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       # taz.de -- Langzeit-Aufführung bei Grünheide: Mücken, Tubas, Menschenhorden
       
       > Die Performance „Shared Landscapes“ von Rimini-Protokoll-Gründer Stefan
       > Kaegi will Stadtmenschen und Natur zusammenbringen.
       
   IMG Bild: Shared Landscapes im Wald nahe Hangelsberg (Grünheide) – zwischen „echter“ Natur und Illusion
       
       Die eine Sache funktioniert schon mal. Dicht gefüllt ist der RE 1 nach
       Frankfurt (Oder). Die meisten Fahrgäste entsteigen dem Zug nicht wie
       gewohnt in Fangschleuse, dem Bahnhof des nahe gelegen Tesla-Werks, sondern
       bleiben eine Station länger an Bord. Vom Bahnhof Hangelsberg macht sich
       dann eine langgestreckte Gruppe von theateraffinen Ausflüglern auf den
       kurzen Fußmarsch zur Waldschule. Dort startet das Landschaftstheaterprojekt
       „Shared Landscapes“, das [1][Stefan Kaegi] gemeinsam mit der Kuratorin
       Caroline Barneaud für die Berliner Festspiele entwickelt hat und das zuvor
       schon in der Schweiz und beim Festival in Avignon zu sehen war.
       
       Manche Gäste kommen bei der Berliner Version exzellent vorbereitet mit
       Kopfbedeckungen gegen die Sonne und langärmligen Textilien, die vor dem
       Geschwaderanflug der lokalen Insekten schützen. Manchen tragen dazu sogar
       Gaze an der Krempe ihrer Hüte. Neidisch darauf werden die Kurzärmligen
       unter den Besuchern spätestens dann, wenn die rötlichen Schwellungen rings
       um die Einstichlöcher sich immer mehr auf Armen, Schultern und Rücken
       ausbreiten.
       
       Die Hangelsberger Mücken freuen sich über die Menschenmengen. Sie lassen
       sich auch nicht vom Aerosolgemisch aus Autan und Anti-Brumm abschrecken.
       „Shared Landscapes“ wird so zu „shared skins“, jedenfalls aus
       Mückenperspektive.
       
       Dass die Mücken Dauerbewohner dieses Waldstücks sind, kann man auch der
       ersten theatralen Intervention entnehmen. Initiator Kaegi lud im Frühjahr
       eine Meteorologin, einen Förster, eine Psychoanalytikerin, eine Sängerin
       und ein Kind zu einem Gespräch über Mensch und Natur in ebendieses
       Waldstück ein. Nah an den Aufnahmegeräten waren auch damals stets die
       Mücken. Und so summt und brummt es derart in den Kopfhörern, dass manche
       nervöse Handbewegung jetzt nicht mehr nur den echten, sondern auch den
       digital aufgezeichneten Stechern gilt.
       
       Ein hübscher Nebeneffekt. Er verdeutlicht eine oft unterschlagene Dimension
       im Verhältnis des – verstädterten – Menschen zur Natur. Was der über Natur,
       Tiere, Bäume, Pflanzen, Winde weiß, kommt meist digital vermittelt zu ihm.
       In der Landschaft selbst werden die digital vermittelten Inhalte dann mit
       dem analog Wahrnehmbaren abgeglichen.
       
       ## Mit einer VR-Installation in die Lüfte erheben
       
       Diesen Aspekt hätte man in „Shared Landscapes“ gern noch stärker
       konzeptuell eingebunden gesehen. Die einzige der sieben in den Spaziergang
       eingewobenen Arbeiten, die sich näher damit beschäftigt, ist Daniel Kötters
       und Begüm Erciyas’ VR-Installation: Man erhebt sich mit ihr senkrecht aus
       dem Wald heraus, gleitet dank dem aufsteigenden Auge einer Kameradrohne
       entlang der Baumstämme nach oben, schwebt über den Wipfeln, spürt auch
       etwas den Wind, der das Fluggerät ins Wanken bringt und erkennt fern am
       Horizont Gebäude, die die der Giga Factory des E-Mobilbauers aus dem fernen
       Amerika sein dürften.
       
       Kötter und Erciyas verbinden das lokale Erlebnis mit Informationen über das
       auch [2][von Drohnen umkämpfte Grenzgebiet zwischen Aserbaidschan und
       Armenien], das auch deshalb zum Ziel kriegerischer Auseinandersetzungen
       wurde, weil unter der Erdschicht gewaltige Goldvorkommen locken. Kötter und
       Erciyas führen die vertikale Dimension in die Landschaftsbetrachtung ein
       und ergänzen das romantische Sehen durch das maschinelle.
       
       In andere zeitliche Dimensionen dringen Sofia Dias und Vítor Roriz mit
       ihrer Audiotour durch den Wald ein. Sie konfrontieren die Teilnehmenden
       damit, was sie selbst unter anderem im Gesicht tragen und wie viel Tausende
       Jahre Technologieentwicklung beim simplen Vorgang des Zeichnens in einem
       Moment zusammenkommen.
       
       Merkmale wie Augenbrauen teilen Menschen mit Raubtieren, während Wimpern
       vornehmlich bei sanften Beutetieren wie Rehen vorkommen, erfährt man. Und
       Zeichnen funktioniert mit Bleistiften auf Papier. Erste mit Blei gefüllte
       Zeichenstifte sind bereits bei den alten Ägyptern vor 5.000 Jahren
       nachgewiesen. Malereien in den Höhlen von Altamira wurden vor mehr als
       15.000 Jahren angefertigt. Da malt man dann etwas ergriffener Kringel in
       die Luft.
       
       ## Musik und Symbiosen mit der Natur
       
       Schnell hat man aber auch genug von gruppendynamischen Bewegungssequenzen,
       zu denen Roriz und Dias weiter auffordern. Enttäuschend unterkomplex sind
       die Expert:innengespräche, die nach einer Pause Émilie Rousset in einem
       abgezäunten Waldstück inszeniert.
       
       Tiefere Eindrücke in Ohr und Auge hingegen hinterlassen zum Glück die
       Musiker*innen des Ensembles Apparat. Sie führen, teils malerisch ins
       Waldesgrün gebettet, vier skulpturale Musikstücke des Komponisten Ari
       Benjamin Meyers auf. Der künstlerisch geformte Wind, der da aus Tuba,
       Flöte, Saxofon und Trompete dringt, vermischt sich mit den natürlichen
       Winden, die in Baumkronen und Blattwerk wehen. Mal sind die
       Musiker*innen komplett versteckt, dann wieder scheinen sie Symbiosen
       mit umgestürzten Baumstämmen oder munter wucherndem Farn zu bilden.
       
       Neben den Mücken und der Vertikalposition dank Drohne sind dies wohl die
       eindrücklichsten Momente eines angesichts der Dauer von sieben Stunden eher
       ereignisarmen performativen Ausflugs. Freilich fehlt bei dieser Betrachtung
       die Perspektive der Mückenschwärme. Andere Waldestiere konnten leider nicht
       befragt werden. Denn erschreckenderweise war keine einzige Vogelstimme zu
       hören – außer in manchen aufgezeichneten Sequenzen. Und Tiere, die laufen
       können, entziehen sich dem Landschaftsteil durch Flucht.
       
       21 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Tom Mustroph
       
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