gründung
       der Genossenschaft. Siehst du darin auch die wichtigste Zäsur in der
       Geschichte der taz? 
       
       Auf jeden Fall. Nach zwölf Jahren der Mangelökonomie wollte die Mehrheit
       der Redaktion 1990 die taz an einen großen Medienkonzern verkaufen, um
       endlich mal höhere Gehälter zu bekommen, um einen Verlag zu haben, der
       ihrer Meinung nach professioneller arbeitete, als dies in der taz üblich
       war. Bei diesem großen Schisma habe ich mich zum letzten Mal sehr intensiv
       bei der taz engagiert. Zusammen mit Johnny Eisenberg schrieb ich die
       Satzung der taz-Genossenschaft. Wer die mal genau durchliest, wird
       feststellen, dass jedem potenziellen Investor, der die taz kaufen will,
       sofort der Appetit vergeht. Wir bauten unzählige Hürden gegen eine
       Übernahme der taz durch einen großen Medienkonzern ein. Später haben einige
       der Redakteure, die die taz damals verkaufen wollten, zu Kalle oder mir
       gesagt: „Ihr habt mit der Gründung der Genossenschaft den richtigen Weg
       eingeschlagen. Wenn es uns damals gelungen wäre, die taz zu verkaufen, gäbe
       es sie heute wohl nicht mehr.“
       
       Ein Grund, warum die taz überlebt hat, war anfangs auch in keiner Weise zu
       erwarten gewesen: ihre hervorragenden Immobiliengeschäfte. 
       
       Als Kalle 1989 mit der Idee um die Ecke kam, in der Kochstraße ein
       landeseigenes Gebäude zu kaufen, damit die taz aus dem Wedding in das alte
       traditionelle Berliner Zeitungsviertel ziehen könnte, habe ich spontan
       gesagt: „Du spinnst doch, Kalle.“ Davon hat sich Kalle nicht beirren
       lassen, zum Glück. Sechs Wochen nach dem Unterschreiben des Kaufvertrags
       für die Kochstraße 18 fiel die Mauer und diese jetzt zentral gelegene
       Immobilie gewann um ein Mehrfaches an Wert. Da hatte die taz auch mal
       wirklich Glück. Es kam der angrenzende Neubau in der Kochstraße hinzu. Die
       Straße heißt mittlerweile Rudi-Dutschke-Straße, beide taz-Häuser sind heute
       schuldenfrei, und die taz arbeitet in einem [15][großen modernen Gebäude]
       in der Friedrichstaße. Kalle, der sich so gut wie nie in inhaltliche Fragen
       eingemischt hat, hat der taz zu einem Sicherheitspolster verholfen, um das
       andere Verlage die taz-Genossenschaft beneiden können.
       
       Du siehst also die Geschichte der taz und ihrer Gründung als
       Erfolgsgeschichte? 
       
       Auf jeden Fall. Insgesamt ist die taz ein ungeheurer Erfolg. Dass es sie
       nach wie vor gibt, ist in der Tat vergleichbar mit der Gründung und
       Entwicklung der Grünen, die ein, zwei Jahre später kamen als die taz. Dass
       eine kleine Gruppe von Leuten aus eigenem Engagement aus dem Nichts ein
       Projekt auf die Beine stellt und mit Mühen dafür sorgt, dass es überlebt
       und wächst, das ist wirklich ein Wunder. Das war nur möglich, weil alle der
       Überzeugung waren: Das muss jetzt gemacht werden. Nicht weil jemand einen
       Job suchte, sondern weil sie eine wichtige gesellschaftliche und politische
       Aufgabe übernehmen wollten.
       
       [16][Michael Sontheimer], 68, arbeitete bis 1984 bei der taz, dann bei der
       Zeit. Von 1992 bis 1994 war er taz-Chefredakteur, danach ging er zum
       Spiegel. Heute ist er freier Journalist und Mitglied im Kuratorium der taz
       Panter Stiftung.
       
       28 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Tunix-Kongress/!t5443985
   DIR [2] /Anti-Atom-Bewegung/!t5321376
   DIR [3] /Frauenbewegung/!t5036890
   DIR [4] /Schwulenbewegung/!t5010825
   DIR [5] /Die-Geschichte-der-Genossenschaft/!109446/
   DIR [6] /Hans-Christian-Stroebele/!t5009799
   DIR [7] /Nachruf-Fritz-Teufel/!5139502
   DIR [8] /Plutonia-Plarre/!a16/
   DIR [9] /Max-Thomas-Mehr/!a33391/
   DIR [10] /Personenfuehrung-71-Thomas-Hartmann/!160679/
   DIR [11] /40-Jahre-Tunix-Kongress-in-West-Berlin/!5477248
   DIR [12] /Vorstandsmitglied/!109440/
   DIR [13] /Waffen-fuer-El-Salvador/!1686383/
   DIR [14] /Rote-Armee-Fraktion-/-RAF/!t5012171
   DIR [15] /Die-taz-zieht-um-ins-neue-Haus/!5539549
   DIR [16] /Zu-Michael-Sontheimers-60-Geburtstag/!154812/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Sontheimer
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Gegenöffentlichkeit
   DIR 40 Jahre Deutscher Herbst
   DIR IG
   DIR 40 Jahre taz Berlin
   DIR Hans-Christian Ströbele
   DIR GNS
   DIR wochentaz
   DIR Kolumne Großraumdisco
   DIR Häftlinge
   DIR Schwerpunkt Christian Ströbele 
   DIR Grüne Berlin
   DIR Tunix-Kongress
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kritik an der taz: Wer ist mal links gestartet und heute bürgerlich?
       
       Auf einer Lesung in Hamburg über Medienkritik von links bekam die taz ihr
       Fett weg. Immerhin gab's Gummibärchen.
       
   DIR Theater mit Gefangenen: Ein Stück weit in die Welt kommen
       
       In Berlin macht das Projekt „aufBruch“ mit Häftlingen Theater. Was bedeutet
       es den Gefangenen? Was motiviert sie? In der JVA Tegel spielen sie Brechts
       „Arturo Ui“.
       
   DIR Christian Ströbeles politische Karriere: Ein liberaler Radikaler
       
       Christian Ströbele war ein linker Bürger. Er bewegte sich im Spannungsfeld
       zwischen den Polen linksegalitärer Ideale und bürgerlichem Individualismus.
       
   DIR Christian Ströbele ist tot: Niemals Wischiwaschi
       
       Für Christian Ströbele war alles politisch; Persönliches zu entlocken
       gelang kaum. Eine Erinnerung einer tazlerin, die ihn 40 Jahre begleitet
       hat.
       
   DIR 40 Jahre Tunix-Kongress in West-Berlin: Komm mit, sprach der Esel
       
       Spontis, Freaks, Theoriestars – der Tunix-Kongress war das
       Erweckungserlebnis der Alternativen in der Bundesrepublik.