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       # taz.de -- Wohnungsnot in Berlin: Schlechtes Tauschgeschäft
       
       > Die einen haben zu viel Platz, andere zu wenig: Per Wohnungstausch könnte
       > Wohnraum gerecht verteilt werden. Doch der Wechsel gelingt nur selten.
       
   IMG Bild: Viele Vermieter wollen am Wohnungstausch verdienen
       
       Berlin taz | Die Wohnung, die Jürgen Klimmeck auf dem Onlineportal
       Kleinanzeigen anbietet, ist der Traum vieler Wohnungssuchender in Berlin:
       Dreieinhalb Zimmer, 105 Quadratmeter, gute Lage innerhalb des S-Bahn-Rings,
       und das alles für 900 Euro kalt im Monat. Seit sein Vater in ein Pflegeheim
       in Weißensee gezogen ist, möchte Klimmeck die Wohnung, in der nur noch
       seine 84-jährige Mutter lebt, gegen eine kleinere in der Nähe des
       Pflegeheims tauschen. Doch auch nach Monaten blieb die Suche vergeblich.
       
       Wie Klimmeck hoffen immer mehr Menschen mit einem [1][Wohnungstausch] die
       Tücken des Berliner Wohnungsmarktes umgehen zu können – doch nur selten
       gelingt der Wechsel. Gründe, in eine kleinere Wohnung zu ziehen, gibt es
       viele. Etwa wenn Menschen nach dem Auszug ihrer Kinder ihre Wohnung zu groß
       geworden ist oder wenn sich Partner:innen oder eine WG trennen.
       
       Doch Klimmeck machte schnell die Erfahrung, dass es auf dem freien Markt
       kaum attraktive Angebote für seine Mutter gibt: „Die Preise waren
       mindestens genauso hoch wie bei der alten Wohnung. Und das bei halber
       Größe.“
       
       Der hohe Unterschied zwischen Angebots- und Bestandsmieten führt dazu, dass
       viele Menschen lieber in ihrer unpassenden, aber wenigstens noch
       bezahlbaren Wohnung bleiben, als die [2][horrenden Quadratmeterpreise]
       eines neuen Mietvertrags zu bezahlen. Als Folge des als „Lock-in-Effekt“
       bekannten Phänomens bleiben Tausende Quadratmeter wertvoller Wohnraum
       ungenutzt, während junge Familien in beengten Verhältnissen keine größere
       Wohnung finden.
       
       ## Auf guten Willen der Vermieter:innen angewiesen
       
       Darüber, wie groß die Potenziale in Berlin sind, gibt es keine Daten. Eine
       Kurzstudie des Deutschen Instituts für Wirtschaft geht davon aus, dass 6
       Prozent der Wohnungen in deutschen Großstädten deutlich über oder
       unterbelegt sind.
       
       „Der Wohnungstausch könnte in der Theorie dazu führen, dass Haushalte, die
       von einem etwaigen Lock-in-Effekt betroffen sind, tatsächlich Wohnungen
       finden, die ihrem Bedarf entsprechen und die aufgrund von bestehenden
       Mietverträgen erschwinglicher sind als Neuvertragsmieten“, erklärt Niklas
       Gohl, Wirtschaftswissenschaftler an der Uni Potsdam.
       
       Doch Anspruch auf einen Wohnungstausch haben Mieter:innen bislang nicht.
       Wer auf Kleinanzeigen.de, Immoscout oder spezialisierten
       Wohnungstauschportalen wie tauschwohnung.com eine Wohnung zum Tausch
       anbietet, ist auf den guten Willen der Vermieter:innen beider
       Tauschpartner angewiesen.
       
       In den meisten Fällen bedeutet dies einen saftigen Aufschlag. „Letztendlich
       ist der Wohnungstausch ein Mieterwechsel mit Abschluss eines neuen
       Mietvertrages“, sagt Wibke Werner von Berliner Mieterverein. Anfragen zu
       Wohnungstauschen bekomme sie viele, erfolgreich seien die wenigsten.
       
       ## Mieterhöhung bei Tausch häufiges Hindernis
       
       Auch Klimmecks Wohnungstauscherfahrung verlief ähnlich. Zwar stimmte seine
       Vermieterin zu, die Miete nicht merklich zu erhöhen, jedoch war es
       schwierig, eine geeignete Tauschpartner:in zu finden. Fast hätte er eine
       geeignete Zweizimmerwohnung in Lichtenberg gefunden, doch die
       Hausverwaltung der Tauschpartner:in stellte sich im letzten Moment quer
       und verlangte eine Mieterhöhung um 30 Prozent. „Das hätte meine Mutter
       nicht stemmen können“, berichtet Klimmeck. Also musste er wieder absagen.
       „Für uns war das ein Riesenrückschlag.“
       
       Angesichts [3][stockender Neubauzahlen] gerät das Instrument des
       Wohnungstauschs zunehmend in den Fokus der Politik. Die Idee ist, die
       schlummernden Potenziale im Bestand zu nutzen und somit den Wohnungsmarkt
       zu entlasten. „Wohnungstausch ist ein wichtiges Instrument, um bestehenden
       Wohnraum bezahlbar und gerecht zu verteilen“, sagt Katrin Schmidberger,
       wohnungspolitische Sprecherin der Grünen.
       
       Bereits 2019 gründeten die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften ein
       eigenes [4][Portal], auf dem Wohnungstausch ohne Mieterhöhung möglich ist.
       Doch nach vier Jahren ist auch hier die Bilanz eher ernüchternd: Von
       insgesamt 17.000 eingestellten Inseraten konnten lediglich 650
       Wohnungstausche erfolgreich abgeschlossen werden.
       
       ## Angebot und Nachfrage oft nicht passend
       
       Die Gründe für den eher mäßigen Erfolg des Portals seien vielfältig,
       erklärt David Eberhard vom Verband der Berlin-Brandenburgischen
       Wohnungsunternehmen (BBU). Ein wesentlicher Faktor sei, dass deutlich mehr
       Haushalte eine größere Wohnung suchten als umgekehrt: „Auf einen Haushalt,
       der sich verkleinern will, kommen fünf, die sich vergrößern wollen.“ Auch
       seien gerade ältere Menschen seltener bereit, ihr vertrautes Umfeld zu
       verlassen, und würden eher in betreutes Wohnen oder in ein Heim ziehen,
       wenn es nicht mehr anders ginge.
       
       Katrin Schmidberger kritisiert hingegen, dass auch das Tauschportal der
       Landeseigenen nur halbherzig umgesetzt ist: „Ein Onlineportal ist gerade
       für ältere Menschen nicht niedrigschwellig“, sagt die Grünen-Politikerin.
       Stattdessen brauche es vielmehr persönliche Ansprachen und Anreize wie
       Umzugshilfen und -prämien. Auch seien ihr einige Fälle bekannt, bei denen
       die Landeseigenen den Wohnungstausch weiterhin verwehrt hätten.
       Letztendlich seien auch die Landeseigenen profitorientierte Unternehmen,
       die von Neuvermietungsaufschlägen profitierten.
       
       Ein weiteres Problem liegt in dem Grundkonzept des Tauschs: Lage, Preis,
       Größe, Ausstattung – in den wenigsten Fällen sind all diese Faktoren für
       beide Partner:innen perfekt. Klimmeck berichtet, dass er in sechs
       Monaten Suche lediglich fünf ernsthafte Angebote bekommen habe. Jedes Mal
       sei ein Detail nicht passend gewesen – so sagte eine Interessentin ab, weil
       sie vier statt dreieinhalb Zimmer benötigte, ein anderer, weil er die
       Wohnung nicht allein renovieren konnte.
       
       ## Kein Recht auf Tausch
       
       Damit Wohnungstausch funktionieren kann, müsste also der Bestand
       potenzieller Wohnungen deutlich vergrößert werden. Das gelingt nur, wenn
       auch die Wohnungen privater Vermieter:innen in das Angebot mit
       aufgenommen werden. Doch ein „Tauschrecht“, wie es etwa in [5][Österreich]
       bereits existiert, müsste auf Bundesebene eingeführt werden. Und eine
       solche Regelung steht bislang nicht auf der Agenda der Ampelkoalition.
       
       Stattdessen hofft der Senat weiterhin auf den guten Willen der privaten
       Immobilienriesen. So sieht [6][Giffeys Wohnungsbündnis] ein Modellprojekt
       auf Kiezebene vor, bei dem die Privaten mit einbezogen werden. Passiert ist
       allerdings noch nichts, das Vorhaben werde derzeit „geprüft“, so ein
       Sprecher der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zur taz.
       
       Letztendlich ist ein funktionierendes Wohnungstauschportal nicht die
       einzige Möglichkeit, dem Lock-in-Effekt zu begegnen. Da die Ursache vor
       allem im krassen Unterschied zwischen Angebots- und Bestandsmieten liegt,
       wäre die Senkung der Angebotsmieten das effektivste Mittel. „Wenn der
       [7][Mietendeckel] über mehrere Jahre Bestand gehabt hätte, hätten wir
       vermutlich ähnliche Effekte gehabt“, mutmaßt Schmidberger.
       
       Für Jürgen Klimmeck nahm die Wohnungssuche doch noch ein glückliches Ende.
       Eine Interessentin, die mittlerweile etwas anderes gefunden hatte,
       erinnerte sich an ihn und schlug seine Mutter als Nachmieterin vor.
       Probleme, selbst eine:n Nachmieter:in zu finden, hatte Klimmeck keine –
       innerhalb weniger Stunden meldeten sich 800 Interessent:innen.
       
       14 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gerechte-Verteilung-von-Wohnraum/!5775383
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   DIR [3] /Bittere-Bilanz-fuer-Wohnungsbau-in-Berlin/!5864271
   DIR [4] https://www.gewobag.de/fuer-mieter-und-mietinteressenten/mietangebote-finden/tauschportal/
   DIR [5] /taz-Serie-Wohnen-ist-Heimat/!5555462
   DIR [6] /Giffeys-Wohnungsbuendnis-in-Berlin/!5863237
   DIR [7] /Mietendeckel-Gesetz-in-Berlin/!5766576
       
       ## AUTOREN
       
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