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       # taz.de -- 120 Jahre Theodor Adorno: War er ein Feminist?
       
       > Von der Zauberin Kirke zu „Woman Life Freedom“ – Adorno und die Kraft der
       > feministischen Negation. Zur Erinnerung an seinem 120. Geburtstag.
       
   IMG Bild: Theodor Adorno
       
       Kürzlich fiel mir eine Postkarte in die Hand, die das Kind Theodor
       Wiesengrund mit seiner Mutter Maria Calvelli-Adorno della Piana und deren
       Schwester Agathe zeigt. Das Bild strahlt Vertrautheit aus, der kleine
       Theodor mit verträumtem Blick in einem Buch blätternd, während die beiden
       Frauen aufmerksam-lebhaften und offenen Blicks in die Kamera schauen.
       
       Später schrieb Adorno, dass die Erziehung durch zwei Frauen und in
       weitgehender Abwesenheit väterlicher Autorität für ihn prägend gewesen sei.
       Vielleicht liegt darin das quasi natürliche Verhältnis zu emanzipierten
       Frauen begründet, die in Adornos Schriften unaufgeregt und meist implizit
       erscheinen. Ein Zusammenhang mit der theoretischen Auseinandersetzung mit
       Autoritarismus scheint hier deutlich zu werden.
       
       Das macht Adornos [1][kritische Theorie] nicht per se zu einer
       feministischen. Generell sind Bezüge zur Frauenemanzipationsbewegung sehr
       spärlich, was vor dem Hintergrund seiner Affinität zur subversiven Kultur
       der 1920er Jahre etwas verwundert. Dennoch bietet seine Gesellschaftskritik
       produktive Anschlusspunkte für eine feministische kritische Theorie. Diese
       liegen insbesondere in der Kritik an den vorherrschenden Vernunft- und
       Subjektkonzepten, die deren Verstrickung in männliche Herrschaft aufzeigen.
       
       ## Dialektik der Aufklärung
       
       So ist in einem der Hauptwerke Adornos, der gemeinsam mit Max Horkheimer
       verfassten Dialektik der Aufklärung, an zentraler Stelle vom „identischen,
       zweckgerichteten, männlichen Charakter des Menschen“ die Rede, der aus der
       Herrschaft über die äußere Natur ebenso wie über das eigene Begehren und
       die eigenen Wünsche und Triebe geschmiedet sei.
       
       Alles Abhängige, Weiche, Schwache gilt diesem autoritären Charakter als
       weibisch und deshalb verabscheuungswürdig. Veranschaulicht wird diese
       Genealogie des modernen Subjekts an Odysseus, der sich als erstes
       bürgerliches Individuum am Mythos abarbeitet. Der Mythos ist seinerseits in
       diversen Frauengestalten, Zauberinnen und Mischwesen repräsentiert. Sie
       sind Teil einer materialen Welt, die dem Helden die Matrix für seine eigene
       bürgerliche Selbstermächtigung über die innere und äußere Natur abgibt.
       
       Die Herrschafts- und Kulturgeschichte, die hier kritisiert wird, ist, um
       ein Wort Nietzsches zu verwenden, nicht für die Plebs gemacht, sondern
       vollzieht sich über sie hinweg. In Kirke, Calypso und den Sirenen
       dechiffrieren [2][Adorno und Horkheimer] den Index zivilisatorischen
       Unrechts. Noch nicht ganz von Natur losgelöst, knüpft sich an sie die
       Kritik jener Vernunft, die das Subjekt als kontext- und körperlos setzt.
       
       Sie sind jedoch nicht allein Chiffren einer der männlich-zivilisatorischen
       Herrschaft unterlegenen Natur, der Subjektivierung versagt wird, sondern
       vor allem Einspruch und Widerspruch gegen ein gesellschaftliches
       Naturverhältnis, dessen katastrophaler Verlauf für die ganze Menschheit
       heute zu Tage tritt.
       
       ## Natur als Trug- und Wunschbild
       
       Natur selbst wird dabei weder als gut noch als edel, sondern als
       Phantasmagorie, d.h. als Trug- und Wunschbild und repressives
       gesellschaftliches Verhältnis erkennbar. Die Bilder des Weiblichen werden
       als Ausdruck einer männlich dominierten Geschichte gelesen. Der vorgeblich
       weibliche Charakter ist in diesem Sinn eine Maske männlicher Herrschaft.
       Als dialektische Bilder treten die Frauenbilder aber unversehens in
       Widerspruch zum gesellschaftlichen Ganzen, dem sie entspringen. Darin ist
       eine Kraft der Negation gelegen, die für die feministische
       Gesellschaftskritik neue Impulse öffnet.
       
       Gegenwartsbezogen gewendet stellt sich die Frage, wo heute die
       feministische Negation zu finden ist. Beschreibt Adorno die Zauberin Kirke
       als ersten weiblichen Charakter, weil sie in der mythischen Erzählung das
       Patriarchat stürzt, das auf den Genuss und die Lust den Untergang setzt, so
       würde er in jenen, die heute für Frauen- und LGBTIQ-Rechte weltweit
       kämpfen, vielleicht diesen mythischen Zwang gebrochen sehen.
       
       Sie verlangen das gute Leben nicht nur für sich, sondern für die gesamte
       Gesellschaft in dem Wissen, dass Genuss, der auf Versagung beruht, bloß der
       Abklatsch dessen ist, was das gute Leben sein könnte.
       
       [3][Adornos kritische Theorie] setzt dort an, wo es weh tut: am Leiden und
       an der Erfahrung von Unrecht – in der Intention der Aufhebung von Leid und
       Unrecht. Ziel ist die Emanzipation der Allgemeinheit und das Glück der
       Einzelnen.
       
       In Adornos Werk kommt der Figur der Weiblichkeit eine Kraft der Negation
       zu, weil sie zur Herrschaft in einem antagonistischen Verhältnis steht. Das
       macht aber Frauen nicht qua ihrer Natur (und die ist gesellschaftlich) zu
       Opponentinnen von Herrschaft.
       
       ## Dialektik feministischer Aufklärung
       
       Die schmerzliche Erfahrung, dass Frauen durch Integration in den
       patriarchalen Herrschaftsapparat diesem eine unverzichtbare Stütze abgeben,
       ist mit Adorno ebenso auszusprechen wie das Leid, das von solcher Dialektik
       der feministischen Aufklärung ausgeht – sie schreibt das koloniale Unrecht
       gegenüber nichtweißen Bevölkerungen fort, auch indem Frauen im globalen
       Süden die Rechte und Freiheiten des globalen Nordes im Namen ihrer Kultur
       oder Religion vorenthalten werden sollen.
       
       Von solcher Dialektik der Geschlechterverhältnisse zeugen heute mehr als
       irgendwo anders die feministischen Revolten in Iran und der mutige
       Widerstand von Frauen gegen die brutale Geschlechterapartheid in
       Afghanistan. Die islamistische Männerherrschaft ruht ideologisch auf der
       sexistischen, homo- und transphoben Geschlechterapartheid.
       
       Ähnlich der rechtsextremistischen Ideologie vertritt sie einen
       Eindeutigkeitswahn, der über die Geschlechterapartheid ebenso wie über den
       Antisemitismus gelebt wird. Rechtsextremismus und Islamismus sind nur durch
       diese Ideologien hindurch zu verstehen, die dennoch in der Praxis völlig
       unverständlich bleiben.
       
       ## Freiheit ist universell
       
       „Freiheit ist weder westlich noch östlich, sondern universell“ – das war
       nicht zufällig das Motto massenweiser feministischer Proteste gegen die
       Einführung des Schleierzwangs im Iran 1979. Das Motto der heutigen
       feministischen Proteste im Iran – „Frau Leben Freiheit“ – war schon jenes
       der kurdischen Kämpferinnen gegen den Islamischen Staat. Es stammt aus der
       Erfahrung des Todes und der Trauer und verweist auf die unmittelbare
       körperliche Dringlichkeit von Freiheit für Frauen in einer totalitären
       Männerherrschaft.
       
       In „Frau Leben Freiheit“ drückt sich also eine ganz eigene Universalität
       aus. Die feministischen Kämpferinnen gegen die islamistischen Terrorregime,
       sei es gegen den IS im Irak und in Syrien, gegen die Mullahs im Iran oder
       gegen die Taliban in Afghanistan, sind von eben diesen Regimen unmittelbar
       mit dem Tod bedroht.
       
       Die Kraft der feministischen Negation, die Adorno noch bei Kirke und
       Calypso verortete, liegt heute bei ihnen. Das Abschneiden der Haare, das
       viele Frauen öffentlich vollziehen, ist zugleich ein Akt des Widerstandes
       und einer der Trauer. Als verkörperlichte Natur des Leidens wie des
       Widerstands stehen diese Frauen „am äußersten Gegenpol der Freiheit“, wo,
       folgt man Adornos Ausführungen in der Dialektik der Aufklärung, „die
       Freiheit unwiderstehlich als die durchkreuzte Bestimmung der Materie
       durchscheint“.
       
       Von solchem Freiheitsdrang aus fällt der Blick auf die westlichen
       demokratischen Gesellschaften, aber nicht um der Relativierung, sondern um
       der Solidarität willen.
       
       ## Widerstand gegen Patriarchat
       
       Das Beharren auf Emanzipation als Fluchtpunkt allen Denkens und Handelns
       ist ein Kern von Adornos Gesellschaftstheorie. Dabei ist nicht ein für
       allemal vorgezeichnet, was Emanzipation genau bedeutet, sondern erscheint
       negativ in der Kritik der Herrschaftsgeschichte. Vor dem Hintergrund der
       feministischen Aufstände bedeutet sie zunächst mal nichts anderes als
       Widerstand gegen patriarchale Herrschaft.
       
       So ist in Anlehnung an Adornos berühmten Beginn der Negativen Dialektik zu
       konstatieren, dass der emanzipatorische Impuls im Feminismus, der einmal
       obsolet schien, sich am Leben erhält, weil der Zeitpunkt seiner
       Verwirklichung versäumt ward – und doch im Freiheitsdrang von Frauen
       weltweit beständig eingefordert wird.
       
       9 Sep 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Karin Stögner
       
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