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       # taz.de -- Militarismus an russischen Schulen: Neues Schulfach Handgranatenwurf
       
       > Zum neuen Schuljahr führt Russland ein Geschichtsbuch ein, das den Westen
       > verdammt. Auch auf dem Lehrplan: militärische Ausbildung der
       > Schüler*innen.
       
   IMG Bild: Kinder und Jugendliche trainieren in einem Militärcamp auf der von Russland besetzten Krim
       
       Die Handgranate F-1 wurde von den Sowjets im Zweiten Weltkrieg entwickelt,
       eine gelb-grüne Stahlhülle mit Kerben, die an die 600 Gramm wiegt und 60
       Gramm Sprengladung TNT enthält. „Kleine Zitrone“ nennen sie die Russen bis
       heute, „Limonka“. Eine Zitrone, die Leben zerstört.
       
       Solche und andere Granaten sowjetischer Entwicklung liegen nun für
       russische Schüler*innen bereit. Sie sollen nicht nur die Bauart kennen,
       sondern damit auch praktisch umzugehen lernen, ebenso mit
       Kleinkaliberwaffen und Luftgewehren. Mit echten Patronen. Nur so lernten
       die Jugendlichen Disziplin und Patriotismus und würden in der „Ästhetik der
       militärischen Kultur“ erzogen, sagen russische Offizielle. Der Militarismus
       im Land wird immer stärker und ungehemmter systematisiert.
       
       Das Fach „Militärische Grundausbildung“ gab es bereits – mit einer
       fünfjährigen Unterbrechung – zu Sowjetzeiten. 1991 wurde es abgeschafft. Ab
       1. September, wenn in Russland, wie auch in vielen anderen postsowjetischen
       Ländern, das neue Schuljahr beginnt, ist dieser Unterricht an staatlichen
       Schulen wieder Pflicht. Warum? Weil die USA die russische Staatlichkeit
       zerstören wollten, so heißt es im russischen Aufklärungsministerium, wie
       das Bildungsministerium in Russland genannt wird. Die Jugend solle lernen,
       stolz auf das eigene Land zu sein, und es als Pflicht empfinden, dieses zu
       verteidigen.
       
       ## „Stets bereit zum Dienst am Staat“
       
       Ohne die „Militärische Grundausbildung“, so behauptet mancher russische
       Abgeordneter, könne ein Junge nicht zu einem Mann werden und so auch keine
       Stütze der Familie sein. Lehrer*innen und Offiziere sollen ihren
       Schüler*innen ein „erhebendes Gefühl der Treue zum eigenen Vaterland“
       einimpfen, damit diese „stets bereit zum Dienst am Staat“ seien.
       
       Der Kreml sieht sich von allen Seiten bedroht und missbraucht mit allerlei
       Programmen auch die Kleinsten im Kindergarten für sein Narrativ, dass
       Russlands Feinde die blühende Entwicklung Russlands stoppen und das Land in
       Stücke zerfallen sehen wollten. Selbst Dreijährige marschieren und
       besingen ihre „großartige Heimat“.
       
       Die „Militärische Grundausbildung“ ist Teil des Schulfaches „Grundlagen der
       Lebenssicherheit“. Für Schüler ab der zehnten Klasse findet sie zweimal in
       der Woche statt, zudem gibt es durchgetaktete Versammlungen in Kasernen für
       die praktischen Übungen. Auch [1][Soldaten, die im Krieg gegen die Ukraine
       kämpfen], sollen dabei als „Dozenten“ auftreten. Zudem überlässt es das
       Ministerium einzelnen Schulen, das Fach bereits ab Klasse fünf einzuführen,
       also bereits für Zehn- bis Elfjährige.
       
       Einen Aufschrei gibt es weder bei Lehrer*innen noch bei Eltern. Viele im
       Land fügen sich der Indoktrination, auch wenn es um ihre Kinder geht. Auch
       außerhalb der Schulen finden militärische Übungen statt – so zum Beispiel
       in vielen Sommercamps während der drei Monate langen Sommerferien.
       Verpflichtet wird niemand dazu, im Gegensatz zum neuen Militärunterricht an
       den Schulen.
       
       ## Grundlagen des Schießens auf dem Lehrplan
       
       Die Schüler*innen – ab 15 Jahren aufwärts – sollen dabei den Umgang mit
       Waffen und den Einsatz von Gasmasken und Atemschutzgeräten lernen. Auf dem
       Programm stehen das Auseinandernehmen und das Zusammensetzen von Gewehren.
       Grundlagen des Schießens gehören ebenso dazu wie das Werfen mit Granaten.
       Auch die genaue Bauart von Drohnen und der Umgang mit ihnen sollen geübt
       werden. Die Schüler*innen lernen, auf dem Schulhof zu marschieren, zu
       salutieren, bei Exkursionen auch Schützengräben auszuheben.
       
       Vor allem die Mädchen sollen als Ersthelferinnen ausgebildet werden. Die
       Schulen bekommen Handbücher, in denen genau aufgelistet wird, wie der
       Unterricht und vor allem die Ausflüge in die Militäreinheiten zu gestalten
       sind, samt Uhrzeitangaben. Militarisiert werde die Schule dabei keineswegs,
       heißt es im Ministerium. Den Kindern werde lediglich beigebracht, wer Chef
       und wer Untergebener sei. Befehl sei eben Befehl, „Diskussion unnötig“,
       steht im Programm.
       
       Unnötig scheint den Offiziellen auch die Diskussion über ein neues,
       einheitliches Geschichtsbuch zu sein. Das gibt es zunächst einmal für
       Elftklässler, ab dem Schuljahr 2024/2025 dann auch für alle ab der fünften
       Klasse. Den Lehrer*innen an staatlichen Schulen wird damit eine freie
       Auswahl des Unterrichtsmaterials im Fach Geschichte untersagt. Das Buch,
       offenbar in nur sechs Monaten unter der Aufsicht des früheren
       Kulturministers Wladimir Medinski geschrieben, ist ein Pamphlet, das
       allerlei Schlüsselerzählungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin
       wiedergibt.
       
       Es preist die Sowjetunion, rehabilitiert den Diktator Stalin und beschreibt
       Putins „militärische Spezialoperation“, wie der Krieg gegen die Ukraine in
       Russland offiziell genannt wird, als notwendig. Auf der Titelseite findet
       sich die [2][Abbildung der Krim-Brücke], Russlands von der Ukraine nun
       immer wieder beschossenen Prestigeobjekts, und einer Rakete. Das seien
       Symbole russischer Siege, sagen russische Kommentatoren. Auf 447 Seiten
       beschreiben Medinski und sein Koautor Anatoli Torkunow, der Rektor der
       Moskauer Diplomaten-Kaderschmiede MGIMO, Russlands Geschichte von 1945 bis
       heute als Geschichte des Heldentums.
       
       Das Wichtigste dabei: Russland sei „wiedergeboren“ worden, werde aber von
       Neidern aus dem Westen und inneren Verrätern von weiterer Entwicklung
       abgehalten. Die Autoren sprechen die Schüler*innen direkt an, schreiben
       immer wieder, wie viel Verantwortung auf ihnen liege, die „heroische
       Geschichte des russischen Staates“ weiterhin zu bewahren. Sie müssten sich
       gegen die „Geschichtsperversion“, die die USA betrieben, wehren.
       
       ## Schwere Folgen des Gulags bleiben unerwähnt
       
       Bereits in der Sowjetunion hätten die „Feinde im Ausland“ das „positive
       Bild unseres Landes“ zu zerstören versucht, steht im Buch. Dazu hätten sie
       auch die „Entthronung“ der Gestalt Stalins benutzt. Medinski und Torkunow
       dagegen wollen, dass Stalin „objektiv“ wahrgenommen werde. Er sei zwar
       „hart“ gewesen, hätte aber für die Entwicklung des Landes und den Sieg über
       den Faschismus gesorgt. Es sind typische Ansichten von Verklärer*innen
       der Sowjetunion. Welche Auswirkungen der Gulag – dieses menschenzerstörende
       Spinnennetz an Zwangsarbeitslagern samt massenhafter Erschießungen – quer
       durch die Sowjetunion hatte und bis heute hat, wird im Geschichtsbuch mit
       keinem Wort erwähnt.
       
       Die Sowjetunion wird als Erfolgsgeschichte beschrieben, die nur deshalb
       nicht habe ihr Potenzial entfalten können, weil die „Feinde aus dem Westen“
       es stets gehindert hätten. Die 1990er Jahre werden als ein Haufen von
       Problemen dargestellt, Gorbatschow als einer, der nichts von der Führung
       eines Landes verstand. Es sei Putin gewesen, der Russland schließlich
       stabilisiert habe. Im Buch sind Ausschnitte aus etlichen Reden Stalins wie
       aus den Reden Putins abgedruckt.
       
       Die „Feinde im Westen“ kämpften weiter gegen Russland, wollen Medinski und
       Torkunow Schüler*innen einbläuen. Im Kapitel 37 wird auf 30 Seiten
       Russlands offizielle Sicht auf seine „militärische Spezialoperation“
       ausgebreitet. SWO heißt diese im Russischen abgekürzt. Die Ukraine sei ein
       ultranationalistischer Staat, heißt es dort rot auf weiß. Von den 1990ern
       an seien mehrere Generationen von Ukrainern in Feindschaft gegen Russland
       zu neonazistischen Ideen erzogen worden, behaupten die Autoren. Die USA
       seien nun bereit, bis zum letzten Ukrainer gegen Russland zu kämpfen, das
       sei ihr Businessmodell. Russland aber sei ein „wahrhaftiges Land der
       Möglichkeiten“.
       
       Es sind Sätze, wie sie jeden Tag auch in [3][Russlands staatlichen Medien]
       zu hören sind. Sätze, die von Millionen von Russ*innen wiederholt werden
       und so nach und nach auch in die Köpfe ihrer Kinder einsickern, die solche
       Einstellungen – mangels der Vermittlung kritischen Denkens – kaum
       hinterfragen können. Sie dürfen es auch nicht. Die einzige Lösung einiger
       Eltern: Sie nehmen ihre Kinder von der Schule. In Russland, das (noch)
       erstaunlich freie Bildungsgesetze hat, ist Hausunterricht und Freilernen
       erlaubt. Aktuell bleiben so rund 100.000 Schüler*innen dem staatlichen
       Unterricht fern, Tendenz steigend. Der Rest muss ab 1. September zum Appell
       antreten.
       
       30 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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