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       # taz.de -- Charlotte Gneuß Roman „Gittersee“: Bei der Stasi war alles geheim
       
       > Dieser Autorin nimmt man die Alltagsschilderungen aus der DDR ab.
       > Charlotte Gneuß erzählt in „Gittersee“ von Erwachsenen, die ihre Kinder
       > verraten.
       
   IMG Bild: Leicht manipulierbar: die Volkspolizei im Gespräch mit Jugendlichen, Dresden 1984
       
       Menschen möchten gesehen werden, sie wünschen sich, unter dem gnädigen
       Blick eines anderen Konturen anzunehmen. Und das umso mehr, wenn die eigene
       Gestalt für sie selbst nicht greifbar ist. Wenn die Grenzen noch nicht
       bestimmt und die Wünsche noch nicht klar formuliert sind. Adoleszenz,
       Pubertät oder Jugend nennt man diese Lebensspanne, in der alles möglich
       scheint, alles Schlimme und Schöne, bis auf eines: Sicherheit.
       
       [1][Es ist mithin eine Zeit, in der man leicht manipuliert werden kann.]
       Das galt wohl immer und überall und also auch im Jahr 1976 am Rande des
       Dresdner Stadtteils Gittersee, genauer: in einem geparkten Wagen, dessen
       Fahrer der 16-Jährigen neben ihm eine Zigarette anbietet. Nein, kein
       körperlicher Übergriff wird hier folgen, durchaus aber ein Missbrauch.
       
       Der Mann ist ein Stasi-Offizier, er horcht die junge Karin aus, macht sie
       zum Spitzel, schenkt ihr Aufmerksamkeit und bekommt dafür Vertrauen.
       „Damals glaubte ich, dass er mich mochte. Wickwalz sprach ja mit mir wie
       mit einer ganzen Person. Er gab mir das Gefühl, ich würde immer etwas
       außerordentlich Kluges sagen. Und alles war herrlich geheim.“
       
       Eine ganze Person zu sein, was immer das bedeuten mag, geht in diesem Alter
       sicher nicht ohne Hilfe. Was ist mit der Familie der jungen Frau? Man darf
       sie als Totalausfall bewerten. Karin muss sich ständig um ihre kleine
       Schwester kümmern, während die Großmutter in Erinnerungen an ihre
       Flakhelferzeit schwelgt.
       
       ## Familie ist ein Totalausfall
       
       Der Vater hängt an der Flasche, die depressive Mutter zieht aus, um der
       tristen Ehe zu entkommen und an ihre Träume von einem Leben in
       intellektuellen Kreisen anzuknüpfen. Sie sei eigentlich ein völlig anderer
       Mensch, sagt sie mit Tränen in den Augen zu ihrer Tochter, bevor sie das
       Haus verlässt.
       
       Auch Karins Freund Paul tritt die Flucht an, [2][eine Flucht über die
       Grenze in die Bundesrepublik]. Weswegen in Charlotte Gneuß’ Roman
       „Gittersee“ dann der Stasi-Mann Wickwalz vor der Tür steht, weswegen das
       Mächen bald neben ihm sitzt, seine Zigaretten raucht und ihre Freunde
       verrät, kurz die Ohnmacht loswird und sich dann nur noch verlassener
       vorkommt. Es ist kaum möglich, in diesem Land jung zu sein, in dem die
       Alten entweder Täter sind oder es sich in ihrem Opferdasein bequem machen.
       
       Sicher ist das System dafür verantwortlich, dass die persönlichen
       Verhältnisse zu unsicher sind, um sich in ihnen einzurichten, dass niemand
       hier erreichen kann, was er will, dass alle ständig auf dem Sprung sind: in
       den Westen, in die Kneipe, in die verklärte Vergangenheit. Doch erkennt man
       auch in vielen Szenen verpasste Gelegenheiten, das Unheil aufzuhalten, es
       zumindest abzumildern.
       
       Der Vater, die Mutter und Großmutter, die Klassenlehrerin, sie alle könnten
       Karin helfen und sei es nur dadurch, dass sie ihr etwas mehr Aufmerksamkeit
       schenkten, aber in den entscheidenden Momenten versagen sie.
       
       ## Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung
       
       Die Autorin ist 1992 in Ludwigsburg geboren, sie kennt die DDR also nicht
       aus eigener Anschauung, hat laut der Danksagung zu Recherchezwecken aber
       viel mit ihren Verwandten gesprochen. Gneuß studierte Soziale Arbeit in
       Dresden, literarisches Schreiben in Leipzig und szenisches Schreiben in
       Berlin. Den renommierten Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung hat sie
       bereits erhalten. Nicht ganz überraschend steht Gittersee auch auf der
       Longlist für den Deutschen Buchpreis, erscheint doch nur selten ein so
       souverän erzähltes Debüt.
       
       Man nimmt Gneuß ohne zu zweifeln die Schilderungen des Alltagslebens in der
       DDR ab, ihre Figuren hat sie mit souveränem Strich gezeichnet und es
       bereitet große Freude, mitzuverfolgen, wie genau sie das persönliche mit
       dem politischen Unrecht verwebt. Vor allem aber hat Gneuß in ihrer Karin
       eine Figur erfunden, der man nur allzu gerne auch durch andere Staaten und
       Zeiten folgen würde.
       
       Unbeschwert, frech und verliebt hüpft sie anfangs über die Seiten, schließt
       sich nach der Flucht ihres Freundes nur kurzzeitig heulend in ihrem Zimmer
       ein, um rasch wieder Verantwortung für die Familie zu übernehmen. Die
       wenige Jahre alte Schwester betreut sie praktisch im Alleingang, den
       volltrunkenen Vater spürt sie in seiner Stammkneipe auf und deckt den
       schlafenden Mann mütterlich mit einer Decke zu.
       
       ## Unrealistisches Krimi-Setting
       
       Diese Erzählerin möchte man furchtbar gerne mögen. Dass einem das schwerer
       fällt, nachdem sie unter Wickwalz’ freundlichem Blick die Lebensträume
       ihrer besten Freundin zerstört, wollte die Autorin dem Stasi-Mann offenbar
       nicht ungesühnt durchgehen lassen. Und so rutscht dieser Roman, der zuvor
       beeindruckend lebendig eine Coming-of-Age-Geschichte in den viel zu engen
       Grenzen der DDR-Gesellschaft erzählt hat, leider in den letzten Zügen noch
       in ein unrealistisches Krimi-Setting ab.
       
       Das ist schade, aber die 200 Seiten zuvor entschädigen großzügig für diese
       Enttäuschung. Denn Gneuß wiederholt nicht lediglich einmal mehr die
       Geschichte einer tristen DDR, in der Zwänge die Beziehungen zerrütten. Sie
       erzählt vor allem von Erwachsenen, die zu schwach sind, ihre Kinder zu
       schützen.
       
       1 Sep 2023
       
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