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       # taz.de -- Leoš Janáček auf der Ruhrtriennale: Menschenschicksale
       
       > Dimitri Tcherniakov macht aus der Jahrhunderthalle Bochum für Leoš
       > Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ bei der Ruhrtriennale ein Gefängnis für
       > uns alle.
       
   IMG Bild: Die Jahrhunderthalle in Bochum; hier werden die Zuschauer selbst zu einem Teil des Geschehens
       
       Die Jahrhunderthalle in Bochum ist so etwas wie das künstlerische
       Basislager der Ruhrtriennale. Hier begann der innovative
       Welttheater-Belgier Gerard Mortier 2002 die Vergangenheit der
       untergegangenen Industriekultur einer ganzen Region in der Gegenwart für
       die Zukunft wiederzubeleben. Er installierte ein Festival des Besonderen,
       bei dem alle drei Jahre die Intendanz wechselt, also ein künstlerischer
       Neustart in die Struktur eingeschrieben ist.
       
       Für die [1][aktuelle Intendantin Barbara Frey] ist es ihre letzte
       Jahresscheibe. Ein Höhepunkt ist die Einladung an Dmitri Tcherniakov,
       [2][Leoš Janáčeks] „Aus einem Totenhaus“ zu inszenieren. Das Werk, das erst
       nach dem Tod des Komponisten 1930 uraufgeführt wurde, ist keine Oper im
       klassischen Sinne. So wie Janáček sich das Libretto aus [3][Fjodor
       Dostojewskis] Roman „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ (1862) destilliert
       hat, ist es vor allem erinnertes Leben in einem sibirischen Straflager, das
       für fast alle seiner Insassen wohl ihre Lebens-Endstation bleiben wird.
       
       Der viel gefragte russische Regisseur, der sich unter anderem in Berlin an
       einem ambitionierten Ring-Projekt versucht hat und sich stets selbst seine
       Bühnen dazuerfindet, nimmt die gewaltigen Ausmaße der Jahrhunderthalle als
       Herausforderung und als Steilvorlage. Er nutzt die pure Größe dieses
       flexiblen Theaterraums voll aus und macht daraus ein Gefängnis. Oder besser
       eine Anmutung davon.
       
       Drei nebeneinanderliegende Gefängnishöfe werden von drei umlaufenden
       Galerieebenen umgeben. Die Zuschauer sind hier für den Hofgang und die
       Draufsicht von oben verteilt. Den Aufdruck „Gefängnishof“ auf einem Teil
       der Eintrittskarten für die hier nur zu habenden Stehplätze gibt es auch
       nicht alle Tage. So werden die Zuschauer selbst zu einem Teil des
       Geschehens. Sie sehen den Protagonisten in die Augen, hören sie atmen,
       müssen ausweichen, wenn sie nicht umgerannt werden wollen.
       
       ## Pessimistisch-berührende Schlussszene
       
       Am Ende werden alle – ganz gleich, von wo – den Erzählungen der Gefangenen
       aus ihrem Leben und von ihren Verbrechen, ihren kollektiven
       Gewaltausbrüchen und dem in ein groteskes Schlamm-Catchen eskalierenden
       Theaterspiel gefolgt und einem Lastwagen ausgewichen sein, um zum Schluss
       eine Szene an einer langen Tafel mitzuverfolgen, die in ihrem Pessimismus
       besonders berührt. Da wird dem sich selbst als politischen Gefangenen aus
       besseren Kreisen bezeichnenden Alexandr Petrovič Gorjančikov (souverän im
       Kampf um seine Würde: Johan Reuter) vom fiesen Platzkommandanten (Peter
       Lobert mit zynischer Herablassung) seine Freilassung verkündet, die alle
       zunächst euphorisch bejubeln.
       
       Diese übersteigert unwirkliche Fröhlichkeit wird aber durch einen abrupten
       Lichtwechsel und einen Rückfall in Dunkelheit und Erstarrung als pure
       Illusion ad absurdum geführt. Hier ist der Regisseur dichter an der Vorlage
       seines Landsmanns. Und wohl auch an der Realität in seiner Heimat.
       
       Tcherniakov hat die Variante einer sogenannten Raumbühne in die
       Jahrhunderthalle gebaut, wie sie andernorts schon mit Inbrunst und
       wachsender Meisterschaft zelebriert wird. Wer die vierte Wand zwischen
       Bühne und Zuschauer auf diese Weise aufhebt, will Authentizität
       imaginieren, emotionale Kraftströme direkt fließen lassen.
       
       Die Bochumer Symphoniker unter Leitung von Dennis Russell Davies sind
       zentral an einer Längsseite der Jahrhunderthalle im Hintergrund platziert.
       Sie liefern einen raumfüllenden Janáček-Sound, müssen aber in dieser
       Konstellation um die Hauptrolle, die dem Orchester gerade in diesem letzen
       Werk des großen Mähren zukommt, immer wieder ringen. Gleichwohl kommt die
       atmosphärische Musik, die oft wie ein ganz eigener Brückenschlag zwischen
       Romantik und Moderne wirkt, zu ihrem Recht. Deren wiederholendes Kreisen,
       das die die Unentrinnbarkeit exemplarischer Lagerschicksale verdeutlicht,
       wirkt manchmal wie eine Vorwegnahme von minimal music.
       
       ## Episodische Wechselspiel zwischen den Einzelnen und der Masse
       
       Neben dem handverlesenen Protagonistenensemble sichert der Chor des
       Nationaltheaters Brünn per se idiomatisches Tschechisch. Es beginnt mit
       einem ausgelassenen Sturm der Gefangenen in den Hof, bei der sich
       angestauter Bewegungsdrang der eingesperrten Männer zwischen Alberei und
       Gewalt entlädt. Es folgt das episodische Wechselspiel zwischen den
       Einzelnen und der Masse, bei denen die Protagonisten mit darstellerischer
       Intensität für die Profilierung ihrer jeweiligen Rollen sorgen.
       
       John Daszak, der als Skuratov den überdrehtem Spaßvogel mimt – oder Stephan
       Rügamer als souverän wirkender Luka, der sich am Ende als jener Filka
       herausstellt, dem ein anderer (Leigh Milrose als Siskov) letztlich seinen
       Aufenthalt im Lager verdankt und der sich blutig rächt. Dem Alten (Neil
       Shicoff!) bleibt der Hinweis darauf vorbehalten, dass auch der eine Mutter
       hatte.
       
       Es ist ein eindrucksvolles Experiment, das die besonderen Möglichkeiten der
       Jahrhunderthalle nutzt, um mit räumlicher Nähe Wirkung zu erzielen. Was man
       aber aus der Nähe tatsächlich sieht, ist die Kunstanstrengung, genau das zu
       tun. Der Rest sind Dostojevski, Janáček und eine Regie, die auf allfällig
       plakative Statements verzichtet.
       
       3 Sep 2023
       
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