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       # taz.de -- Mobilmachung der Ukraine: Mehr Soldaten braucht das Land
       
       > Die Regierung in Kyjiw versucht, mit Gesetzesänderungen neue Rekruten
       > heranzuziehen. Auch auf Ukrainer im Ausland will man zugreifen können.
       
   IMG Bild: Braucht Nachschub: Präsident Selenski bei Soldaten an der Front in Donezk am 5. September
       
       Sie sorgt derzeit für Debatten in der Ukraine, die Rekrutierung von
       zusätzlichen Kräften für die Armee. Ende August sagte Präsident Wolodimir
       Selenski bei einem Treffen mit Abgeordneten: „Das Militär hat sich an mich
       gewandt, um entsprechende Möglichkeit zu schaffen.“ Für die
       Ukrainer*innen kam die Ankündigung nicht überraschend, denn die Behörden
       hatten die Öffentlichkeit schon lange darauf vorbereitet, dass der Krieg
       gegen Russland noch Jahre dauern könnte.
       
       Im Sommer leiteten die Behörden Strafverfahren wegen Korruption in
       Rekrutierungszentren und medizinischen Kommissionen der Armee ein. Darüber
       hinaus wollen die Regierung und das Parlament jetzt Gesetzeslücken
       schließen, die es bislang ermöglicht haben, sich der Mobilisierung zu
       entziehen.
       
       So brachte Fjodor Wenislawski, Abgeordneter der Präsidentenpartei „Diener
       des Volkes“, diesen Monat einen Gesetzentwurf ein, der einen Aufschub der
       Einberufung für Männer über 30 Jahre, die gerade eine zweite
       Hochschulausbildung absolvieren, aufheben könnte.
       
       Bislang machten nicht nur Schulabgänger von dieser Möglichkeit Gebrauch,
       sondern auch diejenigen, die die Schule schon vor langer Zeit verlassen,
       ihre erste Hochschulausbildung abgeschlossen sowie Kinder oder Enkel haben.
       Diese Wehrpflichtigen verfügten in der Regel über gute Einkommen und
       könnten daher für ein Studium bezahlen, um automatisch einen Aufschub der
       Einberufung gewährt zu bekommen.
       
       ## Studieren, statt kämpfen
       
       Das Bildungsministerium der Ukraine veröffentlichte Ende August dazu
       folgende Daten: So gab es vor dem Krieg etwa 40.000 Studierende über 25
       Jahre. 2022 belief sich deren Anzahl bereits auf 106.000, in diesem Jahr
       nähert sich der Wert ebenfalls der 100.000-Marke an. „Das bedeutet, dass
       etwa 60.000 Männer beschlossen haben, diese Gelegenheit zu nutzen, um der
       Einberufung zu entgehen“, glaubt der Abgeordnete Wenislawski.
       
       Mittlerweile haben auch Abgeordnete anderer regierungsnaher Parteien
       entsprechende Gesetzentwürfe vorgelegt. Ein Aufschub soll nur noch für
       Studierende unter 30 Jahren gelten, die sich zum ersten Mal einschreiben
       oder ihre Qualifikation verbessern wollen. Auch wissenschaftliches und
       pädagogisches Personal unterliegt weiterhin nicht der Wehrpflicht.
       
       Der Rest der „neuen Studenten“ über 30 Jahre müsste im Falle einer
       Einberufung dienen. Zu Einwänden, damit würden verfassungsrechtliche Normen
       verletzt, sagte Wenislawski: „In Kriegszeiten ist die Einschränkung einiger
       Menschenrechte möglich.“
       
       Schon im August 2022 untersagten die Behörden jungen Studierenden, die
       einen Studienplatz an europäischen Universitäten erhalten hatten, Reisen
       ins Ausland. Dies sorgte bei den Betroffenen und ihren Eltern für Unmut.
       Viele erfuhren erst beim Grenzübertritt von dieser Neuerung.
       
       ## Werden bald Auslieferungsanträge an Bulgarien gestellt?
       
       Die Entscheidung der Behörden wurde damit begründet, dass die Zahl der
       Ukrainer, die im Ausland studieren möchten, dramatisch angestiegen sei.
       Unter den Studienanfängern an ausländischen Hochschulen waren nicht nur
       junge Menschen, sondern auch solche über 40 oder 50 Jahre.
       
       Dieser Tage sind von der Regierungspartei weitere drastische Äußerungen zur
       Mobilisierung zu vernehmen. Wehrpflichtige, die die Ukraine mit gefälschten
       Wehrunfähigkeitsbescheinigungen verlassen haben, sollen zwangsweise in ihre
       Heimat zurückgeschickt werden können. Zu diesem Zweck könne die Ukraine bei
       anderen Ländern einen Auslieferungsantrag stellen, sagte der Vorsitzende
       der Fraktion „Diener des Volkes“, Davyd Arachamija.
       
       Jurist*innen melden Bedenken an. Für jede „Flucht“ ins Ausland wegen
       gefälschter Dokumente müssten sich ukrainische Strafverfolgungsbeamte an
       das entsprechende Land wenden und nachweisen, dass sich die Person dort
       illegal aufhält und versteckt. Erst dann könne ein Auslieferungsverfahren
       eingeleitet werden. Aufgrund europäischer Rechtsnormen könnten Betroffene
       vor Gerichten, zum Beispiel Bulgariens, Polens oder Rumäniens, jedoch
       klagen.
       
       Laut ukrainischem Grenzschutz wurden seit Beginn der russischen Invasion im
       Februar 2022 über 20.000 wehrpflichtige Männer an der Flucht aus dem Land
       gehindert. „Insgesamt haben die Grenzer seit dem 24. Februar vorigen Jahres
       etwa 14.600 Personen festgenommen, die illegal die Ukraine verlassen
       wollten“, sagte Grenzschutzsprecher Andrij Demtschenko am Dienstag im
       Nachrichtenfernsehen. Zusätzlich seien rund 6.200 Männer mit gefälschten
       Ausreisegenehmigungen erwischt worden.
       
       ## Bisschen krank geht jetzt auch
       
       Das Verteidigungsministerium hat derweil den Kreis
       mobilisierungspflichtiger Personen ausgeweitet. Dazu gehört auch eine
       aktualisierte Liste von Erkrankungen sogenannter „eingeschränkt wehrfähiger
       Männer“. Dem Dokument zufolge können nun auch Personen mit Diagnosen wie
       geheilter Tuberkulose, Virushepatitis oder Erkrankungen des endokrinen
       Systems mit geringfügigen Funktionsstörungen einberufen werden.
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel
       
       6 Sep 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Juri Konkewitsch
       
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