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       # taz.de -- Historischer Prozess gegen Ölkonzern: Sie wollten in Ruhe Öl fördern
       
       > Ein schwedischer Konzern soll in Sudan Beihilfe zu Kriegsverbrechen
       > geleistet haben. Gebiete wurden entvölkert, Tausende bombardiert und
       > erschossen.
       
   IMG Bild: Ian Lundin und Alex Schneiter, Angeklagte im historischen Prozess
       
       Stockholm taz | Es ist der umfangreichste Gerichtsprozess der schwedischen
       Justizgeschichte: Die Staatsanwaltschaft wirft zwei Funktionären des
       Ölkonzerns Lundin-Oil vor, bei schweren Kriegsverbrechen in [1][Sudan
       Beihilfe geleistet zu haben], um selbst ungehindert Ölvorkommen
       auszubeuten. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wertet
       den Prozess als „historisch“. Das Verfahren beginnt an diesem Dienstag vor
       einem Bezirksgericht in Stockholm, angeklagt sind Alex Schneiter, der
       ehemalige CEO, und Ian Lundin, ehemaliger Vorstandsvorsitzender des
       Unternehmens.
       
       Durch die Distanz und schwierige Beweislage waren die [2][Ermittlungen für
       den Prozess aufwändig]. Vor Ort konnte sich die Staatsanwaltschaft kein
       Bild machen. Zudem galt es die Rechtslage zu klären. Die Taten liegen mehr
       als 20 Jahre zurück.
       
       In den Jahren zwischen 1997 und 2003 haben Schneiter und Lundin mutmaßlich
       dazu beigetragen, dass das damalige sudanesische Regime schwere und
       systematische Verbrechen gegen das Menschen- und Völkerrecht beging. So
       haben die beiden laut Anklage die Ölaktivitäten ihres Konzerns im Süden des
       Landes gesichert.
       
       Lundin-Oil war ab 1991 in Sudan aktiv. 1997 schloss sich der Konzern mit
       drei anderen zu einem Konsortium zusammen: mit der Petronas Carigali
       Overseas aus Malaysia, der österreichischen OMV Sudan Exploration und der
       sudanesischen Sudapet. Gemeinsam schlossen sie ein Abkommen mit der
       sudanesischen Regierung, um die Ölvorkommen in einem Gebiet auszubeuten,
       das etwa 30.000 Quadratkilometer umfasst. „Block 5A“ wird die Region in der
       südsudanesischen Provinz Western Upper Nile genannt, sie liegt an der
       Grenze zu Nordsudan. 30.000 Quadratkilometer, das ist in etwa so groß wie
       das Bundesland Brandenburg.
       
       ## Mit Militärs und Milizen
       
       Diese Gegend sei vor dem Auftauchen der Ölkonzerne vom Bürgerkrieg in Sudan
       noch weitgehend verschont geblieben, sagt die Staatsanwaltschaft. Aber mit
       Aufnahme der Ölexplorations- und Ölförderaktivitäten durch Lundin-Oil wurde
       sie zu einer der am schwersten umkämpften Regionen.
       
       Der Zusammenhang sei offensichtlich, heißt es in der Anklageschrift:
       Lundin-Oil habe von der sudanesischen Regierung eine „Säuberungsaktion“
       gefordert, um die ungehinderte Ausbeutung der Ölvorkommen zu sichern.
       Sudans Regierung habe dann ganze Gebiete entvölkert, durch Zwangsräumungen
       der lokalen Bevölkerung und Zerstörung von Dörfern.
       
       Dabei habe Khartum das sudanesische Militär und alliierte Milizen
       eingesetzt – die brutal vorgingen. Es habe „systematische Angriffe gegen
       die Zivilbevölkerung“ gegeben, darunter Bombardierungen aus
       Transportflugzeugen. Menschen seien wahllos aus Hubschraubern erschossen
       worden.
       
       Zehntausende Menschen seien vertrieben, verletzt und getötet worden. 12.000
       Menschen, schätzt die Anklage, seien in der Region von „Block 5A“ getötet
       worden: „Ganze Dörfer und die Ernten wurden niedergebrannt, damit die
       Menschen nichts mehr zum Leben hatten.“ In der Folge sei aber ein
       ungehinderter Förderbetrieb möglich gewesen. Die Staatsanwaltschaft
       bewertet die Beteiligung des Ölkonzerns Lundin-Oil an den
       völkerrechtswidrigen Militäraktionen als strafbare Beihilfe zu
       Kriegsverbrechen. Das rücksichtslose Vorgehen des Militärs und der Milizen
       sei den Angeklagten bekannt gewesen und von ihnen in Kauf genommen worden.
       
       Für den Prozess steht bereits ein konkreter Zeitplan. Die vorgesehene Dauer
       wäre ein Rekord: Gegen die beiden ehemaligen Firmenchefs soll vom 5.
       September 2023 bis zum 19. März 2026 verhandelt werden. Der bisher längste
       Prozess in der schwedischen Justizgeschichte dauerte ein Jahr.
       
       Allein für das Vorlegen der Beweise hat die Staatsanwaltschaft 23 Tage
       geplant. Danach sollen die Verteidigungsteams 50 Verhandlungstage lang Zeit
       haben, dazu Stellung zu beziehen. Insgesamt will das Gericht 95 KlägerInnen
       und ZeugInnen vernehmen. Im Mai 2024 sollen die Anhörungen der 32
       KlägerInnen beginnen und bis Dezember dauern. Anschließend sollen die
       beiden Verdächtigen vernommen werden.
       
       Zwölf Monate, vom Januar 2025 bis zum Januar 2026, hat das Gericht allein
       für die Anhörung von ZeugInnen vorgesehen. Dann können Staatsanwaltschaft
       und Verteidigung im Februar und März 2026 abschließend ihre Plädoyers
       halten.
       
       ## Kontakte in die Politik
       
       Doch damit ist der Prozess voraussichtlich noch nicht am Ende: Abhängig vom
       Urteil des Gerichts wird erwartet, dass entweder die Staatsanwaltschaft
       oder die Verteidigung Berufung einlegen. Der Prozess könnte sich dann noch
       um einige Jahre ziehen. Ein endgültiges Urteil würde vermutlich erst ab
       2028 vorliegen.
       
       Als ZeugInnen hat das Gericht mehrere Experten und politische
       Persönlichkeiten geladen. Zum Beispiel den Historiker Douglas Johnson, den
       ehemaligen Direktor für afrikanische Angelegenheiten beim Nationalen
       Sicherheitsrat der USA, John Prendergast, oder die EU-Sonderbeauftragte für
       das Horn von Afrika, Annette Weber. Auch Gerhart Baum, der ehemalige
       deutsche Innenminister, sowie der ehemalige schwedische Ministerpräsident
       und Ex-Außenminister Carl Bildt stehen auf der Liste.
       
       Brisant: Bevor Bildt 2006 Schwedens Außenminister wurde, war er seit 2000
       Vorstandsmitglied bei Lundin. Baum war zwischen 2001 und 2003
       UN-Beauftragter für die Menschenrechte in Sudan. In einem Interview sagte
       er, er habe Carl Bildt, der die dortigen Ölaktivitäten als Friedensprojekt
       verteidigte, persönlich aufgefordert: „Ihr gießt Öl ins Feuer, ihr müsst da
       raus! Die Ölförderung ist eine Bedrohung für den Frieden.“
       
       Auch abseits der ZeugInnen sind bekannte Namen am Prozess vor dem
       Bezirksgericht beteiligt. Die KlägerInnen vertritt anwaltlich unter anderem
       der ehemalige schwedische Justizminister Thomas Bodström. Zu den
       Verteidigerteams gehört der britische Jurist Steven Kay, der schon den
       [3][bosnischen Serben Duško Tadić] und den kenianischen Präsidenten Uhuru
       Kenyatta in internationalen Strafverfahren verteidigt hat.
       
       Im Zentrum der Beweisfrage steht, inwieweit die Kriegsverbrechen begangen
       wurden, um Platz für Lundin-Oil zu schaffen, und welche Rolle das
       Unternehmen durch seine Kontakte mit den sudanesischen Behörden dabei
       spielte.
       
       Wie gut das gelingt, ist trotz der langen Ermittlungsgeschichte nicht
       abzusehen. Die reicht bis in den Juni 2010 zurück. Dass sie damals eröffnet
       wurden, geht maßgeblich auf die Menschenrechtsorganisation Amnesty
       International zurück. Die hatte schon 2000 die [4][Publikation „Sudan: The
       human price of oil“] veröffentlicht. Genauso wie das NGO-Bündnis „European
       Coalition of Oil in Sudan“ (ECOS), das Augenzeugenberichte und andere
       Beweise mit Einzelheiten zu den fraglichen Kriegsverbrechen sammelte und
       2010 unter [5][dem Titel „Unpaid debt“] publizierte.
       
       Für die schwedische Staatsanwaltschaft erschwerte in den elf Jahren die
       Ermittlung, dass sie keinen Zugang zum Sudan oder Südsudan hatte und
       Tatorte nicht besuchen konnte. 2018 berichteten Medien, ZeugInnen aus
       Südsudan und Nachbarländern würden bedroht. Im November 2021 wurde Anklage
       erhoben. Die zugehörigen Akten umfassen mehr als 80.000 Seiten. Der Fall
       ist komplex, die Beweisfrage schwierig.
       
       ## Angeklagte bestreiten alles
       
       Sowohl Ian Lundin als auch Alex Schneiter weisen jegliche Vorwürfe zurück.
       Der Lundin-Konzern, der Sudan mittlerweile verlassen hat, entgegnet der
       Anklage auf einer [6][umfangreichen Website]: Die Vorwürfe der
       Staatsanwaltschaft seien „schockierend falsch“. Das Unternehmen habe in
       Wirklichkeit der Zivilbevölkerung in Sudan geholfen, behauptet der Konzern.
       „Wir sind überzeugt, dass unsere Aktivitäten zum Frieden und zur
       Entwicklung in Sudan beigetragen haben“, heißt es [7][in einem offenen
       „Brief an die Aktionäre“]. Von Kriegsverbrechen habe man nichts gewusst.
       
       Alex Schneiter, der weder schwedischer Staatsbürger noch in Schweden
       ansässig ist, bestritt außerdem die Zuständigkeit eines schwedischen
       Gerichts. Ein Einwand, der den Prozessbeginn um fast ein Jahr verzögerte.
       
       Allerdings hat Schweden das Universalitätsprinzip bei Kriegsverbrechen
       anerkannt. Seine Justiz kann solche Verbrechen unabhängig vom Tatort oder
       der Staatsangehörigkeit von Opfern oder Tätern verfolgen. Den Einwand
       Schneiters verwarf der Oberste Gerichtshof des Landes [8][im November 2022
       entsprechend].
       
       Möglich ist zudem, dass Lundin als kriminelles Unternehmen eingestuft wird.
       Dann könnten alle finanziellen Straftatvorteile eingezogen werden. Die
       Staatsanwaltschaft beziffert den geschätzten Gewinn, den das Unternehmen
       Orrön Energy (vormals Lundin Energy) mit dem zwischenzeitlichen Verkauf der
       Geschäfte von Lundin-Oil gemacht hat, auf umgerechnet 201 Millionen Euro.
       
       Seitens der südsudanesischen KlägerInnen werden auch Schadenersatzansprüche
       erhoben. Während auf die strafrechtlichen Vorwürfe schwedisches Recht
       anwendbar ist, gilt für die im Rahmen dieses Verfahrens mitverhandelten
       zivilrechtlichen Ansprüche einheimisches Recht.
       
       Internationale Konzerne werden selten wegen Mitschuld an groben und
       systematischen Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich verfolgt. „Überall
       auf der Welt gibt es unglaublich schwere Menschenrechtsverletzungen im
       Zusammenhang mit wirtschaftlichen Aktivitäten“, sagt Olof Björnsson von
       [9][Swedwatch], einer NGO, die untersucht, inwieweit Unternehmen
       internationale Menschenrechts- und Umweltkonventionen respektieren: „Aber
       die Ereignisse in Sudan waren außergewöhnlich, wir sprechen hier von
       schätzungsweise 12.000 Toten und 170.000 Vertriebenen.“
       
       „Seit den Nürnberger Prozessen von 1949 ist kein großes, börsennotiertes
       Unternehmen mehr wegen internationaler Verbrechen angeklagt worden“,
       konstatiert die [10][niederländische Friedensorganisation PAX]: „Der
       Lundin-Prozess sendet ein deutliches Signal an internationale Unternehmen,
       dass es keine Straffreiheit für internationale Verbrechen gibt.“
       
       5 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.aklagare.se/nyheter-press/pressmeddelanden/2021/november/atal-for-medhjalp-till-folkrattsbrott-grovt-brott-i-sudan/%20%3Chttps://www.aklagare.se/nyheter-press/pressmeddelanden/2021/november/atal-for-medhjalp-till-folkrattsbrott-grovt-brott-i-sudan/%3E
   DIR [2] /Schwedischer-Oelkonzern-Lundin-Energy/!5815071
   DIR [3] /UN-Tribunal-fuer-Dusko-Tadi-zustaendig/!1259347/
   DIR [4] https://www.amnesty.org/en/documents/AFR54/001/2000/en
   DIR [5] https://www.ecosonline.org/publications-ecos/
   DIR [6] https://www.lundinsudanlegalcase.com
   DIR [7] ttps://www.lundinsudanlegalcase.com/wp-content/uploads/2019/11/ot_open_letter_ihl_as_15-11-18_e.pdf
   DIR [8] https://www.domstol.se/hogsta-domstolen/avgoranden/2022/115263/
   DIR [9] https://swedwatch.org/publication/investors-fail-to-act-on-allegations-against-lundin-petroleum/
   DIR [10] https://paxforpeace.nl/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reinhard Wolff
       
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