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       # taz.de -- Fußball in Spanien: Das System Rubiales
       
       > Noch ist Luis Rubiales im Amt. An Widersachern im spanischen Fußball
       > mangelt es nicht. Aber denen sind die Übergriffe gleichgültig. Die wollen
       > bloß die Macht.
       
   IMG Bild: Nach dem WM-Titel: Spaniens Weltmeisterinnen und der Verbandspräsident vor dem Moncloa-Palast
       
       Wenn heute eine internationale Umfrage gestartet würde, ob mehr Menschen
       den Ministerpräsidenten Spaniens kennen oder seinen Fußballpräsidenten,
       dann gewönne wahrscheinlich Letzterer, obwohl [1][Luis Rubiales] gar nicht
       mehr im Amt ist, seit ihn die Fifa für drei Monate suspendiert hat. Die
       [2][Schlagzeilen] dominiert er, auch wenn er gar nicht namentlich genannt
       werden muss.
       
       „Wir wissen ja um die Vorgänge beim spanischen Team“, sagte etwa Englands
       Coach Sarina Wiegman, als sie am Donnerstagabend zur europäischen Trainerin
       des Jahres ernannt wurde, und widmete die Auszeichnung ihren
       WM-Finalbezwingerinnen: „Es tut mir sehr weh, als Coach, als Mutter zweier
       Töchter, als Ehefrau und als Mensch.“ Spaniens Aitana Bonmatí, als beste
       Spielerin des Jahres geehrt, erklärte, Machtmissbrauch und
       Respektlosigkeiten gegenüber Frauen müssten ein Ende haben, die
       Gesellschaft solle weiter an sich arbeiten. Aitana räumte ein: „Es sind
       keine guten Tage für den spanischen Fußball.“
       
       Und das alles wegen eines Kusses.
       
       Hätte [3][Rubiales] an sich gehalten, dann könnte er sich jetzt als größter
       Verbandspräsident aller Zeiten feiern lassen. Spanien hat diese Saison so
       ziemlich alles abgeräumt, was man nur abräumen kann. Bei den Frauen hält es
       alle Weltmeistertitel, U17, U20 und A-Bereich. Die Männer gewannen die
       Nations League. Dem Land werden gute Chancen eingeräumt, federführend mit
       Portugal und Marokko die WM 2030 auszurichten. Vielleicht muss man besser
       sagen: Spanien wurden gute Chancen eingeräumt. Bis zu diesem Kuss auf den
       Mund von Jenni Hermoso.
       
       Hätte er ihn unterlassen, wäre [4][Rubiales] mit seinem übrigen Verhalten
       sicher irgendwie durchgekommen. Mit seinem vulgären Griff in den Schritt
       auf der Ehrentribüne. Mit seinen durchweg übertriebenen bis übergriffigen
       Liebkosungen der übrigen Weltmeisterinnen. Mit seinen Anzüglichkeiten
       gegenüber Untergebenen, angezeigt schon 2017 von der ehemaligen
       Marketingdirektorin der Spielergewerkschaft AFE, die er früher präsidierte.
       Mit Orgien auf Verbandskosten, die sein Onkel und Ex-Kabinettschef Juan
       Rubiales voriges Jahr bei der Staatsanwaltschaft denunzierte. Mit dem
       Verkauf des spanischen Supercups an den Folterstaat Saudi-Arabien. Mit
       allem, was längst über ihn kursierte, aber kaum jemanden interessierte. Bis
       zu diesem [5][Kuss].
       
       Die symbolische Wucht der Szene war so enorm, dass seither von einem
       „MeToo“ des Fußballs gesprochen wird. Im Social-Media-Zeitalter kann ein
       kurzer Clip die ganze Welt durchschütteln, aus einem zuvor weithin
       unbekannten Funktionär den Paria des Planeten machen. Eine 70-jährige wie
       Rubiales’ Mutter musste das fast schon so erschrecken, dass sie sich aus
       Protest in einer Kirche isolierte. Rubiales selbst aber hätte ihr den
       mittlerweile aus gesundheitlichen Gründen abgebrochenen Hungerstreik
       ersparen können. Er hätte, wäre er nicht so geblendet von sich selbst, so
       „besessen von Geld, Sex und Macht“ (sein Onkel Juan), zurücktreten können,
       ob mit aufrichtiger Entschuldigung oder nicht – und bald hätte keiner mehr
       von ihm geredet.
       
       ## „Opfer von falschem Feminismus“
       
       Aber der einstige Erstligaverteidiger will nicht verschwinden. Dabei nutzt
       ihm sein Versuch, sich zum „Opfer von falschem Feminismus“ zu stilisieren
       und so den Kulturkampfknopf zu drücken, reichlich wenig. Zwar stieg die
       rechtspopulistische Vox nach langem Schweigen zu Fall jetzt auf seine
       Argumentation ein und beklagte eine „politische und mediale Treibjagd“
       gegen Rubiales.
       
       Doch schon weil sich sein Genitalgriff in unmittelbarer Nähe zu Königin
       Letizia ereignete, halten ihn auch die Konservativen für eine untragbare
       Peinlichkeit. Sie nutzen die Affäre vielmehr, um der sozialistischen
       Regierung ihre jahrelange Toleranz gegenüber Rubiales’ Skandalen
       vorzuhalten. Doch die hat nach dem Kuss sofort umgeschaltet und nutzt den
       Kampf gegen den Fußballlüstling jetzt für ihre progressive Agenda. Wird
       Rubiales nicht von der Fifa endgültig erledigt, wird es das
       Amtsenthebungsverfahren vor dem spanischen Sportgerichtshof TAD tun oder
       letztlich der Verband selbst.
       
       Dennoch ist der Fall Rubiales ein spanisches Vorzeigestück par excellence.
       Das gilt für die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem beim Thema
       Frauenbewegung: Einer emanzipierten Gesellschaft und einer modernen Politik
       steht eine immer noch überdominant männliche – und oft genug machistische –
       Elite in Unternehmen und Verbänden gegenüber. Es gilt aber auch für die
       Manipulationen, PR-Kämpfe und Verschwörungstheorien.
       
       Dass der Verband anfangs Jennifer Hermoso gefälschte Zitate in den Mund
       legte („Es war eine bloße Geste der Freundschaft und Dankbarkeit“), wäre
       anderswo kaum ein geringerer Skandal als der Kuss an sich.
       
       Doch in Spanien wird diese Episode eher wenig thematisiert – zu gewöhnt ist
       man offenbar schon an solche Praktiken. Die Rede ist von einem Land, in dem
       eine Regierung (der konservativen PP) 2004 sogar über die Urheberschaft
       eines islamistischen Attentats mit 193 Toten log, weil sie sich von der
       Schuldzuweisung an die baskische ETA mehr Wählerstimmen versprach. Alle
       Mittel gelten als erlaubt, kein Zynismus als zu zynisch, um die eigene
       Erzählung zu verkaufen.
       
       Denn Spanien ist außerdem ein Land mit bipolarer Tradition. Verhängnisvoll
       wie nie äußerte sie sich im Bürgerkrieg (1936–39), macht aber Koalitionen
       und Kompromisse über die politische Mitte hinweg bis heute unmöglich – und
       zeigt sich auch im nationalen Fußball. Der Gegensatz zwischen Real Madrid
       und dem FC Barcelona ist quasi dessen Geschäftsgrundlage.
       
       Noch größer war in den letzten Jahren aber der geradezu paranoide Konflikt
       zwischen Verband und Liga, zwischen Rubiales und Javier Tebas. Die
       ehemalige Sportbeauftragte der Regierung, Irene Lozano, verfolgte mit
       Entsetzen, wie die beiden Alphatiere aufeinander losgingen, als sie für die
       Wiederaufnahme des Spielbetriebs während der Pandemie vermitteln wollte.
       Beider Kraftausdrücke und Verhaltensweisen muteten Lozano vorsteinzeitlich
       an. Sie schmiss Rubiales wegen seiner Beleidigungen sogar einmal aus ihrem
       Büro.
       
       Dennoch stützte die Regierung den umstrittenen Funktionär. Er verkaufte
       sich als Garant für eine erfolgreiche WM-Bewerbung und als politisch
       affiner im Vergleich zu Ligapräsident Tebas – einem bekennenden
       Sympathisanten von Vox, der nach dem Ende der Franco-Diktatur gar Mitglied
       der faschistischen Fuerza Nueva war, aus deren Umfeld heraus terroristische
       Attentate verübt wurden. Distanziert von dieser Vergangenheit hat er sich
       nie, „bei den meisten Themen denke ich immer noch gleich“, sagte er 2016,
       bereits im Amt von La Liga.
       
       ## Einschüchterung, Diffamierung, Ignoranz
       
       Anderswo mag man sich schwer vorstellen können, dass ein Mann mit einem
       solchen Weltbild in dieser Funktion ist. In Spanien wird es nicht einmal
       problematisiert, wenn wie in der vergangenen Saison ein Spieler wie Reals
       Brasilianer Vinícius die Liga wegen zu laschem Vorgehen gegen Rassismus
       anklagt. Der Fußball hier ist nichts für schwache Gemüter, es wird hier nie
       mit zu weichen Bandagen gekämpft. Kritiker werden eingeschüchtert,
       sympathisierende Medienkanäle erfunden, von der Bearbeitung der
       Schiedsrichter gar nicht erst zu sprechen.
       
       Die Enthüllungen dieses Jahres über eine jahrzehntelange Bezahlung des
       spanischen Schiedsrichterfunktionärs durch den FC Barcelona zeichnete
       insofern ein unmissverständliches Sittengemälde. Real wiederum hat es sich
       über die Jahre zur Angewohnheit gemacht, unliebsamen Referees oder
       Journalisten das Leben unmöglich zu machen.
       
       Auch die Klubs werden von geltungsbewussten Männern regiert, vom mächtigen
       Spitzenunternehmer Florentino Pérez die Madrilenen, vom impulsiven Anwalt
       Joan Laporta die Katalanen. Beim dritten Spitzenverein Atlético Madrid
       sieht es nicht anders aus, dort herrscht ein Tandem aus Geschäftsführer
       Miguel Ángel Gil Marín – Sohn des berüchtigten Macho-Populisten Jesús Gil –
       und Filmproduzent Enrique Cerezo. Bezüglich Letzterem erinnerte die
       Journalistin Berta Collado dieser Tage daran, wie er ihr vor Jahren live
       auf Sendung auf die Frage nach Parallelen zwischen Fußball und Stierkampf
       antwortete: „In diesen zwei Dingen, die du da hast, den Hörnchen.“
       
       Die Verbandsgeschäfte führt nun fürs Erste Pedro Rocha, ein vormaliger
       Rubiales-Vize. Bei den nächsten Wahlen 2024 will er laut eigener Aussage
       nicht antreten. Dafür wird gemunkelt, dass Javier Tebas einen Kandidaten in
       Stellung bringe, Emilio García Silvero. Der ist derzeit Direktor der
       Rechts- und Complianceabteilung bei der Fifa und war somit federführend
       beteiligt an der Express-Suspendierung von Rubiales, die von dessen Lager
       als unüblich schnell und andauernd kritisiert wird. Was nicht alles so
       hinter einem Kuss steckt.
       
       Die Seil- und Feindschaften im spanischen Fußball haben eines gemein:
       Frauen kommen in ihnen praktisch nicht vor. Und bei allem Furor über
       Rubiales lässt sich nicht erkennen, dass dies in Frage gestellt würde.
       Rocha entschuldigte sich am Donnerstag bei Englands Wiegman für die
       Vorfälle vom Finale. Seinen Frauentrainer Jorge Vilda, einen
       Rubiales-Intimus, hat er bisher nicht entlassen. Dem Männercoach Luis de la
       Fuente stärkte er den Rücken, obwohl auch der zu denen gehörte, die
       Rubiales’ surrealen Kampfauftritt am vorigen Freitag („Ich trete nicht
       zurück, ich trete nicht zurück, ich trete nicht zurück“) mit loyalem
       Applaus bedachten.
       
       Was bleibt also von dem infamen Kuss, der die Welt beschäftigt? Wird sich
       wirklich etwas ändern? Im großen Ganzen, wo Nationalspielerinnen in
       Afghanistan, Haiti oder Sambia – und das sind nur die bekannten Fälle –
       wohl ungleich Schlimmeres erlebt haben als Hermoso, nämlich Vergewaltigung?
       Und im großen Kleinen – dem spanischen Fußball? Dem System, das Luis
       Rubiales produzierte.
       
       1 Sep 2023
       
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