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       # taz.de -- Geschichte des Italo Disco: Dolce Disco
       
       > Ausgerechnet in Deutschland prägte man den Begriff des Italo Disco. Ein
       > Blick in die Geschichte eines Genres, das sich in keine Schublade
       > quetschen lässt.
       
   IMG Bild: DJ-Maestro Daniele Baldelli in der DJ-Kapsel des „Cosmic“, Lacise sul Lago di Garda, 1979
       
       Im Jahr 2001 hat Alexander Arpeggio eine echte Offenbarung. Der damals
       18-Jährige aus Ingolstadt hört zum ersten Mal ein Mixtape des
       niederländischen DJs I-F: „Die Musik klang super melodiös, aber auch
       repetitiv. Drummachines habe ich da erstmals klar wahrgenommen. Die
       Synthesizer wirkten nicht glattpoliert, sondern rau. Faszinierend war vor
       allem, dass die Songs edgy klangen. Im Unperfekten lag ihr Reiz – vom
       Gesang in gebrochenem Englisch bis zur mangelhaften Aussteuerung.“
       
       Arpeggio will mehr von dieser Musik wissen. Er recherchiert im Netz, landet
       auf einer Fanpage und findet dort einen Song aus dem Mixtape wieder:
       [1][„Take a Chance“ von Mr. Flagio]. Als Genre steht da: Italo Disco.
       
       Heute ist Alexander Arpeggio selbst DJ und lebt als Produzent und
       Labelmacher von Mond Musik/Eine Welt inzwischen in Berlin. Und, er ist Teil
       einer lebendigen, international vernetzten (eher nordeuropäischen) Szene,
       für die Italo Disco als zentraler Einfluss dient. Der Musikstil, der in der
       ersten Hälfte der 1980er Jahre in Italien entstand, polarisiert seit jeher:
       Gilt er den einen als camper Geniestreich, ist er für die anderen purer
       Kitsch.
       
       ## Italo Boot Mixe von ZYX
       
       „Doch Italo Disco ist nicht gleich Italo Disco“, präzisiert Arpeggio mit
       Nachdruck. Und macht damit deutlich, dass hinter dem berüchtigten Begriff,
       der einst von der hessischen Plattenfirma ZYX zur Vermarktung italienischer
       Dance-Produktionen in Deutschland geprägt wurde, ein höchst
       fragmentarischer Kanon steckt: Seine Spannbreite reicht von Mainstream-Hits
       bis zum obskursten Underground, vom Cheesy-Naiven bis zum düsteren
       Auskehrsong.
       
       Im Zuge seiner Recherchen stieß Arpeggio auch auf Radio Stad Den Haag, ein
       holländisches Online-Radio, das nonstop Italo Disco spielt. Hier lernte er
       viele weitere Songs kennen und kaufte sie dann bei italienischen
       eBay-Händlern. Als er 2004 mit dem Auflegen begann, habe das Publikum in
       Oberbayern den Sound eher abgelehnt. „Selbst in Berlin war die Szene
       teilweise gegen Italo Disco, weil es als Pop und Trash galt.“
       
       Trotzdem habe es weiterhin punktuell Undergroundpartys gegeben, auf denen
       man sich vernetzen konnte. Die voranschreitende Digitalisierung lieferte
       den entscheidenden Schub. Um 2010 entstanden die ersten einschlägigen
       Reissue-Labels, Clubnächte fanden ab dann in mehreren deutschen Städten
       statt.
       
       ## Obskure Seitenlinien
       
       „Berlins italophile Szene ist heute eher zersplittert. Jede*r hat einen
       eigenen Schwerpunkt“, erklärt Arpeggio. An seinen DJ-Abenden, unter anderem
       bei der von ihm kuratierten Partyreihe „Club Cosmic“ im Neuköllner
       Sameheads, fördert er eher die obskuren Seitenlinien von Italo Disco
       zutage, stets vermischt mit anderen experimentellen Einflüssen von
       elektronischem Dancefloor.
       
       Bei neuen Produktionen seines Labels Eine Welt ist der Italo-Bezug eher
       indirekt: „Uns geht es darum, den LoFi-Klangcharakter in die Gegenwart zu
       bringen. Deshalb arbeiten wir mit alter Hardware.“ Am Charmantesten sei
       diese fehlerhafte Soundqualität für Arpeggio durch den 1991
       veröffentlichten Track [2][„All Is Roses“ von Sebastiano Pio] verkörpert,
       Spät-Italosound, in dem auch Punk, Pop und Disco-Elemente verwoben sind:
       „Mir vermittelt er dezente Melancholie und zugleich wirkt er upliftend.“
       
       Für den italienischen Journalisten Fabio De Luca zeichnet genau jener
       melancholische Unterton Italo Disco aus. Dieser rühre von der europäischen
       New Wave her. Denn genau darin, und nicht in der US-Disco, liege etwas
       kontraintuitiv die Hauptinspiration für die Musik. Für ihre Entstehung war
       ein technologischer Umbruch entscheidend: Synthesizer wie der Juno und
       Drummachines wie die TR-808 des japanischen Unternehmens Roland wurden um
       1980 erschwinglich.
       
       ## Primitiv, chaotisch, postpunkig
       
       Eine junge Generation von Produzent*innen, – meist ohne klassische
       Musikausbildung –, begann mit den analogen Geräten den Sound von britischen
       Bands wie The Human League, Yazoo und Eurythmics in kleinen Studios
       nachzuahmen – „primitiv, chaotisch, postpunk im wörtlichen Sinne“, bringt
       es De Luca auf den Punkt. Er ist der Meinung, dass Handwerk und
       Zufallsfaktor Italo Disco ausmachen.
       
       Die Ehe mit dem Dancefloor ergab sich aus einer praktischen Notwendigkeit.
       „Im Umgang mit elektronischen Geräten war es am einfachsten, mit einer
       rhythmischen Struktur anzufangen“, erklärt De Luca. Der metronomisch
       pulsierende Sound kam dabei wie gerufen, litten doch die Tanzflächen um
       1980 unter dem Popularitätsschwund von US-Disco. Den bevorzugten
       Verbreitungskanal von Italo Disco bildeten Privatradiosender, die damals in
       Italien wie Pilze aus dem Boden sprossen. 1983 verhalfen sie dem Song
       „Vamos a la playa“ des Duos Righeira zum Sommerhit.
       
       Dem Lied, das auf Spanisch einen Besuch an einem radioaktiv verseuchten
       Strand thematisiert, hat [3][De Luca gerade ein Buch] gewidmet. Unabhängige
       Labels spezialisiert auf den Synthetiksound, hauten quasi über Nacht neue
       Platten raus. Mailand wurde zum Epizentrum, hier hatten Labels wie
       Discomagic und Il Discotto ihren Sitz. Um Profite zu maximieren, setzten
       sie gerne glamouröse Frontfiguren ein, die nicht selber sangen. Dabei
       wurden Frauen oft übermäßig sexualisiert, etwa auf Plattencovern und in
       Songtexten, und auf Eyecatcher und Ghoststimmen reduziert. In der Regel
       traten sie nur als Sängerinnen auf, während die kompositorische Rolle eher
       Männern vorbehalten blieb.
       
       ## Postfordistisches Projekt
       
       „Ab Mitte der 1980er wurden Silvio Berlusconis Privat-TV-Sender zum
       Werbeträger für Italo Disco, was den Musikstil in eine Art Hit-Fabrik, ja
       gar in ein fordistisches Projekt verwandelte“, sagt De Luca. Der
       Konsumismus resonierte in einer Gesellschaft, die erschöpft aus den
       sogenannten bleiernen Jahren hervorgegangen war. Nach dem faschistischen
       Anschlag auf der Mailänder Piazza Fontana von 1969, waren die Siebziger in
       Italien gekennzeichnet durch brutale terroristische Anschläge von links und
       rechts. Radikalisierung und Gewalt waren verbreitet, aber es herrschte auch
       Aufbruchstimmung.
       
       Zur Politikverdrossenheit, die in den 1980ern Fuß fasste, eignete sich laut
       De Luca Italo Disco als perfekter Soundtrack, denn mit seiner Inhaltsleere
       bediente der Stil die Sehnsucht nach Unbeschwertheit. In seiner schrillen
       Ästhetik mutet Italo Disco dabei oft „camp“ an, als würde es hegemoniale
       Geschmacksnormen herausfordern. Ein politisch subversives Zeichen liest De
       Luca darin aber nicht. Die Abwesenheit jeglicher sozialkritischer
       Botschaften war für die Gatekeeper der Hochkultur wiederum der Grund, Italo
       Disco als Musik zweiter Klasse zu verteufeln.
       
       Zu denjenigen, die in den Achtzigern Italo Disco verabscheuten, zählt auch
       Daniele Baldelli. Paradoxerweise wird der heute 71-jährige DJ im Ausland
       oft ausgerechnet mit diesem Musikstil in Verbindung gebracht – was ihn
       verärgert. Denn der [4][Cosmic-Sound, den Baldelli während seiner
       jahrelangen Residency in der Diskothek Cosmic in Lazise am Gardasee] prägte
       und sogar [5][bis nach München] strahlte, war eigentlich durch radikalen
       Eklektizismus und dementsprechend virtuoses Mixen gekennzeichnet. [6][„Ich
       vermischte diverse Genres, wie Funk, Reggae, Rock, Electro, Afrobeat – und
       Italo Disco, aber ohne es zu wissen“], scherzt er.
       
       ## Chinesische Rache
       
       In seinem Portfolio waren tatsächlich Stücke, die heute als
       Italo-Disco-Meilensteine gelten, zum Beispiel „Chinese Revenge“ von Koto
       und „Cybernetic Love“ von Casco. „Für mich war das schlicht elektronische
       Musik. Den Begriff Italo Disco verband ich damals mit einer schlechten
       Imitation von US-Sound – und mit der Hitparade“, erklärt Baldelli der taz.
       Er habe hingegen schon immer einen Hang für Produktionen abseits des
       Mainstreams gepflegt. Durch den Italo-Hype der letzten Jahre hat seine
       Berührungsangst inzwischen nachgelassen: „Ich habe sogar Einiges in meiner
       Sammlung entdeckt, von dem ich gar nicht wusste, es überhaupt zu besitzen.“
       
       Die italienische Musikerin, Komponistin, Sängerin und DJ Andrea Noce musste
       erst nach Berlin ziehen, „um Italo Disco wirklich kennenzulernen“. In
       Italien hat sie mit dem Musikmachen angefangen, nach ihrem Umzug nach
       Berlin wird sie Teil der florierende Nu-Disco-Szene, die maßgeblich von
       Italo Disco beeinflusst ist.
       
       Sie besucht Clubs wie Sameheads, die queere Partyreihe „Cocktail D’Amore“
       und die Raves des Kreuzberger Plattenladens Sound Metaphors: „Dort bekam
       ich das Gefühl, dass man sich vom harten Technodiktat der Stadt abgrenzt.
       Als Zeichen, dass es mehr gibt als nur das Berghain. Diese Musik ist
       fluider.'“
       
       ## Weltraum statt Dolce Vita
       
       Noce kommt mit einer Spielart von Italo Disco in Kontakt, in der statt
       Strandurlaub und „la dolce vita“-Klischees Weltraum-Motive überwiegen:
       psychedelisch und halluzinatorisch anmutende Klänge, per Vocoder
       verfremdete Stimmen und Songtexte, die von Robotern und Aliens handeln.
       „Diese Space-Ecke bricht meist mit dem Machismo, der in Italo Disco sonst
       zur Schau gestellt wird“, merkt Noce an. [7][Die Klangwelt inspiriert die
       Künstlerin dazu, ihr Alias Eva Geist zu kreieren].
       
       Unter diesem Namen tritt sie als Sängerin und DJ in Clubs auf und prägt die
       Italo-Szene der Gegenwart mit. Inzwischen hat sich daraus ein Projekt
       entwickelt, das experimentelle Elektronik, obskure Italo Disco- und
       Krautrock-Einflüsse vermischt.
       
       Heute lebt Noce in Rom und beobachtet, dass der Verdienst von Italo Disco
       trotz Achtziger-Revival zu Hause kaum anerkannt wird. „Selbst Platten, die
       im Ausland durch die Decke gingen, wie etwa [8][‚Spacer Woman‘ von Charlie]
       und ‚Musica Spaziale‘ von Patrizia Pellegrino finden in Italien kaum
       Beachtung.“ Dabei habe Italo Disco einen unbestreitbaren Wert, meint die
       Künstlerin: „Er führte eine eigene Klangsprache ein und erneuerte Pop
       dadurch von innen.“ Eine Innovationskraft, die wiederum auch House und
       Techno beeinflusst hat.
       
       24 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=zDV_dBYp4h0
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=4PPTBBJ8JXE
   DIR [3] https://www.anobii.com/de/books/oh-oh-oh-oh-oh/9791254800249/02bd445c8c5dc638ed
   DIR [4] /Kulturgeschichte-des-Italo-House-Sounds/!5783193
   DIR [5] /Labelportraet-Public-Possession/!5288152
   DIR [6] https://www.youtube.com/watch?v=zXeqRuXdXZw
   DIR [7] https://www.youtube.com/watch?v=hlrRfTRUqTQ
   DIR [8] https://www.youtube.com/watch?v=HXAoo1DsRnI
       
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