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       # taz.de -- Sicherungsverwahrung: Drinnen vor der Tür
       
       > Menschen in Sicherungsverwahrung kennen sich mit dem Warten aus. Sie
       > haben ihre Strafe im Gefängnis verbüßt und bleiben doch eingesperrt –
       > unter Umständen für immer. Ein System mit Widersprüchen.
       
       Werl taz | Der Beschluss fällt negativ aus: Christian Twachtmann wird nicht
       entlassen. Er sei immer noch „gefährlich“, urteilt das Landgericht Arnsberg
       in Nordrhein-Westfalen bei einer Routineüberprüfung im Juni 2023. Unter
       anderem, weil er nicht an den geforderten Behandlungen teilnehme. Doch die,
       sagt Twachtmann, werden doch gar nicht angeboten. Ohne Angebot aber keine
       Therapie, ohne Therapie keine Entlassung.
       
       Der Besuchsraum der Justizvollzugsanstalt Werl liegt im Erdgeschoss. Sonne
       fällt durch die Gitter hinein. Um helle Holztische sind Stühle mit bunten
       Lehnen gruppiert. An den Wänden ein Regal mit Gesellschaftsspielen, ein
       Kaffeeautomat, ein Tisch am Fenster ist mit Computer und Kamera
       ausgestattet, offenbar für Videotelefonate.
       
       Christian Twachtmann trägt helle, lichte Haarstoppeln, ein hellblaues
       T-Shirt und eine dunkelblaue gestreifte Hose. Nach mehreren Jahren Haft
       wegen Banküberfällen und Betrügereien ist er seit 2021 in der
       Sicherungsverwahrung. Offiziell ist er damit nicht mehr im Gefängnis; raus
       kommt er trotzdem nicht.
       
       Vielleicht nie wieder.
       
       Oder aber noch dieses Jahr, wenn die Sammelklage des Anwalts Adam Ahmed
       Erfolg hat.
       
       In die Sicherungsverwahrung kommen Menschen, die ihre Haftstrafe verbüßt
       haben, die ein Gericht aber weiter für eine Gefahr für die Gesellschaft
       hält. Abwiegen muss es dabei das individuelle Recht auf Freiheit und den
       Schutz der Bevölkerung. Keine einfache Entscheidung.
       
       45.000 Menschen sitzen, Stand 31. März 2023, in Deutschland in
       Gefängnissen, 604 in Sicherungsverwahrung, davon 2 Frauen. Seitdem ist eine
       dritte Frau hinzugekommen. Zwei Drittel der Verwahrten sind
       Sexualstraftäter, die übrigen sitzen wegen Mordes oder Raubes, auch ein
       paar Brandstifter sind dabei.
       
       In die Sicherungsverwahrung kommt man nicht einfach so. Aber immer
       einfacher. Und immer schwieriger wieder raus.
       
       Werl ist die größte Einrichtung für Sicherungsverwahrte in Deutschland. 155
       sitzen hier im Juli 2023 ein. 120 von ihnen haben den Münchner Anwalt Adam
       Ahmed als Rechtsbeistand beauftragt, gegen die weitere Verwahrung zu
       klagen. In einer der Klageschriften, sie umfasst 27 Seiten und liegt der
       taz vor, resümiert Ahmed zehn Jahre nach der letzten Reform der
       Sicherungsverwahrung: „Die gesetzlichen Vorgaben werden in Werl nicht
       eingehalten.“ Die Sicherungsverwahrung in Werl sei daher unverhältnismäßig,
       und die Betroffenen müssten sofort „auf freien Fuß“ gesetzt werden.
       
       Die Defizite sind aus Sicht von Ahmed: Überbelegung, zu wenig Personal,
       unzureichende Unterstützung bei der Resozialisierung und der
       Entlassungsvorbereitung – darunter mangelhafte Aus- und
       Weiterbildungsmöglichkeiten – sowie fehlende individuelle Betreuung, vor
       allem durch Therapeut*innen. Laut Ahmed wurde in Werl darüber hinaus bei
       keinem Insassen die zu Beginn verpflichtende Behandlungsuntersuchung
       durchgeführt, die ermitteln soll, welche Therapien ein Verwahrter braucht.
       Die Gefängnisleitung verweigere zudem, Personalakten von Untergebrachten
       herauszugeben, sodass „ein rechtsstaatliches Verfahren nicht garantiert“
       sei.
       
       Die Insassen bekräftigen die Vorwürfe. Der taz liegen 68 eidesstattliche
       Erklärungen von Untergebrachten aus Werl vor. Darin bemängeln sie unter
       anderem wie auch ihr Anwalt fehlende Behandlungsuntersuchungen und
       mangelnde Akteneinsicht. Darüber hinaus werfen sie dem zuständigen
       Landgericht Arnsberg vor, bei Klagen von Verwahrten oder bei Haftprüfungen
       die Personalakten von Untergebrachten nicht vollständig anzufordern.
       Ausgänge vor die Mauern würden oft nicht oder nur begleitet und mit
       Fesselung gewährt, notwendige Therapiegruppen nicht angeboten werden, auch
       individuelle Behandlungen werden entweder gar nicht oder zu selten
       durchgeführt. „Seit 2,5 Jahren wird mir keine deliktorientierte Behandlung
       angeboten“, schreibt einer. So könne er seine Straftat nicht, wie
       gesetzlich gefordert, aufarbeiten und habe deshalb keine Aussicht auf
       Entlassung.
       
       Twachtmann sagt: „Wenn man nach Recht und Gesetz verurteilt und eingesperrt
       wird, sollte man in einem Rechtsstaat auch nach Recht und Gesetz behandelt
       und therapiert werden. Das ist in der Sicherungsverwahrung in Werl nicht
       der Fall.“
       
       Thomas König, Leiter der Justizvollzugsanstalt Werl, sieht die Klage Ahmeds
       gelassen. Sie sei sehr allgemein gefasst, bei der Entlassung von
       Sicherungsverwahrten gehe es aber darum, wie jeder individuelle Fall zu
       bewerten sei. Mehr möchte er dazu nicht sagen.
       
       Christian Twachtmann, heute 45 Jahre alt, hat sein halbes Leben in Haft
       verbracht. Das erste Mal sitzt er im Jahr 2000 ein, da ist er 22. So geht
       es aus seinen Akten hervor. Der Supermarkt, bei dem er eine Ausbildung
       angefangen hat, hat dichtgemacht, die Ausbildung muss er abbrechen. Er
       jobbt danach mal in der Disko, mal im Getränkemarkt. Dann entdeckt er die
       Verkaufsplattform Ebay, die in Deutschland gerade erst gestartet ist. Dort
       bietet er unter fremdem Namen Waren an, die er nicht besitzt. „Ich hatte
       festgestellt, dass man mit wenig Aufwand viel Geld verdienen konnte“,
       erzählt Twachtmann Anfang Mai dieses Jahres im Besucherraum der JVA Werl.
       Mit dem Geld kauft er Essen, Klamotten, hat Spaß.
       
       Von Dauer ist die Masche nicht. Twachtmann wird erwischt und kommt in
       U-Haft. Dann Gefängnis, auf Bewährung raus und das Ganze von Neuem. Nach
       der nächsten Verurteilung im Jahr 2002 kommt er 2006 in den offenen
       Vollzug, haut ab.
       
       Twachtmann hört von den Gentlemen-Bankräubern, die so genannt werden, weil
       sie sich ihren Opfern gegenüber verhältnismäßig höflich verhalten. Das
       spricht ihn an. Er geht in eine Bank, einmal, zweimal, erst beim dritten
       Mal traut er sich, die Waffe zu zücken: eine Luftwaffe, die aussieht wie
       eine echte. Twachtmann raubt gleich noch eine Bank aus. Und eine dritte.
       Doch schon bald wird er erneut gefasst. Sieben Jahre bekommt er für die
       Überfälle. Als er rauskommt, ist er 35, hat keine Unterkunft, keinen Job,
       kein Geld. Er schläft erst bei Verwandten, dann bei Freunden.
       
       Kein halbes Jahr später überfällt er wieder eine Bank. Wieder soll er für
       sieben Jahre in Haft. Und anschließend in Sicherungsverwahrung.
       
       Die Idee der Sicherungsverwahrung ist alt. Gesetzentwürfe gibt es bereits
       im 18. Jahrhundert. Aber erst die Nazis führen sie 1933 ein, 3.258
       „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ sowie Rückfall- und Mehrfachtäter
       sitzen 1936 ein.
       
       Die BRD übernimmt das Konzept, die Zahl der Verwahrten sinkt allerdings
       stark: 1961 werden bundesweit 688 Menschen verwahrt, darunter 9 Prozent
       Gewalttäter. Fast zwei Drittel sind Betrüger und Diebe. Dank einer
       Gesetzesänderung kommen die ab den 70er Jahren gar nicht mehr in die
       Sicherungsverwahrung. So sinkt die Zahl weiter, bis es 1991 noch 182
       Verwahrte gibt. Gefängnisleitungen, Kriminolog*innen und
       Rechtsanwält*innen gehen schon davon aus, dass sich die
       Sicherungsverwahrung bald selbst erledigt. Doch es kommt anders.
       
       Der Jurist Tillmann Bartsch spricht in seiner Dissertation von 2011, die
       eine Art Grundlagenwerk für das Thema ist, von einer „Renaissance“ der
       Sicherungsverwahrung in den 90er Jahren. Grund sind mehrere
       Sexualverbrechen, „einzelne, durchweg schreckliche Ereignisse, die die
       Bevölkerung außerordentlich bewegten“: In Oberbayern tötet ein
       vorbestrafter Sexualstraftäter ein siebenjähriges Mädchen. Im
       niedersächsischen Varel ermordet ein Mann eine Zehnjährige – acht Jahre,
       nachdem er schon einmal ein Mädchen erdrosselt und dafür auch eine
       Jugendhaftstrafe abgesessen hat. Im Nachbarland Belgien ermordet ein Mann
       zwei Frauen und missbraucht elf Kinder.
       
       Die Medien berichten ausführlich über die Fälle, fordern hohe Haftstrafen.
       Als 2004 der Bundesgerichtshof ein härteres Urteil gegen einen
       Sexualstraftäter aufhebt und dieser nach Entlassung aus der Haft wieder
       eine Frau vergewaltigt, prangert die Bild den „Saustall Justiz“ an und
       erhält dafür eine Rüge vom Presserat.
       
       Auch Politiker schalten sich ein. Christian Wulff von der CDU, damals
       Ministerpräsident von Niedersachsen, beklagt die vermeintlich zu milde
       Strafvollzugpraxis, der damalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder
       behauptet in der Bild am Sonntag gar, Sexualstraftäter seien „nicht
       therapierbar“. [1][Man müsse sie „wegschließen – und zwar für immer!“]
       
       Das stößt auf Resonanz. In Umfragen zeigen sich Menschen in ihrem
       Sicherheitsempfinden erschüttert, wie Tillmann Bartsch es beschreibt. Da
       Sexualverbrechen mehr ins Bewusstsein rücken, sei der Eindruck entstanden,
       dass ihre Zahl sich stark erhöht habe. Doch Wahrnehmung und Wirklichkeit
       klaffen auseinander: Laut Polizeilicher Kriminalstatistik bewegt sich die
       Anzahl der Sexualmorde in den 70er und 80er Jahren zwischen 30 und 40 pro
       Jahr. 1990 sind es 23, im Jahr 2000 dann 16, fünf Jahre später 14.
       
       ## Die Zahl der Insassen stieg wieder
       
       Dennoch steigen die Zahlen der Verwahrten ab 1990 wieder an, [2][Gesetze
       werden verschärft]. Ab 1998 müssen Verwahrte nicht mehr nach zehn Jahren
       entlassen, sondern können auf unbestimmte Zeit festgehalten werden.
       
       Das soll sogar rückwirkend gelten. Dagegen jedoch klagt der Verwahrte M.
       aus Schwalmstadt in Hessen. Am Ende seines langen Gangs durch die Gerichte
       wendet er sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der gibt
       ihm recht. Denn: Auch gefährliche Gewalttäter haben Rechte.
       
       Daraufhin befasst sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit dem Fall und
       [3][verpflichtet den deutschen Gesetzgeber im Jahr 2011 zur Reform]. Die
       Sicherungsverwahrung muss sich zukünftig stärker von der regulären Haft
       unterscheiden. Außerdem sollen die Verwahrten eine realistische Perspektive
       erhalten, wieder in Freiheit zu gelangen. Im Grunde bedeutet das:
       behandeln, bis sicher ist, dass sie draußen zurechtkommen, ohne wieder
       straffällig zu werden. Bis 2013 müssen die gesetzlichen Vorschriften
       angepasst werden.
       
       Die rückwirkende Aufhebung der Zehn-Jahres-Regel kippt das
       Bundesverfassungsgericht aber nicht. Es bedient sich eines Kniffs: Das
       Rückwirkungsverbot ist zentraler Kern des deutschen Strafrechts. Die
       Sicherungsverwahrung soll nun nicht mehr Strafe, sondern „Maßnahme der
       Besserung und Sicherung“ sein.
       
       Damit ist die Rückwirkung möglich. Länger als zehn Jahre soll die
       Sicherungsverwahrung jedoch nur in Ausnahmefällen dauern, nämlich wenn von
       einem Verwahrten noch „erhebliche Straftaten“ zu erwarten sind.
       
       Doch Zahlen aus den Bundesländern, die die taz abgefragt hat, zeigen: Eine
       Ausnahme ist es nicht. Im Durchschnitt bleibt etwa ein Drittel aller
       Verwahrten länger als zehn Jahre eingesperrt. Den Rekord hält
       Baden-Württemberg mit einem Mann, der 34 Jahre hinter sich hat. Es ist kein
       Wunder, dass die Anzahl der Sicherungsverwahrten bundesweit kontinuierlich
       steigt.
       
       Aber warum? Das liegt zum Teil an der Schwierigkeit, die zentrale Frage der
       Sicherungsverwahrung zu beantworten: Wie will man wissen, ob ein Mensch,
       der seit Jahren in einer Haftanstalt einsitzt, draußen wieder Straftaten
       begehen würde – zumal erhebliche?
       
       Eine Reihe von Regeln soll dafür sorgen, dass diese Frage in jedem
       einzelnen Fall richtig beantwortet wird. So soll die Sicherungsverwahrung
       erstens möglichst gar nicht verhängt werden. Sie wird nur angeordnet, wenn
       ein Straftäter mehrmals mit der gleichen – schweren – Tat straffällig
       geworden ist, also mehrmals gemordet, vergewaltigt oder Banken überfallen
       hat.
       
       Kommt es doch dazu, sollen mehrere Stellen immer wieder kontrollieren, ob
       die Voraussetzungen für eine Entlassung gegeben sind. Bereits in der
       Strafhaft sollen die Betroffenen an therapeutischen Behandlungen
       teilnehmen, dort ihre Delikte aufarbeiten. Ziel ist, dass sie keine Gefahr
       mehr für andere darstellen und entlassen werden können. Was die
       Sozialpädagog*innen und Psycholog*innen hören und sehen,
       protokollieren sie in den Gefangenenpersonalakten. Eine Schweigepflicht
       haben sie nicht. Damit haben die Behandler*innen eine nicht ganz
       unproblematische Doppelrolle: Einerseits sind sie Stütze für die Insassen,
       andererseits Zeugen der Anklage.
       
       Die Entscheidung, ob nach Absitzen der Strafhaft die Bedingungen für eine
       weitere Verwahrung noch gegeben sind, trifft ein Gericht. In der
       Sicherungsverwahrung prüft es dann einmal im Jahr, später alle neun Monate,
       ob es die Verwahrten weiterhin für eine Gefahr für die Gesellschaft hält.
       Eine umfangreiche Prüfung steht nach zehn Jahren an. Denn eine längere
       Verwahrung soll ja nur die Ausnahme sein.
       
       Als weitere Kontrollinstanz müssen Gerichte in bestimmten Abständen
       Sachverständige hinzuziehen, meist Psychiater*innen, die sich anschauen,
       wie Verwahrte ihre Taten reflektieren, wie sie sich entwickelt haben,
       welche Lebensumstände sie nach einer Entlassung erwarten. Dazu werden neben
       Gesprächen und dem Aktenstudium auch standardisierte Fragebögen verwendet,
       darunter solche, die die Rückfallwahrscheinlichkeit errechnen sollen.
       
       Doch statistische Prognoseinstrumente gelten als fehleranfällig: Sie
       erzeugen viele „falsch Positive“, heißt es in einem Fachartikel zur
       „Qualität der Prognosegutachten“ von Menschen im Maßregelvollzug. Einer der
       Autoren ist Norbert Leygraf, von der Bild einmal „Psychiatrie-Papst“
       genannt. Fazit des Artikels: Es gibt kaum Gutachten, „die der Entlassung
       den Weg bereiten“.
       
       Christine Graebsch, Jura-Professorin und Leiterin des
       [4][Strafvollzugsarchivs, eines Vereins zur „Dokumentation und Aufklärung
       über Recht und Rechtswirklichkeit in Gefängnissen“], geht sogar noch
       weiter: „Ich kenne kaum jemanden, der auch mal positive Gutachten
       schreibt.“
       
       Ihre Erklärung: „Bei Prognosen gibt es zwei Arten von Fehlern.“ Der erste
       ist, die Entlassung von jemandem zu befürworten, der dann eine schwere
       Straftat begeht. „Das bekommen alle mit, alle fallen über den
       Sachverständigen und das Gericht her. Im Zweifel macht man also lieber den
       anderen Fehler, nennt jemanden ‚noch gefährlich‘, er bleibt drin, und
       niemand wird den Fehler je bemerken, weil man ja nicht weiß, ob er draußen
       eine Straftat begangen hätte oder straffrei geblieben wäre.“
       
       ## Fehlerhafte Gefährlichkeitsprognosen
       
       Gefährlichkeitsprognosen vor allem bei schwerer, aber seltener Kriminalität
       – wie Sexualstraftaten – weisen sehr hohe Fehlerquoten auf. Da sie so
       selten sind, fehlen ausreichend Daten, um tatsächliche Wahrscheinlichkeiten
       ausrechnen zu können, erklärt die Kriminologin Katrin Höffler in einem
       Fachartikel. Untersuchungen beruhen auf Fällen, in denen gefährliche
       Straftäter zum Beispiel aufgrund von Verfahrensfehlern die Haft nicht
       angetreten haben oder frühzeitig entlassen wurden. Dabei zeigt sich, dass
       etwa 15 Prozent von ihnen rückfällig wurden. Übertragen auf die
       Sicherungsverwahrung heißt das: 85 Prozent wären zu Unrecht eingesperrt.
       
       Zurück nach Werl. Norbert Konrad, seit 2016 in der Sicherungsverwahrung,
       kommt ganz in Schwarz gekleidet in den Besucherraum. Er trägt Jeans und
       einen Kapuzenpullover, unter dem sich ein Bauch wölbt. Die Kleidung schickt
       ihm ein Bekannter. Die Haare weißblond, Seitenscheitel. Um den Hals hängt
       ein Brillenband mit Lesebrille.
       
       Der 56-Jährige bringt eine dünne Kladde mit. „Mein Todesheft“. Konrad
       schlägt eine Seite auf. Dort hat er verzeichnet, wann wer in Werl seit 2016
       gestorben ist: Er hat 17 Personen gezählt. Bis Mitte August kommen zwei
       weitere hinzu. Der Jüngste war 46. Der Älteste über 80. Das
       nordrhein-westfälische Justizministerium bestätigt die Zahlen.
       
       Konrad, der wie Twachtmann ein Großteil seines Lebens in Haft verbrachte,
       fürchtet, dass das auch sein Schicksal sein wird. „Hier kommt keiner mehr
       raus“, sagt er. Es sind zumindest nicht viele: 2020 wurden nach Angaben des
       Ministeriums drei Männer entlassen, 2021 sieben, 2022 wieder zwei. Das sind
       2 bis 5 Prozent pro Jahr. Auch der bundesweite Schnitt ist mit 8 bis 10
       Prozent niedrig.
       
       Als Jüngster von acht Geschwistern verbrachte Norbert Konrad seine Kindheit
       in einem Dorf in Hessen. Die Familie hatte wenig Geld, der Vater wurde früh
       zum Pflegefall, Konrad kümmerte sich. „Von Bub an“ kochte er. Nach der
       Schule begann er eine Ausbildung zum Altenpfleger, arbeitete oft zwei
       Schichten hintereinander.
       
       In Konrads Heimat gibt es eine Tradition: Sogenannte „Grenzgänger“ gehen
       von Dorf zu Dorf und „hauen sich den Kopf voll“. Konrad ist 20, als ein
       Verwandter von ihm in einer dieser Nächte eine Schlägerei anfängt. Konrad
       fällt hin, eine Flasche geht zu Bruch. Er nimmt eine Glasscherbe und rammt
       sie einem Mann aus der anderen Gruppe in den Hals. Er kommt das erste Mal
       ins Gefängnis. Von damals stammt der blaue Fleck unter seinem rechten Auge.
       „Eine Knastträne“, erklärt er. „Wir haben eine Tätowiermaschine gebaut,
       aber die Hand ist abgerutscht.“
       
       Von da an geht Konrad im Gefängnis ein und aus. Wenn er draußen ist,
       versucht er sich von alten Bindungen zu lösen, zieht nach Süddeutschland,
       bekommt Unterstützung von einer christlichen Gemeinschaft. Doch fernhalten
       von seinem früheren Leben kann er sich auf Dauer nicht. Konrad wird
       schließlich wieder angeklagt, zur Last gelegt werden ihm wiederholte
       schwere Gewalttaten. Das Gericht ordnet anschließend an den
       Gefängnisaufenthalt die Sicherungsverwahrung an.
       
       Hier sitzt er nun seit sieben Jahren. „Früher habe ich von morgens bis
       abends geschrieben“ – Anträge an die Anstaltsleitung, Klagen vor Gericht.
       Für sich und andere Insassen. Er kennt die meisten Männer in der
       Sicherungsverwahrung in Werl, kommt mit allen klar. Ist Sprecher der
       Gefangenengewerkschaft GG/BO.
       
       Gefangene können, wenn sie den Abteilungsleiter, den Gefängnisseelsorger
       oder die Ärztin sprechen möchten, wenn sie Papier oder neue Seife brauchen
       oder an einem Gruppenangebot teilnehmen möchten, [5][einen Antrag an die
       Anstaltsleitung schreiben]. „Oft ist es so, dass ein Gefangener einen
       absolut berechtigten Antrag stellt, die Anstalt ihn aber mit absurden
       Begründungen ablehnt“, sagt die Juristin Christine Graebsch. Der Verwahrte
       kann sich dann ans Gericht wenden. Das aber gebe in den meisten Fällen der
       Anstalt recht, sagt Graebsch, der Gefangene versuche sich dagegen zu
       wehren, verliere aber wieder. „Er versucht die ganze Geschichte
       aufzuklären, mit der Zeit werden die Anträge komplex, keiner blickt mehr
       durch, und so schaukelt sich das immer mehr hoch.“ Richtig sei: „Am Anfang
       steht immer ein Unrecht, das die Gefangenen erfahren haben und das nie
       bestätigt oder aufgeklärt wurde.“
       
       Dieses Unrecht ist allerdings schwer zu beweisen. Das liegt auch daran,
       dass Insassen und ihre Anwält*innen erst mal nur ein Recht auf
       Aktenauskunft haben. Selbst in die Akte zu blicken, ist nur unter
       bestimmten Voraussetzungen vorgesehen. Graebsch findet das falsch: „In
       allen mir bekannten anderen Rechtsgebieten hat man ganz selbstverständlich
       ein Recht auf Akteneinsicht. Aber in diesem Bereich soll die Aktenauskunft
       genügen. Das ist absolut vorrechtsstaatlich.“ Gefangene bekämen auf Antrag
       lediglich eine oder zwei Seiten aus der Akte in Kopie. „Auf dem Blatt davor
       oder danach steht vielleicht genau das Gegenteil.“
       
       Dass Verwahrte überhaupt in die Akten schauen wollen, ist eher
       ungewöhnlich. Die meisten wollen nur ihre Ruhe.
       
       ## Viele Insassen zeigen Anzeichen von Hospitalisierung
       
       Die taz hat für die Recherche mit mehreren Verwahrten aus unterschiedlichen
       Anstalten gesprochen sowie mit Anwält*innen,
       Gefängnisseelsorger*innen, Psychotherapeut*innen und
       Wissenschaftler*innen. Ihre Berichte zeigen: Nach Jahren des
       Eingesperrtseins, wo alles von der Weckzeit über die Nahrungsaufnahme bis
       hin zur Zimmereinrichtung fremdbestimmt ist, wo sie vor allem mit anderen
       ehemaligen Straftätern zu tun haben und die Außenkontakte abnehmen, ziehen
       sich viele Menschen zurück. Man nennt es „Hospitalisierung“. Sie schauen
       auf ihren Zellen fern, spielen Computerspiele, lehnen Gruppenangebote ab.
       
       Auch Konrad ist nicht mehr so aktiv wie früher. Er hat Schmerzen, erzählt
       er, vor knapp zwei Jahren sei eine Zyste im Bereich seiner linken Niere
       entdeckt worden, die ihn nachts kaum schlafen lasse. Er macht sich Gedanken
       darüber, was mit ihm geschieht, wenn er pflegebedürftig wird. Für ältere
       Mitverwahrte wünscht er sich eine bessere Versorgung durch die JVA. Auch
       psychisch geht es ihm schlecht. Statt Anträge zu schreiben, sitzt er jetzt
       ewig vor einem leeren Blatt. Besuch will er keinen, zu deprimierend sei es
       für ihn zu sehen, wie der wieder nach draußen geht, während er selbst
       drinnen bleiben muss. Seine Aufgaben als GG/BO-Sprecher nimmt er kaum noch
       wahr. Durchs Fenster seines Zimmers kann er auf eine grüne Wiese blicken.
       Aber: „Ich habe jetzt immer den Vorhang zu. Ich kann die Gitter einfach
       nicht mehr sehen.“
       
       Die Justizvollzugsanstalten sind – so steht es in den Landesgesetzen zur
       Sicherungsverwahrung – verpflichtet, die Verwahrten zu „motivieren“. Das
       klappt mal mehr, mal weniger gut. Nehmen die Verwahrten allerdings keine
       therapeutischen Angebote wahr, haben sie ein Problem: Denn die Teilnahme
       daran ist unabdingbare Voraussetzung für die Entlassung.
       
       ## Konrad will nicht wissen, was die anderen Insassen taten
       
       Norbert Konrad hatte Anfang des Jahres eine Gruppe mit dem Namen „Auftakt“
       besucht. Dort sollten er und die anderen ihre Umgangsweisen reflektieren
       und neue erlernen. Doch ständig seien die Treffen ausgefallen. Kontinuität
       sieht anders aus. Offen reden wollte Konrad in der Gruppe ohnehin nicht.
       Die Sitzungen fanden im kameraüberwachten Mehrzweckraum statt, die
       Behandler*innen hatten keine Schweigepflicht. Was die anderen
       Teilnehmer in Gruppen wie diesen erzählen, will sich Konrad auch nicht
       anhören. „Die ganzen Delikte – ich bin ja selbst kein Engel – aber was
       manche Leute so erzählen – ich habe einfach Angst, dass das irgendwann für
       mich normal wird.“ Er komme auch besser mit den anderen Untergebrachten
       klar, solange er nicht so genau wisse, was sie gemacht haben.
       
       Und auskommen mit ihnen muss er, solange er einsitzt. Für andere Verwahrte
       sind die in vielen Gruppen geforderten Rollenspiele ein Grund, gar nicht
       erst teilzunehmen. Er habe „kein Bedürfnis, Sexualdelikte nachzuspielen“,
       sagt einer der taz.
       
       Die vielen ausgefallenen Termine – sie haben eine Ursache: Personalmangel.
       In der Klageschrift des Anwalts Adam Ahmed heißt es: „In der JVA Werl gibt
       es zu wenig Personal, um eine angemessene Betreuung und Behandlung der
       Personen in Sicherungsverwahrung zu gewährleisten.“ Und tatsächlich, in
       Werl arbeiten nur etwa halb so viele Psycholog*innen und Justizbeamte
       sowie ein Drittel so viele Sozialarbeiter*innen, wie der
       Personalschlüssel vorsieht.
       
       Auf den Mangel an Personal angesprochen, meint der Anstaltsleiter der JVA
       Thomas König, dass so wenige hier arbeiten wollen, liege unter anderem an
       der geografischen Lage von Werl – einer Kleinstadt ohne optimale Anbindung
       an Metropolenregionen. Man versuche das zu ändern, indem angestellte
       Psycholog*innen unterstützt würden, eine Psychotherapie-Ausbildung zu
       beginnen und diese teils in der JVA Werl zu absolvieren. Und indem auf
       externe Therapeut*innen zurückgegriffen werde.
       
       Für die gibt es eine große Nachfrage. Auch Norbert Konrad verspricht sich
       davon mehr als von den angestellten Psycholog*innen. Einen Antrag darauf
       habe er vor drei Jahren gestellt. Seitdem stand er auf einer Warteliste.
       Erst im Mai dieses Jahres wurde ihm ein Therapeut zugewiesen. Nun sprechen
       sie jeden Mittwoch miteinander. Ob das seiner Entlassung diene oder nicht,
       sei ihm egal. „Das mache ich nur für mich. Ich nehme mit, was mir hilft.“
       
       Und Konrads Sorge, nie wieder rauszukommen? Die ist geblieben – trotz der
       Massenklage. Auch für ihn liegt ein entsprechender Antrag vor Gericht.
       Gehört hat er noch nichts. Aber: „Ein bisschen Hoffnung hat man natürlich
       immer.“
       
       ## Sie erbringen ein „Sonderopfer“
       
       Die Menschen in der Sicherungsverwahrung erbringen ein „Sonderopfer“ für
       die Gesellschaft, wie es das Bundesverfassungsgericht 2011 ausgedrückt hat.
       Doch mutmaßlich 85 Prozent von ihnen, und damit heute mehr als 500
       Menschen, gehören überhaupt nicht dorthin. Das Problem ist: Man weiß nicht,
       wer zu den 15 und wer zu den 85 Prozent gehört. Statt alle einzusperren,
       wäre eine engmaschigere Betreuung nach der Entlassung besser.
       
       Für die tatsächlich schweren Gewaltverbrecher könnte das niederländische
       Modell eine Lösung sein. Sie leben dort in einer Art Dorf, das von einer
       Mauer umgeben ist. Innerhalb der Mauern können sie sich Tag und Nacht frei
       bewegen. So soll ein humanes Leben fern von Behandlungsdruck möglich sein.
       Gleichzeitig würden Kosten für Therapieversuche gespart, die sowieso nicht
       angenommen werden.
       
       12 Sep 2023
       
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