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       # taz.de -- Neuer Roman von Ulrike Sterblich: Killerpilze im Ranunkelring
       
       > Der Roman „Drifter“ von Ulrike Sterblich zündet ein Fantasiefeuerwerk in
       > einem Berliner Hochhaus. Ein auf der Kippe zum Trash stehender Lesespaß.
       
   IMG Bild: Schriftstellerin Ulrike Sterblich
       
       Berlin taz | Wenzel und Killer. Wenz und Killmann. Seit ihrer Kindheit
       bilden Wenzel Zahn und Marco Killmann ein unschlagbares Duo. Die Freunde
       sind Vorstadtjungs aus der Hochhaussiedlung: kleinbürgerliche Herkunft,
       große Klappe, viel Style, besonders Killer, der sich zum „Ladymagneten“
       entwickelt.
       
       „Mit Killer auszugehen war Vorteil und Nachteil zugleich; Vorteil, weil man
       immer ein paar Mädchen kennenlernte, Nachteil, weil die immer nur Augen für
       Killer hatten. Wobei: Auch die Mädchen hatten ihre Konstellationen. Da gab
       es ja auch immer eine, die der Killer war, und eine, die nicht der Killer
       war.“
       
       Killer startet später eine Marketingkarriere in einem Pharmaunternehmen.
       Wenzel hingegen ist nach abgebrochenem Publizistikstudium in den unteren
       Etagen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt gestrandet, wo er
       Leserforen moderiert und, obskure Bücher lesend, an seiner Liebe zu Gesine
       leidet. Doch die ist unerreichbar geworden, weil mit einem
       Promi-Skirennfahrer liiert. In der S-Bahn treffen die Freunde auf die
       mysteriös-alterslose Ludovica Malabene. Kurz darauf wird Killer auf der
       Trabrennbahn von einem Blitz getroffen …
       
       Und hier beginnt das Ringen um eine halbwegs seriöse Rezension des neuen
       Buchs der Berliner Autorin Ulrike Sterblich. Die Autorin, einst als
       ironisch-smartes [1][„Supatopcheckerbunny“] auf Bühnen und im Radio
       unterwegs, hat mit „Drifter“ etwas verfasst, was mit „Fantasy“ oder
       „Freundschaftsroman“ nur unzureichend beschrieben ist. Sprachlich und
       erzählerisch folgt das Buch zwar klassischen Konventionen: Man verfolgt aus
       der Perspektive des Wenzel Zahn, wie die Dinge sich entfalten, verwirren
       und, das ist es dann aber eben, auch völlig entgleiten.
       
       Der Blitzschlag bildet die Ouvertüre zur Verschiebung der Realität. Aus dem
       smarten Killer wird plötzlich ein moralisch empfindsamer junger Mann, der
       angeekelt seinen Pharmajob schmeißt, zurück ins Hochhaus am Ranunkelring 29
       zieht und sich dort wie ein Hausengel um Mutter und Hausgemeinschaft
       kümmert.
       
       ## Zauber-Content im Videokanal
       
       Verantwortlich für die Verwandlung ist das magische Quartett, bestehend aus
       Vica mit dem goldenen Kleid, ihrer prolligen Assistentin Jez, dem Faktotum
       Heurtebise (genau, Name aus einem Jean-Cocteau-Film) und dem superschlauen
       Riesenzottelhund Bello.
       
       Die vier verkaufen Zauber-Content auf einem Videokanal, versteckte
       Anlagetipps inklusive. Während im Netz die Verschwörungstheorien blühen,
       wächst das Unternehmen zu einem Wirklichkeits-Transformations-Imperium
       heran mit dem Ranunkelring 29 als Hauptquartier – und Wenzel und Killer
       mittendrin.
       
       Dem Tempo und Wahnwitz von „Drifter“ mit den Mitteln einer [2][klassischen
       Buchbesprechung] beizukommen, ist, als versuchte man einen Marvel-Film
       nachzuerzählen. Oder es klingt so, wie Wenzel an einer Stelle versucht,
       Außenstehenden das Phänomen Vica zu erklären:
       
       „Ich kann jedenfalls absolut nicht einordnen, in welcher Größenordnung sie
       sich bewegt, ob sie ein völlig überspanntes Hochstaplertum abzieht, das
       bald in sich zusammenfällt, also ob sie eher ein Soufflé ist, oder ob sie,
       umgekehrt, unfassbar unterschätzt wird, immerhin leitet sie offenbar ein
       börsennotiertes Unternehmen mit Pilzen, und was die draufhaben, das ist,
       also, das ist unaussprechlich fast, diese neuen Smartwatches von
       Hallimasch, kauft die bloß nicht, ich will euch da nichts vorschreiben,
       aber lest euch die Gebrauchsanweisung gut durch und überlegt euch, ob ihr
       euch darauf einlassen wollt, mehr sag ich dazu jetzt nicht, sonst komme ich
       noch weiter vom Thema ab, also, ein Soufflé oder eher, ähm …“
       
       ## Psychaktive Pilze
       
       Ja, das klingt wirr, scheint im Leseprozess aber logisch. Von psychoaktiven
       Pilzen gesteuerte Uhren! Der Fahrstuhl fährt zurück ins eigene
       Kinderzimmer! Ein Hund tanzt HipHop-Choreografien! Warum denn nicht? Auch
       wenn das von der Autorin gezündete Fantasiefeuerwerk mitunter überdreht:
       „Drifter“ ist ein genialer, immer auf der Kippe zum Trash stehender
       utopischer Lesespaß.
       
       Lässt man sich mitnehmen auf dieses grelle Comic-Abenteuer in einer Stadt,
       die nur Berlin sein kann (obwohl der Name an keiner Stelle vorkommt), wird
       man belohnt mit einer Wundertüte: warmherzig, klug, an einigen Stellen auch
       mal albern, aber nie kitschig.
       
       18 Aug 2023
       
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