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       # taz.de -- Glanz und Krawall in Karlshorst: Tödliches Rennen
       
       > In der glanz&krawall-Version von Alban Bergs „Wozzeck“ ging es um die
       > Wohnungskrise. Das Motto „Berlin is not Berlin“ war bitterernst gemeint.
       
   IMG Bild: Lisa Heinrici verkörpert die Marie
       
       Es riecht ganz leicht nach Pferdeäpfeln auf der Trabrennbahn in Karlshorst.
       Über den Sand aber zieht sich eine lange Reifenspur. Übrig geblieben vom
       „Showdown Karlshorst: Wer schneller rennt, ist früher tot“. Tot sind zu dem
       Zeitpunkt Immobilienhai Lanz, Metzger Hauptmann und der junge
       Salonkommunist Andres K.. Niedergestreckt und mit einem Brandmal markiert
       von einem pinkfarbenen Pferdeungeheuer. Wozzeck und seine Freundin Marie
       Feierabend haben (erst mal) überlebt, weil sie sich aus dem Wettrennen um
       eine Karlshorster Mietwohnung herausgezogen haben.
       
       Brecht hätte seine Freude am Spektakel gehabt, vor allem an der
       Stadionsprecherin, die die Methoden des Kapitalismus im Spiegel der
       Pferdewette seziert – und den Kollektivmord erfahrungsgesättigt
       kommentiert: „Du schlägst einen Kapitalistenkopf ab, und es wachsen zehn
       neue nach.“
       
       [1][Glanz&krawall] hat eingeladen zu „Berlin is not Berlin“ in die
       Trabrennbahn Karlshorst. Berlin verliere sich selbst, so das Fazit des
       KünstlerInnenkollektivs, weil es Orte verliert wie ebendiese Trabrennbahn.
       Nach den humorgetränkten Selbstbehauptungsmottos „Berlin is not Bayreuth“
       und „Berlin is not Bregenz“ ist das diesjährige Motto bitterernst gemeint.
       Die Stadt verliert ihr Gesicht, ist gleichzeitig nicht mehr bezahlbar.
       Glanz&krawall bringen genau das auf den Punkt mit ihrer Orts- und
       Werkauswahl. Die Dekonstruktion von [2][Richard Wagner] hat sich hier
       erledigt, es ist Zeit für Büchners „Woyzeck“ aus dem Jahr 1836 und
       [3][Bergs Oper „Wozzeck“], erstmals aufgeführt 1925.
       
       Dramaturg Dennis Depta und Regisseurin Mariella Sterra schauen sich die
       Figuren an und schälen aus den Prototypen von damals Prototypen von heute.
       Wozzeck, die prekäre Existenz, wirbt für sich auf der Rennbahn-Anzeigetafel
       mit einem Werbeclip als Lieferservice, Reinigungskraft und fünf weitere
       Tätigkeiten im Niedrigstlohnsektor. Wozzeck wuselt schon die ganze Zeit im
       Arbeitsanzug zwischen den Zuschauerrängen umher, sammelt Müll ein. Dabei
       beginnt es langsam zu dämmern, über die Weite der Rennbahn zieht ein
       Vogelschwarm hinweg.
       
       Es ist immer was los vor den Rängen, da steht ein alter Campinganhänger als
       Wettbüro, die Rennteilnehmer setzen sich in Szene. Dann aber, es ist schon
       dunkel, laufen sie auf die Weite der Rennbahn, so weit weg, dass sie wirken
       wie Spielzeugfiguren. Der Blick schweift zwischen Rennbahn und dem Close-up
       auf der Anzeigetafel. Da laufen sie. Und liegen auf einmal da auf der Bahn.
       
       Singend tastender Krebsgang 
       
       Ein unvergesslich langer, berührender Moment der Entschleunigung tritt ein:
       Vorsichtig und unendlich langsam tupfen die liegenden WettbewerberInnen
       „Mensch“ in den dunklen Himmel. Es ist, als wäre die Inszenierung in einen
       Zeitlupenmodus gefahren worden. Grönemeyers Sound ist noch zu erkennen, und
       doch hört man das Lied neu. Der singend tastende Krebsgang raus aus der
       Rennbahn und dem Wettbewerb bewegt und ist visuell ein Bild, das bleibt.
       
       Glanz&krawall bespielt das Rennbahngelände nicht allein, Depta und Sterra
       laden immer neue FreundInnen ein. Diesmal das Straßentheater Rumpel Pumpel,
       das Kollektiv Lauratibor aus Kreuzberg, das Babylon Orchestra und Ramba
       Zambas Band „21 Downbeat“.
       
       Man braucht zwei Abende, um alles sehen zu können, rennt mit einem
       kopierten handgeschriebenen Zeit-/Ort-Zettel zwischen Rennbahn, Wetthalle
       und Biergarten hin und her, konsumiert Bier, Pizza, Kultur. Musikalisch
       umwerfend ist „Wozzeck. Alles Schall und Rauch“ vom Babylon Orchestra.
       Alban Berg wird umarmt von Weltmusik. Die Wetthalle – mit einer sehr guten
       Akkustik! – ist eigentlich das ideale Bühnenbild für „Wozzeck“, denkt man,
       wenn Stelina Apostolopoulou im scharlachroten Kleid Marie verkörpert.
       
       Mischa Tangian passte Alban Bergs Kompositionen auf ein viel kleineres
       Orchestervolumen an und baute neue Instrumente mit ein. Das ergibt einen
       Klang, der das Original zitiert und Bergs Kompositionen neue Facetten
       hinzufügt. Apostolopoulou erobert sich mit Leichtigkeit die Opernklaviatur
       des Schönberg-Schülers. Sie reist mit Tangians Arrangements in dieser
       knappen Stunde zwischen Stilen, Sprachen und Ländern umher, bleibt aber
       immer Marie. Das schwerelos aufspielende Orchester trägt sie durch die
       Wetthalle.
       
       Auf der Zuschauertribüne spielt wenig später „21 Downbeat“ und zeigt, dass
       Büchners Sprache einen peitschenden Elektrosound sehr gut verträgt.
       Ferdinand Dambecks Sprechgesang löst Gänsehaut aus. Auf den Rängen tanzt
       das Publikum den Wozzeck-Rave. Und die Rennbahn davor liegt im Dunkeln.
       
       29 Aug 2023
       
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