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       # taz.de -- Sozialdemokraten in NRW: Sehnsucht nach dem Vereinsheim
       
       > Der größte SPD-Landesverband steckt in seiner größten Krise. In NRW
       > bemüht man sich um Erneuerung – und schwelgt in Erinnerungen.
       
   IMG Bild: Happy End in NRW? SPD-Bundesvorsitzender Klingbeil mit der neuen Doppelspitze
       
       Münster taz | Lars [1][Klingbeil ist erleichtert]. „Das tut gut“, sagt der
       SPD-Bundeschef auf dem Parteitag der NRW-Sozialdemokraten am Samstag in
       Münster. Gerade hat der größte Landesverband seiner Partei [2][zwei neue
       Vorsitzende gewählt] – nach fünf Monaten Provisorium: Sarah Philipp aus
       Duisburg und den Ostwestfalen Achim Post. Die Zustimmung ist hoch: Philipp
       erhält 87,5 Prozent, Post 92 Prozent. Zum ersten Mal hat die SPD im größten
       Bundesland eine Doppelspitze.
       
       Es ist die größte Neuerung, die die SPD-Landesführung ihren Genoss:innen
       zugemutet hat. Ihre neuen Vorsitzenden verkörpern die alte, große Erzählung
       der SPD: Aufstieg durch Bildung, Sicherung des Sozialstaats, gute Arbeit,
       gesellschaftlicher Zusammenhalt.
       
       Sarah Philipp ist 40 Jahre alt und Landtagsabgeordnete. Ihre Familie hatte
       eine Lottoannahmestelle, sie ging aufs Gymnasium und als erstes
       Familienmitglied an die Uni. „Man sollte im Leben nicht erwarten, dass
       alles einfacher ist“, sagt sie in Münster. Damit meint sie auch den
       „Wiederaufstieg“ ihrer Partei nach zwei verlorenen Landtagswahlen. Und als
       Zeichen der Verbundenheit mit „den Menschen im Land“ begrüßt sie sechs
       Gäste: drei Betriebsräte, eine Pflegerin, eine Grundschullehrerin und eine
       Schülerin, die sich bei Fridays for Future engagiert. „Für sie lohnt es
       sich zu kämpfen“, sagt Philipp: „Wer soll das machen, wenn nicht wir?“
       Applaus von den 459 Genoss:innen in der Halle.
       
       ## Für wen machen wir Politik?
       
       Achim Post, 64 Jahre alt und Bundestagsabgeordneter für Minden/Lübbecke,
       wirkt routinierter. Er ist Mitglied im wirtschaftsfreundlichen Seeheimer
       Kreis, gilt aber als Vermittler zwischen den Parteiflügeln. Auf der Bühne
       kommt der erfahrene Haushaltspolitiker in ihm nach vorne. Etwas
       technokratisch spricht Post über die „Einnahmeseite“ der Staatsfinanzen und
       fordert mehr Geld für Gesundheit. Aber zum Schluss trifft der Ostwestfale
       doch noch ins Herz seiner Partei: „Für wen machen wir Politik?“, fragt er,
       „für die Millionen oder die Millionäre? Ich bin für die Millionen, Glück
       auf!“ Standing Ovations.
       
       Die Genoss:innen zwischen Rhein und Weser brauchen warme Worte. Der
       größte SPD-Landesverband in Deutschland steckt in seiner größten Krise. 40
       Jahre hat er Nordrhein-Westfalen geprägt, jetzt ist er zum ersten Mal seit
       1966 länger als eine Legislaturperiode nicht an der Landesregierung
       beteiligt. 2022 ging die Landtagswahl gegen die CDU mit 26,7 Prozent der
       Stimmen verloren – [3][das schlechteste Ergebnis aller Zeiten]. Die NRW-SPD
       stellt das vor Probleme, die den meisten Genoss:innen an Rhein und Ruhr
       bislang fremd waren – finanzielle und personelle. Im März trat überraschend
       Landes- und Fraktionschef Thomas Kutschaty zurück, die NRW-SPD musste sich
       neu aufstellen.
       
       „Die Wahl zum Fraktionsvorsitzenden kam durchaus überraschend für mich“,
       sagt Jochen Ott, Landtagsabgeordneter aus Köln. Eigentlich hatte der
       49-Jährige schon überlegt, seine politische Karriere mit Ende der aktuellen
       Legislaturperiode 2027 zu beenden. Im Mai hat er sich dann gegen Sarah
       Philipp bei der Wahl zum Fraktionschef durchgesetzt und ist seitdem das
       Gesicht der SPD-Opposition im Düsseldorfer Landtag.
       
       „Ich glaube, dass Jochen Ott die schwarz-grüne Landesregierung gut
       konfrontieren kann“, sagt Wiebke Esdar, Vorsitzende der
       NRW-SPD-Landesgruppe im Bundestag, über ihren Parteigenossen. Anders als
       Philipp teilt Ott gerne aus. Auf Social Media streitet er sich mit
       Journalist:innen, seine Gegner kriegen deftige Sprüche ab.
       NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst sei „das teuerste Autobahnschild NRWs
       aller Zeiten“, sagt er auf dem SPD-Parteitag in Münster, die schwarz-grüne
       Landesregierung die „unfähigste aller Zeiten“.
       
       ## Hoffnungsträger Jochen Ott
       
       Im Politik-Alltag ist er damit erfolgreich. Als Chef der Kölner SPD
       verhindete Ott die Privatisierung der stadteigenen Wohnungsbaugesellschaft
       und setzte den Kauf und die Sanierung von 1200 maroden Wohnungen im
       sozialen Brennpunkt Köln-Chorweiler durch. Wie Sarah Philipp präsentiert
       sich auch Jochen Ott als klassischer Sozialdemokrat – direkt und
       authentisch.
       
       Nur bei Wahlen zahlt sich das für ihn nicht aus. 2015 verlor Ott erst
       seinen Sitz im Kölner Stadtrat, dann die Wahl zum Oberbürgermeister. Auch
       bei den letzten zwei Landtagswahlen konnte er seine Wahlkreise nicht
       gewinnen. Wo sieht er sich bei der Landtagswahl 2027? „Wer jetzt in Partei
       und Fraktion Verantwortung übernimmt, sollte sich auch weitere Ämter
       zutrauen“, sagt er. Fraktionschef und Parteivorsitzende seien „mögliche
       Player“. Und spricht dann über „die vielen OBs und Bundespolitiker:innen“,
       die 2025 bei der NRW-Kommunalwahl und der Bundestagswahl antreten. Das
       klingt diplomatisch, bloß kein neuer Streit um Personen und Posten.
       
       „Wir müssen die Leute wieder mit Ideen überzeugen“, sagt Wiebke Esdar.
       Dabei helfen soll ein Papier über das Grundsätzliche: „Die neue SPD im
       Westen“. Als Zielgruppe macht die NRW-SPD darin eine „arbeitende Mitte“
       aus, deren Themen am „Abendbrottisch“ die Partei bedienen will. „Im
       Mittelpunkt steht die Sicherheit – die äußere, die innere und vor allem die
       soziale“, sagt Wiebke Esdar.
       
       Die Menschen seien „krisenmüde“ heißt es auf dem Parteitag in Münster
       öfter. Vielleicht erinnert die „neue SPD im Westen“ deshalb auch stark an
       die alte: NRW bleibt Industrieland; die Klimawende muss kommen, aber sozial
       sein. Schulen und Infrastruktur müssen erneuert werden. Ein großer Wurf ist
       das nicht, eher eine Selbstvergewisserung.
       
       ## Doppelspitze soll Konflikte moderieren
       
       Im Gespräch äußern sich fast alle positiv über das Papier – selbst die
       notorisch kritischen Jusos. „Die Sozialdemokratie wird gebraucht“, sagt
       Nina Gaedike, Vorsitzende der NRW-Jusos. [4][Die letzte Landtagswahl sei
       vor allem wegen der fehlenden Unterscheidbarkeit zur CDU verloren
       gegangen], das Papier habe viele Impulse der Jusos aufgenommen.
       
       Gaedike studiert Sozialwissenschaften und Geschichte auf Lehramt, aber oft
       spricht sie wie eine Wahlkampfmanagerin, redet von „Kampagnenfähigkeit“ und
       „Zielgruppen“. „Ein Drittel der jungen Wähler:innen in NRW hat einen
       Migrationshintergrund. Die Politik lässt sie außen vor“, sagt sie.
       SPD-Fraktionschef Jochen Ott benutzt gerne „Identitätspolitik“ als Chiffre
       für individualisierte, unsolidarische Politikformen. „Dabei steckt in der
       Identitätspolitik doch ein materialistischer Kern“, sagt Gaedike und
       verweist auf die hohen Armutsquoten von Frauen, Migrantisierten und Queers.
       Wenn Genoss:innen am Abendbrottisch sitzen, sind die Themen halt etwas
       komplizierter.
       
       Der neue Landesvorstand muss solche Konflikte moderieren. „Wir müssen mehr
       und besser zusammenarbeiten“, sagt Sarah Philipp im Gespräch mit der taz.
       Auf dem Parteitag in Münster wird dafür das Bild der SPD als „Vereinsheim“
       bemüht, wo sich Gender-Dozent:innen und Facharbeiter begegnen. Nur, dass es
       in der Partei von beiden mittlerweile weniger gibt. Als sie 2012 zum
       letzten Mal die Landtagswahl gewann, hatte die SPD in NRW noch etwa 122.000
       Mitglieder. Aktuell sind es 89.000, in Umfragen liegt sie bei 20 Prozent
       der Stimmen. So gerne die neue NRW-SPD auch wieder die alte wäre: Dass es
       so kommt, ist unwahrscheinlich.
       
       27 Aug 2023
       
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   DIR Christian Werthschulte
       
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