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       # taz.de -- Tischtennis im Freien: Flotte Schläger
       
       > In Berlin geht es an den Steinplatten im Freien mit Ehrgeiz und einem
       > Hauch Anarchie um Punkte. In der Stadt boomt Tischtennis als
       > Draußenspielsport.
       
   IMG Bild: Ein schnelles Spiel an der Platte am Wildenbruchplatz
       
       Berlin taz | „Baumseite fängt an.“ Die Gruppe Tischtennisspieler, die sich
       an dem Sonntagnachmittag an den Outdoor-Steinplatten am Wildenbruchplatz im
       Berlin-Neukölln eingefunden hat, kennt diese Regelung natürlich, aber als
       Neuling muss man noch in die hier herrschenden Gepflogenheiten eingeführt
       werden. Und zu denen gehört eben auch, dass automatisch klar ist, wer bei
       einem Match mit den Angaben beginnen darf. Das wird nicht durch Schnick,
       Schnack, Schnuck bestimmt und auch nicht dadurch, dass einer den
       Tischtennisball in einer Faust unter der Platte versteckt und der andere
       erraten muss, in welcher, und der Sieger dann die erste Angabe ausführen
       darf. Sondern wer die Bäume im Rücken hat, wenn er vor der Platte steht,
       fängt einfach an.
       
       An beiden Platten, die an einen Spielplatz angrenzen, treten jeweils
       Zweier-Teams, also Doppel, gegeneinander an. Gespielt wird ein Satz nach
       der seit mehr als 20 Jahren überholten [1][alten Zählweise bis 21 Punkte].
       Das Sieger-Duo darf an der Platte bleiben, die nächsten Herausforderer
       warten bereits.
       
       So läuft das eben hier am Wildenbruchplatz: anders als in den Vereinen,
       anders als im organisierten Tischtennisbetrieb. Diese
       Outdoor-Tischtenniswelt, die seit Corona erblüht und inzwischen als echtes
       Phänomen bestaunt werden kann, funktioniert ein Stück weit nach eigenen
       Regeln. Wozu nicht zuletzt gehört, dass, wie hier am Wildenbruchplatz,
       zwischendurch ordentlich gekifft wird, was in den Vereinen wahrscheinlich
       nicht nur auf Begeisterung stoßen würde.
       
       Wenn man in den letzten Monaten mal unterwegs war in Berlin mit einem
       Tischtennisschläger in der Tasche, konnte man gut beobachten, dass da eine
       regelrechte Outdoor-Szene entstanden ist. Am Landwehrkanal in Kreuzberg ist
       es schon seit vielen Jahren so, dass im Freien auf hohem Niveau Tischtennis
       gespielt wird. Aber das war eine Ausnahme. An den meisten Steinplatten in
       der Stadt wurde doch eher bloß der Ball über das Netz geschubst, und das
       auch nur, wenn das Wetter wirklich herrlich war.
       
       ## Topspins mit Niveau
       
       Wenn man nun aber bei bestimmten Spots vorbeischaut, fällt auf, dass da
       plötzlich auf einem ganz anderen Niveau gespielt wird. Da werden Angaben
       aus dem Handgelenk gezaubert, bei denen einem schummrig werden kann, und
       Topspins ausgepackt, für die es eigentlich einen Waffenschein bräuchte.
       Gearbeitet wird dabei nicht mit irgendwelchen Kaufhausschlägern, sondern
       mit dem guten Material aus den Fachgeschäften. Dustin Hoffmann von einem
       der wenigen ausschließlich auf Tischtennis ausgerichteten Läden in Berlin,
       dem Butterfly Store in Kreuzberg, sagt, manche Outdoor-Spieler würden mit
       400-Euro-Keulen herumrennen, und das sei bei Schlägern preislich schon
       deutlich im oberen Segment.
       
       Festzustellen ist auch, wie geradezu besessen manche von ihrem Freizeitspaß
       sind. Egal ob man mehrmals hintereinander an den Platten im Böcklerpark in
       Kreuzberg oder am Comeniusplatz in Friedrichshain aufläuft, man trifft
       dabei so gut wie immer auf dieselben Leute.
       
       Alle, mit denen man sich über den neuen Tischtennis-Boom im Freien
       unterhält, erzählen einem dieselbe Geschichte, wie sich dieser entwickelt
       hat. Während der Coronapandemie, wo zeitweilig so gut wie alles verboten
       war, was Spaß macht, war wenigstens Tischtennis zumindest im Freien die
       meiste Zeit erlaubt. So begab sich auch so mancher Vereinsspieler mal an
       eine Steinplatte, und wer mit Tischtennis sonst eigentlich nichts am Hut
       hatte, nahm aus lauter Langeweile vielleicht mal wieder seinen alten
       Schläger zur Hand. An bestimmten Outdoor-Spots bildeten sich schnell
       informelle Gruppen, die sich immer regelmäßiger trafen. Und mit der Zeit
       auch diese eigenen Regelwerke wie die Sache mit den Bäumen am
       Wildenbruchplatz. Und dass man hier oder dort lieber auf 21 zählt wie
       früher, das musste auch erst untereinander ausgehandelt werden. An vielen
       Orten wird so ambitioniert gespielt wie in den Vereinen, aber man
       unterwirft sich dabei nicht einfach den dortigen Gepflogenheiten, sondern
       bastelt sich das Spiel mit der kleinen Plastikkugel so zurecht, wie es
       einem am besten gefällt, und verbindet so tradierte Strukturen mit einem
       Hauch von Anarchie.
       
       Lasse, einer der 15 Spieler, die sich an dem Sonntag am Wildenbruchplatz
       eingefunden haben, sagt, auch ihre Gruppe habe während der Pandemie
       zusammengefunden. Erst habe man sich noch für die nächste Partie
       verabredet, bald wusste man, zu bestimmten Zeiten ist eh immer jemand da,
       und inzwischen habe man eine WhatsApp-Gruppe mit etwa 100 Mitgliedern. Es
       gibt nun auch in Berlin entwickelte Tischtennis-Apps wie Sportbench und
       Pongmasters, über die man sich an bestimmten Spots in der Stadt zu einem
       Match verabreden kann, eine Art Tinder für Freizeitspieler.
       
       Tobi von der Wildenbruchplatz-Community erzählt, die meisten von ihnen
       konnten vor Corona kaum etwas an der Platte, inzwischen seien sie aber
       passable Tischtennisspieler. Angefangen hätten sie mit alten Keulen,
       mittlerweile sieht man aber auch am Wildenbruchplatz nur noch Schläger aus
       dem Fachhandel, mit denen sich einfach ganz andere Rotationen in den Ball
       bringen lassen und die es erst ermöglichen, dass aus bloßem Pingpong ein
       echter Sport wird.
       
       ## Explosion nach der Pandemie
       
       Während der Pandemie selbst habe er in seinem Laden von dem Outdoor-Boom
       noch gar nicht so viel mitbekommen, sagt Marc Lampe, der Inhaber des
       Kreuzberger Tischtennisladens. „Kurz nach Corona ist die Sache aber
       explodiert.“ In Berlin so extrem wie in keiner anderen deutschen Stadt,
       glaubt sein Mitarbeiter Dustin Hoffmann. Seitdem würden die beiden nicht
       mehr nur die Vereinsspieler nach bestimmten Hölzern und immer noch
       griffigeren Gummibelägen befragen, sondern auch die Outdoor-Spieler.
       
       Lampe interessiert sich inzwischen sehr für diese neue Szene und hat sogar
       privat eine Liste mit 30 Spots in Berlin zusammengetragen, wo er ein
       erhöhtes Aufkommen an den Platten registriert hat. Sieben
       Tischtenniskneipen hat er in diese auch mit aufgenommen. Dabei ist die
       Kneipenszene, die es schon länger gibt in Berlin, doch etwas anders als die
       im Freien. In den Kneipen wird im Normalfall Rundlauf gespielt. Wer hier
       mit einem 400-Euro-Schläger aufläuft, kein Bier lässig in der Hand hält und
       auch noch verbissen versucht, die anderen rauszuschmettern, blamiert sich
       eher. Draußen aber, da wollen die meisten auch gewinnen, und sie dürfen
       auch gewinnen wollen, ohne sich vor sozialer Ächtung fürchten zu müssen.
       
       Dabei wird darauf geachtet, dass es zu ernst doch nicht zugeht. Das
       Gewinnerduo darf am Wildenbruchplatz ja eigentlich an der Platte bleiben
       und die nächsten Gegner empfangen. Aber die beiden, die gerade einfach alle
       besiegen, bieten irgendwann von sich aus an, mal wieder auf den Bänken
       Platz zu nehmen. „Wir haben hier auch einen Safe Space“, sagt Tobi. Dazu
       gehöre, dass man ein gutes und faires Miteinander pflege. Aber auch, dass
       es an den Platten völlig egal sei, ob der eine nun Ferrari fahre und der
       andere bloß Fahrrad. Hier seien alle gleich. Zur gelebten Achtsamkeit
       gehöre auch, dass an ihrem Spot der Müll entsorgt werde und „wenn Kinder
       kommen und spielen wollen, dürfen die das sofort.“
       
       Inwieweit diese Outdoor-Szene Tischtennis als Sport im Sinne der Vereine
       voranbringt, ist schwer zu sagen. Marc Lampe sagt: „Die meisten wollen
       diese Verpflichtung in den Vereinen gar nicht.“ Und İpek İpekçioğlu[2][,
       besser bekannt als DJ Ipek], die man beim Zocken am Landwehrkanal trifft,
       der schon seit mehr als zehn Jahren ihr Lieblingsspot ist, meint, bei ihrem
       unsteten Lebenswandel als DJ würden ihr feste Trainingszeiten gar nichts
       bringen. Drei bis vier Mal die Woche würde sie, wenn sie in der Stadt ist,
       zu welcher Zeit auch immer draußen spielen.
       
       ## Der Weg zurück in die Hallen
       
       Steffen Zeidler, Vizepräsident der Öffentlichkeitsarbeit des Berliner
       Tischtennisverbands, lässt auf Anfrage dagegen ausrichten: „Grundsätzlich
       ist zu spüren, dass Tischtennis eine sehr beliebte Sportart ist. Dies kommt
       auch aktuell bei den Vereinen an!“, und teilt mit, dass viele Berliner
       Vereine inzwischen sogar wegen Überfüllung einen Aufnahmestopp verhängen
       mussten.
       
       Dass es diesen Transfer von der Straße in die Sporthallen gibt, glaubt auch
       Matthias Hatzak vom Lichtenberger Tischtennisverein SV Sparta. Er selbst
       sei der Beleg. Auch er habe während der Pandemie den Spaß mit dem
       Holzschläger im Freien neu entdeckt, sei dann aber genervt gewesen von Wind
       und Wetter und deswegen in den Verein eingetreten. Und mit ihm acht weitere
       ehemalige Outdoor-Spieler. „Der Verein war fast dabei sich aufzulösen, es
       spielten nur noch ein paar Männer über 60“, sagt er. Jetzt habe sich der
       sichtbar verjüngt und „hat jetzt [3][auch eine Website].“
       
       Dass Männer, ob alt oder jung, ob in einem Verein wie SV Sparta oder
       draußen, sich im Vergleich zu Frauen überproportional für Tischtennis
       begeistern, das ist einfach so. Am Wildenbruchplatz: nur Typen. In der
       WhatsApp-Gruppe der Community: Etwa 90 Prozent Männer. Auch deswegen hatte
       DJ Ipek gemeinsam mit einer Freundin die Veranstaltungsreihe „Queer Ping
       Pong“ während der Pandemie gegründet, wo ausschließlich Flinta* im
       Turniermodus im Freien gegeneinander antreten und dabei DJs auflegen.
       
       Jetzt, wo bald wieder der Winter vor der Tür steht, müssen sich İpek und
       all die anderen Outdoor-Spieler übrigens nicht mal ein anderes Hobby
       suchen. Die Saison geht einfach weiter. Man bekommt am Wildenbruchplatz
       Handyfotos vom vergangenen Winter gezeigt, auf denen vermummte Gestalten zu
       sehen sind, die einen Schläger in der Hand halten. Über den Platten wurden
       Beleuchtungen für die Abendsessions montiert. Diese werde man demnächst
       wieder anbringen, sagt Lasse. Und klingt dabei so, als würde er sich schon
       darauf freuen.
       
       11 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Z%C3%A4hlweise_(Tischtennis)
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