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       # taz.de -- Sarah Mohamed über die Jusos in der SPD: „Ich möchte nicht in den Bundestag“
       
       > Sarah Mohamed will Juso-Vorsitzende werden. Ein Gespräch über Otto-Filme,
       > ihren rassistischen Zahnarzt und den Kapitalismus.
       
   IMG Bild: Sarah Mohamed Ende August auf dem Dach der taz in Berlin
       
       wochentaz: Frau Mohamed, sind Sie ein konfrontativer Mensch?
       
       Sarah Mohamed: Als migrantische junge Frau, die politisch aktiv ist, ist
       man schnell in der Rolle, sehr konfrontativ zu sein. Ich scheue auf jeden
       Fall die Konfrontation nicht. Aber innerhalb der Jusos bemühe ich mich
       immer, ausgleichend zu wirken. Teamarbeit ist mir sehr wichtig.
       
       Sie bewerben sich für den Juso-Bundesvorsitz mit dem Zitat „Auf, auf zum
       Kampf, zum Kampf“. Wen oder was wollen Sie bekämpfen? 
       
       Den Kapitalismus. Es wird oft über multiple Krisen gesprochen, aber meine
       Überzeugung ist, es geht um eine Krise, die unterschiedliche Facetten hat,
       den Kapitalismus nämlich. Die Überschrift habe ich gewählt, um deutlich zu
       machen, dass wir als Jusos mit unseren Bündnispartnern auch den Kampf auf
       der Straße führen und wieder sichtbarer als aktivistische
       Jugendorganisation werden müssen.
       
       Welche Bündnispartner meinen Sie? 
       
       An erster Stelle stehen für uns weiterhin die Gewerkschaften. Mir ist aber
       auch wichtig, dass wir als Jusos wieder mehr Anschluss finden an die
       Klimabewegung, an antirassistische und feministische Bewegungen. Denn
       diese Kämpfe gehören zusammen.
       
       [1][Klimakrise], Sexismus oder Rassismus – das Grundproblem ist immer der
       Kapitalismus? 
       
       Ja, darauf ist es zurückzuführen.
       
       Aber die Gewerkschaften sind nicht besonders klassenkämpferisch drauf. Wann
       wurde auf einer DGB-Demo das letzte Mal die Abschaffung des Kapitalismus
       gefordert? 
       
       Mit der Gewerkschaftsjugend sind wir uns einig. Manche darunter stellen das
       laut vornan, manche lassen eher Taten, den Arbeitskampf, sprechen. Wir
       treiben da gleichermaßen unsere Mutterorganisationen.
       
       Auch die SPD hat sich längst mit dem Kapitalismus arrangiert. 
       
       Ja, zumindest galt Kritik am Kapitalismus lange Jahre als veraltet, nur
       noch vorgetragen von linken Randgruppen. Mittlerweile ist
       Kapitalismuskritik wieder verbreiteter. Ausschlaggebend ist die Klimakrise
       als reale Bedrohung. Viele Menschen finden, dass es Grenzen für Wachstum
       und die Ausbeutung des Planeten geben muss.
       
       Wir leben in einer polarisierten Gesellschaft, die durch Kulturkämpfe
       auseinandergetrieben wird. Ist es nicht angezeigt, auf mehr Zusammenhalt im
       demokratischen Spektrum zu setzen? 
       
       Ich finde, die pauschale Forderung greift zu kurz. Mir ist wichtig, dass
       linke und progressive Kräfte sich zusammenschließen gegen rechte
       Kulturkämpfe. Die werden von der CDU gerade auch unter Friedrich Merz stark
       befeuert.
       
       Es gibt auch eine linke Agenda für Kulturkämpfe, Stichwort Wokeness. Diese
       Kämpfe von links und rechts können sich wie in den USA gegenseitig
       hochschaukeln. Muss man da nicht vorsichtiger sein? 
       
       Ich würde die sogenannte Wokeness eher als Anerkennungspolitik bezeichnen
       und finde es wichtig, dass man diese Kämpfe führt und sensibilisiert für
       Rassismus, Antisemitismus, Queerfeindlichkeit und Sexismus. Ich sehe hier
       keine Cancel Culture. Das ist ein rechtes Narrativ, das immer dann
       angewendet wird, wenn marginalisierte Gruppen für Gleichberechtigung
       kämpfen. Dann heißt es, jetzt darf man gar nichts mehr sagen. Dabei ist es
       doch gut, sich nicht rassistisch zu äußern. Denn Rassismus spaltet – nicht
       die sogenannte Wokeness.
       
       Finden Sie es angemessen, dass der WDR uralte Otto-Filme nur noch mit
       Triggerwarnung ausstrahlt: Vorsicht, enthält Passagen, die heute als
       diskriminierend betrachtet werden? 
       
       Es schadet zumindest nicht, darauf hinzuweisen, dass hier möglicherweise
       Rassismus reproduziert wird.
       
       Sie kritisieren auch antimuslimischen Rassismus in der Gesellschaft.
       Sprechen sie da aus eigener Erfahrung? Ihre Nachname lautet zwar Mohamed,
       Sie sind aber keine Muslima. 
       
       Ich habe immer wieder Stigmatisierungen erlebt. Zum Beispiel beim Zahnarzt,
       der mir sagte, er hoffe, dass ich als nette und gebildete junge Frau nicht
       irgendwann zwangsverheiratet und weggesperrt werde. Das sind Kleinigkeiten,
       die machen aber deutlich, dass man irgendwie nicht dazugehört. Und es
       zeigt, dass antimuslimischer Rassismus nichts mit Religionskritik zu tun
       hat.
       
       [2][Als SPD-Innenministerin Nancy Faeser vorschlug, auch Angehörige von
       straffälligen Clanmitgliedern abzuschieben], haben Sie geschrieben: „Jetzt
       zeigt sich, wohin solche rassistischen Erfindungen wie die sogenannte
       Clankriminalität führen.“ Halten Sie Nancy Faeser für eine Rassistin? 
       
       Ich würde sie nicht als Rassistin bezeichnen. Aber in der Migrationspolitik
       bedient sie sich rassistischer Narrative. Das stört mich massiv.
       
       In Hessen, wo sie Ministerpräsidentin werden will, kommt dieser Kurs ganz
       gut an: liberale Einwanderungspolitik, härtere Abschiebepolitik. 
       
       Mir kommt das vor wie ein Kuhhandel: einerseits öffnen, andererseits
       verschärfen. Das ist frustrierend. Es geht doch um Menschen. Ich finde es
       auch falsch, sie länger oder überhaupt in Abschiebehaft zu stecken. Damit
       treibt man rechte, rassistische Narrative an.
       
       Sind Sie generell gegen Abschiebungen? 
       
       In meinem humanistischen Weltbild muss niemand abgeschoben werden. Das mag
       mancher naiv nennen. Aber auch aus ökonomischer Sicht ist Abschiebehaft
       sehr teuer. Lasst uns das Geld doch lieber investieren, um Menschen zu
       integrieren und auszubilden. Wir haben ja auch ein massives
       Fachkräfteproblem.
       
       Sie wollen die EU-Grenzschutzagentur Frontex auflösen. Also offene Grenzen
       für alle? 
       
       Ja. Und lebenswerte Verhältnisse überall. Das muss langfristig das Ziel
       sein.
       
       Wären Sie mit Ihren Positionen – Kapitalismuskritik, offene Grenzen – nicht
       besser in der Linkspartei aufgehoben? 
       
       Mit der Linkspartei habe ich größere Probleme, allein schon mit ihrem
       Verhältnis zu Russland.
       
       Wieso haben Sie sich vor zwölf Jahren für die Jusos entschieden? 
       
       Als ich 2011 anfing, mich hochschulpolitisch zu engagieren, stand ich
       zwischen Jusos und Grüner Jugend. Mir hat gefallen, dass die
       Juso-Hochschulgruppen besser strukturiert und organisiert waren als die
       Grünen. Über die Jusos hatte ich dann auch Bock, die SPD zu verändern. Denn
       ich bin überzeugt, dass es die SPD für linke Mehrheiten in diesem Land
       braucht.
       
       Die Bundestagsfraktion ist mit 49 Jusos so jung und divers wie nie.
       [3][Auffällig ist aber, dass die jungen Leute sehr brav sind.] Warum ist
       das so? 
       
       Nicht alle! Ich denke, das hat mit dem Verständnis zu tun, dass wir
       Kanzlerpartei sind und Einigkeit zeigen wollen. Es hätte ja niemand
       erwartet, dass wir die Bundestagswahl gewinnen!
       
       Außer Olaf Scholz vielleicht … 
       
       Gut. Aber ich glaube, wir können uns nicht nur als Kanzlerpartei verstehen.
       Dadurch entkernen wir uns zu sehr inhaltlich. Es finden kaum noch Debatten
       statt, es gibt insgesamt wenig Reibung. An manchen Tagen kommt einem die
       SPD vor wie das Presseamt des Kanzlers.
       
       Diese Kritik zielt eher auf die Parteiführung ab. Was muss denn debattiert
       werden? 
       
       Zum Beispiel die Kindergrundsicherung. Es kann doch nicht sein, dass man
       bei einem so kernsozialdemokratischen Thema das Gefühl hat, die SPD ist nur
       in der Vermittlerrolle zwischen Grünen und FDP. Wir hätten die sein müssen,
       die das Thema vorantreiben.
       
       Ihre Familie lebte von Hartz IV. Wie haben Sie als Kind Armut erlebt? 
       
       Fehlendes Geld spielte bei uns eine riesengroße Rolle. Ich bin die älteste
       von sechs Schwestern, meine Mutter war alleinerziehend. Wir haben ständig
       über das Geld gesprochen, das wir nicht hatten. Das Geld für den Schulbus,
       für die neuen Schuhe, für den Ausflug. Oder die Freundinnen wollen ins
       Kino, und man möchte mit. Und man weiß schon, wenn man fragt, dann sieht
       man wieder das gequälte Gesicht der Mutter, aber man fragt halt trotzdem.
       Und jedes Mal heißt es dann, es ist leider kein Geld da. Und das spürt man
       dann natürlich von klein auf.
       
       Wie haben Sie mit diesen Erfahrungen die Debatte über die
       Kindergrundsicherung wahrgenommen? 
       
       Sehr emotional. Gerade, als Christian Lindner sagte, es gehe doch bei
       Kindern von Geflüchteten eher um Integrationskurse. Das war schlimm.
       Natürlich braucht man beim Kampf gegen Kinderarmut die ganze Bandbreite,
       auch gute Infrastruktur und gute Bildung. Aber es geht auch um ganz
       existenzielle Dinge, es geht auch um die neue Winterjacke. Es sollte
       Konsens sein, dass kein Kind in Armut aufwachsen darf.
       
       Und wie finden Sie den Kompromiss, dass es für die Kindergrundsicherung nun
       2,4 Milliarden Euro mehr gibt? Lisa Paus hatte ursprünglich 12 Milliarden
       gefordert. 
       
       Tja. Das macht mich sprachlos. Krass, wie Christian Lindner sich da
       durchgesetzt hat.
       
       Der Finanzminister schien sich der Rückendeckung des Kanzlers sehr sicher
       zu sein. 
       
       Es ist auch meine Einschätzung, dass Olaf Scholz da näher bei Christian
       Lindner ist, auch was die Schuldenbremse angeht. Die halte ich sowieso für
       einen Kardinalfehler der ganzen Ampel.
       
       Jessica Rosenthal ist gleichzeitig Juso-Chefin und Bundestagsabgeordnete.
       Ist sie zu nett zum Kanzler? 
       
       Sie hat auch rote Linien aufgezeigt und zum Beispiel gegen das
       Sondervermögen für die Bundeswehr gestimmt.
       
       Aber es war irgendwie auch eine Sackgasse, oder? 
       
       Nö, so würde ich das nicht sehen. Aber unterschiedliche Zeiten erfordern
       unterschiedliche Rollen.
       
       Sie wollen nicht Bundestagsabgeordnete werden? 
       
       Nein, das möchte ich nicht. Das gibt mir die Möglichkeit, die
       Ampelregierung, die Fraktion und die Partei lauter und kritischer zu
       konfrontieren.
       
       Philipp Thürmer, der ebenfalls für den Juso-Vorsitz kandidiert, hat das
       ebenfalls ausgeschlossen. Was unterscheidet Sie eigentlich? 
       
       Wir bringen unterschiedliche Perspektiven mit. Ich komme selbst aus der
       Armut – und aus der Antifa-Bewegung, dem Aktivismus – und bin erst seit
       einem Jahr im Bundesvorstand. Das muss nicht schlechter oder besser sein.
       Es ist einfach ein Angebot und eine Entscheidung, die der Verband fällen
       kann.
       
       Und eine Doppelspitze wollten Sie nicht bilden? 
       
       Nee, ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, eine Doppelspitze zu bilden,
       nur weil es zwei Kandidaturen gibt.
       
       Sind Sie gegen Doppelspitzen? 
       
       Grundsätzlich finde ich Doppelspitzen gar nicht schlecht. Was mich stört,
       ist, dass jetzt, wo mehr Frauen, mehr marginalisierte Gruppen an die Spitze
       wollen, Doppelspitzen eingeführt werden. Dann frage ich mich: Wie
       feministisch sind eigentlich Doppelspitzen?
       
       3 Sep 2023
       
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