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       # taz.de -- Neue Stadt in Kalifornien: Die Superreichen proben den Auszug
       
       > Tech-Investoren aus dem Silicon Valley wollen eine neue Modellsiedlung
       > errichten. Ist das innovativ oder schlicht verantwortungslos?
       
   IMG Bild: Highway 113 im Solano County, wo die neue Heimstätte errichtet werden soll
       
       Solano County ist ein netter kleiner Fleck in Kalifornien: malerische
       Hügellandschaften wie in der Toskana, Weinbaugebiete, Windräder, Ranches.
       Der Trubel der Bay Area ist weit genug entfernt, sodass die saturierten
       Boomer in Ruhe golfen und kühlen Weißwein schlürfen können. Doch mit der
       Ruhe könnte es bald vorbei sein: Mitten in diesem ländlichen Idyll wollen
       Investoren aus dem Silicon Valley eine Planstadt aus dem Boden stampfen.
       
       [1][Wie die New York Times berichtet], hat ein mysteriöses Konsortium
       namens Flannery Associates in der Gegend eine riesige Landfläche für
       insgesamt 800 Millionen Dollar gekauft. Hinter der Gesellschaft steht das
       Who’s who des Silicon Valley: Wagniskapitalgeber und Netscape-Gründer Marc
       Andreessen, Linkedin-Gründer Reid Hoffman sowie Laurene Powell Jobs,
       Mäzenatin und Witwe des verstorbenen Apple-Gründers Steve Jobs.
       
       Die Projektentwickler, um deren Finanzen sich ein ehemaliger
       Goldman-Sachs-Trader kümmert, haben in den vergangenen Jahren Parzelle um
       Parzelle von Landwirten erworben. Das Areal, das sich über eine Fläche von
       insgesamt 220 Quadratkilometern (zum Vergleich Nürnberg: 186,5
       Quadratkilometer) erstreckt, grenzt an einen Luftwaffenstützpunkt in
       Fairfield, einer Stadt mit 120.000 Einwohnern. Schon seit einiger Zeit gibt
       es Spekulationen, wer der Käufer dieser Grundstücke sein könnte. Plant
       Disney einen Freizeitpark? Oder gibt es Verbindungen zu den Chinesen? Nun
       herrscht Klarheit.
       
       Laut Projektbeschreibung soll auf dem Gebiet eine „neue Stadt mit
       Zehntausenden neuen Häusern, einer großen Solarenergiefarm, Obstgärten mit
       über einer Million neuen Bäumen sowie über 10.000 Hektar neuer Parks und
       Open Space“ entstehen. Eine grüne Modellsiedlung, wie sie der
       Schriftsteller Ernst Callenbach in seiner Zukunftsvision „Ökotopia“ aus dem
       Jahr 1975 entworfen hat, die zur Pflichtlektüre für die kalifornische
       Gegenkultur wurde. Der Milliardär Michael Moritz, der das Projekt
       maßgeblich vorantreibt, träumt von einer „Walkable City“ nach dem Vorbild
       von Paris oder dem West Village in New York.
       
       ## Immobilienpreise explodieren
       
       Nun ist es für den urbanistischen Diskurs ja durchaus fruchtbar, wenn sich
       Investoren aus dem Silicon Valley Gedanken über die ideale Stadt machen.
       Vor ihrer Haustüre allerdings haben die Tech-Konzerne alles andere als
       ideale Zustände geschaffen: Staus durch Roboterautos, Gentrifizierung,
       Wohnungsnot. Zum einen hat das Anwerben hochqualifizierter Arbeitskräfte
       die Nachfrage nach Wohnungen erhöht. Zum anderen hat die Anmietung von
       Büroflächen im Zuge der Unternehmensexpansion den städtischen Wohnraum
       verknappt.
       
       Die Folge: Die Miet- und Immobilienpreise sind in der Bay Area explodiert.
       Selbst Facharbeiter mit gut bezahlten Jobs können die hohen Mieten zum Teil
       nicht bezahlen und müssen in Wohnwagen campieren. [2][San Francisco hat
       eine der höchsten Obdachlosenquoten in den USA.]
       
       Auch in Seattle, dem Hauptsitz von Amazon, hat sich die Wohnungskrise
       verschärft – am Stadtrand sind ganze [3][Zeltstädte von Wohnungslosen]
       entstanden. Google lag mit dem Stadtparlament und Anwohnern in Mountain
       View wegen der Erweiterung seines Hauptquartiers immer wieder über Kreuz,
       das Smart-City-Projekt der Tochter Sidewalk Labs in Toronto scheiterte auch
       am Widerstand der Bevölkerung. Nun also wollen die Tech-Giganten aufs Land
       ziehen, wo sie sich mit Anwohnerprotesten schon gar nicht mehr
       herumschlagen müssen.
       
       [4][Will sich da jemand seiner sozialen Verantwortung entziehen?] Die
       Utopie, mit einer Modellsiedlung ein soziales Experimentierfeld zu
       schaffen, beflügelt die Fantasie libertärer Denker und Unternehmer. So will
       Paypal-Gründer Peter Thiel mit seinem Seasteading Institute schwimmende
       Inseln als mobile Mikronationen in internationalen Gewässern errichten. Und
       Elon Musk, sein Bruder im Geiste, [5][lässt in Texas vor den Toren Austins
       eine Planstadt] bauen. Auf dem Gelände von Snailbrook – der Stadtname ist
       eine Anspielung an das Maskottchen seines Tunnelbauunternehmens Boring
       Company – sollen neben einer Fabrik 110 Häuser für Arbeiter, zwei
       Kaufhäuser, Sportanlagen, ein Schwimmbad sowie ein Golfplatz entstehen.
       
       ## Mauern und Stacheldraht
       
       Snailbrook erinnert an das Modell der Company Town, wie sie etwa der
       amerikanische Schlafwagenfabrikant George Pullman 1880 im Süden Chicagos
       errichten ließ. Die Werkssiedlung, die sich um die Fabrik im Zentrum
       gruppierte, war so konzipiert, dass die Arbeiter die Stadt nie verlassen
       mussten. Es gab Schulen, Kindergärten, eine Kirche und sogar ein Hotel. Der
       Firmenpatriarch wollte so das Freizeitverhalten seiner Arbeiter
       kontrollieren – zum Beispiel, ob sie sonntags in die Kirche gehen oder
       Alkohol konsumieren. Auch Elon Musk ist ein Kontrollfreak, der seinen
       Mitarbeitern Vorschriften bis hin zum Sprachgebrauch macht. Es verwundert
       daher nicht, dass das mit hohem Stacheldraht und Mauern umgebene
       Containerdorf wie eine Kaserne angeordnet ist.
       
       Dass man heute so nicht mehr baut und auch Golfplätze in einer Dürreregion
       nicht mehr State of the Art sind, scheint den Bauherren Musk nicht zu
       stören. Machtmenschen hatten schon immer ihre eigenen Visionen, der sie
       räumlichen Ausdruck verliehen.
       
       Der [6][Urbanist Mike Davis] hat in seinem stadtsoziologischen Klassiker
       „City of Quartz“ (1990) die Privatisierung des öffentlichen Raums und
       Verunstaltung suburbaner Landschaften ausführlich thematisiert: Die
       Projektentwickler würden ihren Lifestyle aus Chardonnay, Klimaanlagen und
       Überwässerung wie ein Wohnmobil in die entlegensten Orte transportieren:
       aufräumen, Mauer hochziehen und das „Produkt“ reinstecken.
       
       So hätten in den 1970er Jahren Immobilienfirmen die französische Lebensart
       in „fortifizierten Mini-Banlieues“ in die kalifornische Wüste gebracht –
       mit „Alte-Welt-Sträuchern“, Fake-Mansarden und Nouveau-Riche-Bezeichnungen
       à la „Chateau“. Entsteht nun auch in Solano County ein Disneyland?
       
       Noch ist nicht klar, was die Tech-Investoren aus dem Silicon Valley mit dem
       Grundstück vorhaben. Einen Flächennutzungs- oder Bebauungsplan gibt es
       (noch) nicht. Daher bleibt vieles Spekulation. Dass aber die
       Stadtentwicklung in die Hände von Investoren fällt, nährt den Verdacht,
       dass am Ende eine weitere Gated Community für Superreiche entstehen könnte.
       
       5 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.nytimes.com/2023/08/25/business/land-purchases-solano-county.html
   DIR [2] /Architekturmuseum-TU-Muenchen/!5819479
   DIR [3] /50000-Obdachlose-in-Los-Angeles/!5940317
   DIR [4] https://onezero.medium.com/survival-of-the-richest-9ef6cddd0cc1
   DIR [5] https://www.dailymail.co.uk/news/article-11855297/See-images-Elon-Musks-Texas-utopia-town-Snailbrook.html
   DIR [6] /Aktivist-Mike-Davis-ist-tot/!5891010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Adrian Lobe
       
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