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       # taz.de -- Philosophin über Wahlrecht für Kinder: „Sie werden politisch entmündigt“
       
       > Kinder nicht wählen zu lassen, ist für die Philosophin Mich Ciurria eine
       > Form der Diskriminierung. Sie fordert ein Wahlrecht ab der Geburt.
       
   IMG Bild: Durch das Wahlrecht könnten Kinder sich stärker emanzipieren
       
       wochentaz: Frau Ciurria, die Regierungsparteien in Deutschland wollen das
       Jugendwahlrecht ab 16 Jahren einführen. Doch Ihre Position ist radikaler.
       Was fordern Sie? 
       
       Mich Ciurria: Ich denke, Kinder jeden Alters sollten das Recht haben zu
       wählen, wie jeder andere Mensch auch. Vielleicht ist ein sechs Monate altes
       Kind dazu körperlich noch nicht in der Lage. Aber sobald ein Kind wählen
       kann, dann sollte es das auch dürfen.
       
       Und ab wann kann das ein Kind? 
       
       Eigentlich [1][sobald es eine politische Meinung] bilden kann. Ein sechs
       Monate altes Baby natürlich nicht, das kann sich nicht einmal im Spiegel
       erkennen. Es hat kein Ichbewusstsein, also kann es kein politisches
       Interesse haben. Sobald ein Kind jedoch anfängt, seine Wünsche und
       Bedürfnisse auszudrücken, sollte das ausreichen, um es wählen zu lassen.
       
       Sollte es dann nicht ein Mindestwahlalter geben, das beginnt, wenn man
       solche Wünsche und Bedürfnisse ausdrücken kann? 
       
       Es gibt keinen guten Grund für [2][ein festgelegtes Mindestwahlalter].
       Erwachsene, die zum Beispiel wegen einer Behinderung kein Ichbewusstsein
       haben, werden ja auch nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen. Man geht davon
       aus, dass sie gar nicht erst wählen, da sie kein Interesse daran haben. Das
       Gleiche kann man auch bei Kindern annehmen.
       
       Aber Menschen mit Behinderung haben diese oft ihr Leben lang. Kind ist man
       dagegen nur für eine begrenzte Zeit. Ist das nicht ein wichtiger
       Unterschied? 
       
       Niemand bleibt im Laufe seines Lebens gleich. Man verändert sich körperlich
       und geistig. Manche werden geistig behindert, und dennoch haben sie
       weiterhin ihr Wahlrecht, weil es als unantastbar gilt. Die Tatsache, dass
       Kinder irgendwann keine Kinder mehr sind, bedeutet nicht, dass sie kein
       Recht haben sollten zu wählen.
       
       Versauen wir Kindern nicht die Kindheit, wenn sie sich so früh schon mit
       dem Ernst der Politik beschäftigen müssen? 
       
       Kindheit ist ein soziales Konstrukt. Das ist also etwas, was wir uns als
       Gesellschaft ausgedacht und wofür wir Regeln erfunden haben. Deshalb haben
       wir dieses Bild im Kopf, dass Kinder unschuldig, passiv, verletzlich und
       schutzbedürftig sind. Ein ganz ähnliches Bild hatte man im 20. Jahrhundert
       von der Hausfrau.
       
       Das ist kein Zufall, diese bestimmte Vorstellung von Kindheit erfüllt in
       unserer Gesellschaft einen Zweck: Es geht darum, Kinder politisch zu
       entmündigen. Ihr Protest wird von Erwachsenen oft als trotzig oder
       irrational abgestempelt. Es wäre aber sinnvoller, Kindern die Macht zu
       geben, [3][ihre Interessen zu vertreten].
       
       Aber woher weiß man, dass ein Kind bereit ist zu wählen. Bräuchte es da so
       etwas wie politische Kompetenztests? 
       
       Diesen Vorschlag gibt es, und auch hier lassen sich historische Parallelen
       ziehen. In den 1970er Jahren gab es in den USA Alphabetisierungstests als
       Teil der Wahlregistrierung: auch eine Art Kompetenztest.
       Afroamerikaner_innen wurde damals der Zugang zu Bildung verwehrt und sie
       waren daher oft Analphabet_innen. Der Test diente dazu, ihnen das Wahlrecht
       zu verweigern. Er war Produkt rassistischen Gedankenguts und wurde
       schließlich verboten. Kompetenztests diskriminieren außerdem Menschen mit
       Behinderung, da einige Behinderungen die Fähigkeit zu lesen und zu
       schreiben beeinträchtigen.
       
       Aus philosophischer Sicht sind solche Tests ungerechtfertigt, besonders
       wenn sie nur für eine bestimmte Gruppe gelten. Im Fall von Kindern wären
       sie altersdiskriminierend. Viele Erwachsene treffen inkompetente
       Wahlentscheidungen, aber das ist kein Grund, sie zu testen oder vom
       Wahlrecht auszuschließen.
       
       Sind Kinder in Bezug auf Wahlen nicht viel anfälliger für Manipulation als
       Erwachsene? Eltern könnten sie beeinflussen und auf diese Weise Wahlen
       manipulieren. 
       
       Ich glaube nicht, dass Eltern ihre politischen Werte so einfach an ihre
       Kinder weitergeben können. Kinder haben oft ganz andere Überzeugungen und
       werden eher von Gleichaltrigen als von ihren Eltern beeinflusst.
       
       Ist das so? 
       
       Ja. Untersuchungen zeigen zwar, dass Kinder bis zum Alter von 10 Jahren
       stärker von ihren Eltern beeinflusst werden als von Gleichaltrigen. Ab da
       lehnen Kinder das, was ihre Eltern denken, in vielen Fällen fast
       vollständig ab. Viele junge Menschen sind Goths oder mögen K-Pop oder
       Justin Bieber, obwohl ihre Eltern das nicht tun.
       
       Aber wenn Kinder in den ersten 10 Jahren ihres Lebens doch von ihren Eltern
       manipuliert werden könnten, sollte man solche Stimmen nicht verhindern? 
       
       Nein, ganz im Gegenteil. Wenn ein Wahlrecht ab 0 Jahren tatsächlich dazu
       führen würde, dass viele Eltern ihre Kinder derart manipulieren, würde das
       eher noch mehr für das Wahlrecht sprechen. Denn nur dann können diese
       Kinder eine Politik wählen, die sie vor dem manipulativen Verhalten ihrer
       Eltern schützen kann.
       
       Die gleiche Sorge der Manipulation kam damals auf, als Frauen für das
       Wahlrecht kämpften. Man glaubte, sie würden wie ihre Ehemänner wählen. Und
       das stimmt sogar, auch heute noch stimmen einige Frauen wie ihr Mann ab.
       Kein vernünftiger Mensch glaubt aber, dass man Frauen deshalb grundsätzlich
       politisch entmündigen muss.
       
       Wenn Eltern versuchen zu kontrollieren, wie ihre Kinder wählen, müssen wir
       eigentlich die Kinder schützen, indem wir [4][ihre Rechte stärken]. Kinder
       werden gerade sogar auf doppelte Weise unterdrückt.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Kinder sind eine besonders vulnerable Gruppe. In der Schule erfahren sie
       Mobbing und hier in den USA sogar so schlimme Dinge wie Schulschießereien.
       Zu Hause sind sie oft kaum geschützt vor Missbrauch, Vernachlässigung und
       Gewalt innerhalb der Familie. Die US-amerikanische Autorin und Feministin
       bell hooks hat geschrieben, dass viele Kinder in einem lieblosen Umfeld
       aufwachsen und nichts dagegen tun können, weil sie politisch entmündigt
       sind.
       
       bell hooks politisiert die Situation von Kindern und zeigt auf, dass es
       sich um ein Systemproblem handelt, das eine politische Lösung erfordert.
       Die politische Entmündigung von Kindern geht mit vielen weiteren
       Ungerechtigkeiten einher, die sich auflösen könnten, wenn man sie wählen
       lässt.
       
       Was für Ungerechtigkeiten sind das zum Beispiel? 
       
       Aktuell gilt es als völlig in Ordnung, Kinder zu zwingen, in die Kirche zu
       gehen, Klavierunterricht zu nehmen oder Französisch zu lernen. Im Grunde
       objektivieren Erwachsene sie dadurch aber und behandeln sie, als wären sie
       eine Erweiterung ihrer selbst.
       
       Sie üben Kontrolle über Körper und Geist ihrer Kinder aus, weil sie sie
       nicht als autonome Individuen ansehen. Und deshalb erkennen sie auch ihr
       Wahlrecht nicht an. Wenn Kinder das Wahlrecht hätten, würde das die
       Menschen dazu bringen, sie als individuelle, autonome Menschen
       anzuerkennen.
       
       Warum setzen sich noch nicht mehr Kinder und Jugendliche dafür ein, wählen
       zu dürfen? 
       
       Viele junge Menschen wissen gar nichts von der Debatte. Man nennt das
       epistemische Ungerechtigkeit. Das bedeutet, dass Kinder keinen Zugang zu
       dem Wissen haben, das sie brauchen, um ihre Unterdrückung zu verstehen. Das
       kommt bei politisch unterdrückten Gruppen häufig vor.
       
       Und was kann man dagegen tun? 
       
       Kinder sollten über das Jugendwahlrecht und politische Gruppen, die das
       Jugendwahlrecht unterstützen, informiert werden. Das würde ihnen helfen,
       ihr [5][eigenes Handeln als politisch] bedeutsam wahrzunehmen.
       
       Wenn die Politik stärker in Strukturen investieren würde, die Kindern
       zugutekommt, würde das nicht einen großen Teil der Probleme schon lösen? 
       
       Die Ungerechtigkeiten, mit denen Kinder konfrontiert sind, können niemals
       angemessen angegangen werden, wenn sie nicht selbst wählen dürfen. Wir
       können nicht darauf vertrauen, dass Erwachsene richtige Entscheidungen für
       sie treffen, ohne sie in den Entscheidungsprozess einzubeziehen.
       
       Es ist einfach falsch, jungen Menschen das Wahlrecht zu verweigern. In der
       Vergangenheit wurde auch gesagt, dass Frauen nicht wählen müssten, weil
       ihre Ehemänner, die in ihrem Namen abstimmten, nur ihr Bestes im Sinn
       hätten. Das ist nicht logisch. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass
       jemand im Namen einer unterdrückten Person Entscheidungen trifft.
       
       27 Aug 2023
       
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