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       # taz.de -- Der Fall Aiwanger: Was neuerdings wieder sagbar ist
       
       > Der öffentliche Diskurs verschiebt sich nach rechts. Gedenkstätten
       > kritisieren einen „erinnerungspolitischen Scherbenhaufen“.
       
   IMG Bild: Hubert Aiwanger erhebt das Bier am 3. September im bayerischen Grattersdorf
       
       Berlin taz | Am Sonntag beendete der bayerische Ministerpräsident Markus
       Söder (CSU) [1][die Causa Aiwanger] und die Enthüllungen um ein
       antisemitisches Hetzblatt. Für Rechtsextremismusforscher Miro Dittrich vom
       Center für Monitoring, Analyse und Strategie ist der Fall aber nicht
       abgeschlossen. Denn: „Wir erleben über die Jahre eine Verschiebung. Dinge,
       die als unsagbar galten, für die man früher zurücktreten musste, werden
       heute so toleriert“, sagte Dittrich der taz. Die Neumitgliedsanträge bei
       den Freien Wählern, von denen Medien berichten, und [2][die jubelnden
       Unterstützer Aiwangers] in den Bierzelten würden für große Ressentiments
       sprechen.
       
       Der Fall werfe laut Dittrich zudem einen interessanten Blick auf die 1980er
       Jahre in Bayern, aber auch darauf, dass man nicht nur ein Problem mit
       Rechtsextremismus im Osten habe, [3][sondern das Problem auch im Westen
       auftauche], ohne dass es bis heute Konsequenzen gebe. Auch bei Josef
       Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, sorgt die Causa Aiwanger für
       Irritationen. „Immer wieder betonte er eine politische Kampagne gegen ihn
       als Person und konnte sich erst spät zu einer Entschuldigung durchringen“,
       sagt Schuster. Er vermisse „eine wirkliche innere Auseinandersetzung mit
       den Vorwürfen und seinem Verhalten zur Schulzeit“.
       
       Schuster ist damit nicht allein. Charlotte Knobloch, Präsidentin der
       Israelitischen Kultusgemeinde München, sagt, Aiwanger müsse „Vertrauen
       wieder aufbauen“. Knobloch machte öffentlich, dass Aiwanger sie zuletzt
       angerufen hatte – eine Entschuldigung Aiwangers habe sie abgelehnt. [4][Die
       vergangenen Tage seien „eine enorme Belastung“ für die Gemeinde gewesen],
       so Knobloch. Sie forderte, die Erinnerungsarbeit gerade bei jungen Menschen
       stärker zu verankern.
       
       Söder hatte Sonntag früh noch mit Schuster und Knobloch telefoniert. Zum
       genauen Inhalt der Gespräche äußerte sich keiner der drei. Söders
       Entscheidung, Aiwanger im Amt zu lassen, nannte Knobloch aber „politisch zu
       akzeptieren“. Sie seien Ergebnis „einer schwierigen Abwägung“. Die jüdische
       Gemeinschaft und die Menschen in Bayern erwarteten politisch stabile
       Verhältnisse. Auch Schuster sagte, in der „Gesamtbetrachtung“ sei Söders
       Entscheidung „nachvollziehbar“.
       
       ## Erinnerung an die Shoah wesentlicher Bestandteil
       
       Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte der
       taz dagegen: „Die Vorgänge der vergangenen Tage um Herrn Aiwanger
       erschweren den Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland.“ Aiwanger habe
       den Sachverhalt „nur unzureichend“ aufgeklärt. „Ich möchte zudem deutlich
       seiner Aussage widersprechen, wonach die Shoah im vorliegenden Fall für
       parteipolitische Zwecke instrumentalisiert werde“. Das Gegenteil stimme:
       „Es gehörte bisher zum unter den demokratischen Parteien üblichen Konsens,
       dass die Erinnerung an die Shoah ein wesentlicher Bestandteil unserer
       offenen, demokratischen Gesellschaft ist.“
       
       Klein hatte Aiwanger auch einen Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau
       nahegelegt, als „gutes Zeichen“. Gegenüber der taz ergänzte er, dass der
       Gedenkstätte zuletzt die Gelder gekürzt wurden. Ein Besuch Aiwangers könnte
       hier „ein Zeichen der Solidarität setzen, das die Gedenkstätte angesichts
       der fehlenden Gelder gut gebrauchen kann“.
       
       Die Gedenkstätte Dachau zeigte sich wenig angetan. „Von
       öffentlichkeitswirksamen politischen Besuchen im Vorfeld der bayerischen
       Landtagswahl möchte die KZ-Gedenkstätte Dachau absehen“, sagte eine
       Sprecherin der taz. Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann wollte sich
       zu der politischen Debatte um Aiwanger nicht äußern. Das Flugblatt hatte
       sie zuletzt aber als klar rechtsextrem bezeichnet. Ihre Sprecherin ergänzte
       zur taz: „Die aktuelle Debatte zeigt, wie wichtig eine lebendige
       Erinnerungskultur und der Kampf gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus
       nach wie vor ist.“
       
       Auch Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und
       Mittelbau-Dora, ist skeptisch. „Mit dem Vorschlag, Aiwanger solle nun mit
       den jüdischen Gemeinden sprechen und eine KZ-Gedenkstätte besuchen, wird
       das Problem auf diejenigen abgewälzt, die für die Erinnerungskultur
       einstehen“, so Wagner zur taz.
       
       ## „In Gedenkstätten wird kein Ablasshandel betrieben“
       
       Statt sich damit auseinandersetzen, warum Aiwanger „mit Schuldumkehr, der
       Beschimpfung seiner Kritiker und einer Jetzt-erst-recht-Haltung durchkommt
       und in Bierzelten dafür gefeiert wird, sollen die Gedenkstätten und
       jüdische Gemeinden die [5][erinnerungskulturellen Scherben zusammenkehren],
       die Aiwanger und Söder hinterlassen haben“, so Wagner. „Dazu werden sie
       sich hoffentlich nicht zur Verfügung stellen. In Gedenkstätten wird kein
       Ablasshandel betrieben.“
       
       Christoph Heubner, Vizepräsident des Auschwitz-Kommittees, warnte derweil
       vor den gesamtgesellschaftlichen Folgen. Der „politische Flurschaden“, den
       Aiwanger mit seinen „egomanischen Redereien“ weiter anfache, werde
       „zunehmend größer und greift mittlerweile auf die gesamte Bundesrepublik
       über“. Jeder öffentliche Auftritt von ihm werde „zu einer demonstrativ
       beklatschten Unterstützung seiner Flugblatt-Aussagen“, so Heubner.
       
       Dass Aiwanger behauptete, er solle politisch „vernichtet werden“, sei für
       Überlebende des Holocaust eine „unerträgliche“ Formulierung. Die ganzen
       Vorgänge ließen „die rechtsextreme Szene in Deutschland jubeln“ und führten
       zu einer „zunehmenden Verstörung“ des Bildes, das die Überlebenden von der
       deutschen Politik bisher hatten. Aiwanger täte sich und der Gesellschaft
       einen großen Gefallen, wenn er eine Auszeit nehmen und Söder um Entlassung
       bitten würde, so Heubner.
       
       Der Antisemitismusbeauftragte Niedersachsens Gerhard Wegner vermisst vor
       allem eine klare Haltung Aiwangers zu dem, was war, und kein Rumgeeiere.
       „Ich fürchte, dass dies ein Tor öffnet zum Neuerwachen eines untergründigen
       antisemitischen Geredes, nicht nur in Bayern“, sagte Wegner der taz. „Die
       Brandmauer gegen Antisemitismus hat einen Riss bekommen.“ Dieses Fazit muss
       auch Rechtsextremismusforscher Dittrich ziehen: „Hier wurde eine Grenze
       überschritten – und diese Grenzüberschreitung verschiebt den Diskurs nach
       rechts.“
       
       4 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
   DIR Tanja Tricarico
       
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