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       # taz.de -- Politische Partizipation in Deutschland: Nur Tamtam um die Bürgerräte?
       
       > Ob die Empfehlungen der Bürger:innen tatsächlich umgesetzt wurden,
       > wollte die Linke von der Regierung wissen. Deren Antwort bleibt luftig.
       
   IMG Bild: Mitte Juli loste Bundestagspräsidentin Bas die Mitglieder der Bürgerrates „Ernährung im Wandel“ aus
       
       Berlin taz | Manchen gelten sie als der letzte Schrei politischer
       Partizipation: Bürgerräte. Sie seien „ein Format, das Teilhabe ermöglicht“,
       schwärmte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) bei der konstituierenden
       Sitzung des Bundestags im Oktober 2021. In ihrem Koalitionsvertrag haben
       SPD, Grüne und FDP vereinbart, sie als „neue Formen des Bürgerdialogs“
       durch den Bundestag einsetzen und organisieren zu lassen. Es gehe darum,
       die Entscheidungsfindung zu verbessern. Doch dienen sie tatsächlich dazu?
       
       Daran scheinen Zweifel angebracht, wie die Antwort der Bundesregierung auf
       eine schriftliche Anfrage der Linksfraktion zeigt, die der taz vorliegt.
       Denn auch wenn der erste vom Bundestag eingesetzte [1][Bürgerrat „Ernährung
       im Wandel“] erst Ende September seine Arbeit aufnehmen soll, gibt es
       bereits Vorläufer – also auch schon Ergebnisse.
       
       Von 2019 an startete der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble
       (CDU) mehrere entsprechende Modellprojekte.
       
       Nun wollte die Linksfraktion wissen, in welcher Form und in jeweils welchem
       Umfang deren Ergebnisse und Handlungsempfehlungen aufgegriffen und in
       konkrete politische Maßnahmen und Gesetzgebungsprozesse überführt worden
       sind – und zwar „jeweils nach Bürgerrat, politischen Maßnahmen und
       Gesetzesinitiativen“ aufgelistet. Eine sehr spannende Frage, doch die
       Antwort der Regierung darauf bleibt ausweichend und schwammig. Aus gutem
       Grund.
       
       ## Monate der Diskussion
       
       Organisiert vom [2][Verein „Mehr Demokratie“] gab es seit 2019 Bürgerräte
       unter anderem zu den Themen „Bildung und Lernen“, „Künstliche Intelligenz“,
       „Demokratie“ unter Vorsitz des früheren bayerischen Ministerpräsidenten
       Günther Beckstein (CSU) und „Deutschlands Rolle in der Welt“, geleitet von
       der einstigen DDR-Bürgerrechtlerin und Grünenpolitikerin Marianne Birthler.
       
       Der [3][Bürgerrat zum Thema „Klima“] stand unter der Schirmherrschaft des
       Ex-Bundespräsidenten Horst Köhler und fand unter den gleichen Bedingungen
       statt, wie sie auch für den im Juli eingesetzten Bürgerrat „Ernährung im
       Wandel“ gelten. So wurden auch hierfür in einem gestaffelten Losverfahren
       letztlich 160 Teilnehmer:innen bestimmt, die über mehrere Monate
       miteinander diskutierten. Im Herbst 2021 präsentierten sie ihr knapp 100
       Seiten starkes „Bürgergutachten“.
       
       Eine Auskunft darüber, ob etwas von den dortigen Empfehlungen umgesetzt
       worden ist oder werden soll, bleibt die Ampelregierung in ihrer Antwort auf
       die Linken-Frage schuldig. Stattdessen antwortete Ekin Deligöz, grüne
       Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie,
       Senioren, Frauen und Jugend, nur allgemein wie nichtssagend: „In
       Gesetzesvorhaben der Bundesregierung fließt stets die Gesamtheit aller
       verfügbaren Informationen und Kenntnisse ein. Dazu gehören u. a. auch
       Erkenntnisse der Bürgerräte. Der Bundesregierung liegen vor diesem
       Hintergrund keine spezifischen Informationen oder spezielle Auswertungen im
       Sinne der Fragestellung vor.“
       
       ## Linksfraktion enttäuscht von der Regierungsantwort
       
       Die Linksfraktion zeigt sich enttäuscht über die spärliche Antwort. „Es ist
       bedauerlich, dass die Bundesregierung nicht ein konkretes Ergebnis eines
       Bürgerrats benennen kann, das in die Gesetzgebung eingeflossen ist“, sagte
       der [4][parlamentarische Geschäftsführer Jan Korte] der taz. Das spreche
       „nicht dafür, dass man das Instrument und die sich daran beteiligende
       Bevölkerung ernst nimmt, sondern vermittelt eher den Eindruck, dass man 160
       Leute mit viel Tamtam für den Papierkorb arbeiten lässt.“
       
       Für diese Einschätzung spricht ein Blick auf die Handlungsempfehlungen, die
       die verschiedenen Bürgerräte erarbeitet haben. So kritisiert der
       [5][Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“] in seinem im März 2021 an
       Bundestagspräsident Schäuble übergebenen Gutachten die europäische
       Flüchtlingspolitik scharf: Es sei „empörend, dass die EU gegen die
       universellen Menschenrechte und ihre eigene Gesetzgebung verstößt“.
       
       Grundsätzlich wird empfohlen, „dass sich Deutschland für eine Koalition der
       Willigen einsetzt, das heißt gemeinsam mit anderen EU-Staaten vorangeht,
       wenn keine anderen Lösungen in der EU-Migrationspolitik zu erreichen sind“.
       
       Zentrales Ergebnis des Bürgerrates „Demokratie“, der im November 2019 sein
       Gutachten veröffentlichte, ist das eindeutige Votum für bundesweite
       Volksentscheide. Der [6][Bürgerrat „Bildung und Lernen“] plädiert in seinen
       im Dezember 2021 vorgelegten Gutachten unter anderem dafür, dass Kinder und
       Jugendliche „künftig in der Regel wie in anderen Ländern bis zur
       Jahrgangsstufe 10 gemeinsam lernen können“. Und zu den im Sommer 2021
       fertiggestellten Handlungsaufforderungen des [7][Bürgerrats „Klima“]
       gehörte ein sofortiges generelles Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen,
       von 80 km/h auf Landstraßen und 30 km/h in Innenstädten.
       
       Nichts von alledem hat bislang Eingang in die Politik der rot-grün-gelben
       Bundesregierung gefunden. Und es ist auch nicht zu erwarten, dass sich das
       noch ändert. Beispiel Tempolimit: Bei den Koalitionsverhandlungen
       interessierten weder die Wahlprogramme von SPD und Grünen noch das Ergebnis
       des Bürgerrats – entscheidend war ausschließlich der Raserwahn der FDP, die
       generelle Tempolimits verteufelt. Genau das zeigt jedoch die große Schwäche
       der Bürgerräte: Fehlt es an Verbindlichkeiten im Umgang mit den
       Bürgerguachten, werden deren Vorschläge schnell Opfer politischer
       Opportunitäten.
       
       Jan Korte hofft, dass es bei dem gerade mit Unterstützung der Linksfraktion
       eingesetzten [8][Bürgerrat „Ernährung im Wandel“] nicht so sein wird. „Wir
       werden nicht akzeptieren, dass die Ergebnisse ein paar Abgeordneten im
       Ausschuss präsentiert werden und dann in der Schublade verschwinden“, sagte
       der Linken-Abgeordnete. „Wir wollen, dass der Bundestag konkret zu den
       Vorschlägen Stellung bezieht, wie es zum Beispiel in Belgien gemacht wird.“
       Es müsse „eine Abstimmung im Parlament geben, welche Vorschläge umgesetzt
       werden und welche nicht“.
       
       10 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Erster-Buergerrat-fuer-Ernaehrung/!5930398
   DIR [2] https://www.mehr-demokratie.de/
   DIR [3] https://buergerrat-klima.de/
   DIR [4] /Korte-zum-Niedergang-der-Linkspartei/!5929567
   DIR [5] https://deutschlands-rolle.buergerrat.de/
   DIR [6] https://www.buergerrat-bildung-lernen.de/
   DIR [7] /Buergerraete-mischen-sich-ein/!5812973
   DIR [8] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw29-buergerrat-lotterie-958134
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pascal Beucker
       
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