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       # taz.de -- Der Party-Talk in den Abgrund
       
       > Große österreichische Literaten, tolle Schauspielerinnen und Freibier:
       > Der jung, französische Star-Regisseur Julien Gosselin ist zurück an der
       > Volksbühne – mit einem fünfstündigen Abend über das Ende der Menschheit
       
   IMG Bild: Fin-de-siècle, Fin-de-monde: Victoria Quesnel und Denis Eyriey in Julien Gosselins „Extinction“ an der Berliner Volksbühne  
       
       Von Barbara Behrendt
       
       Bei den Ohrstöpseln, die einem am Eingang angeboten werden, sollte man
       unbedingt zugreifen. Im Saal boxen sich die Techno-Beats nicht nur in den
       Gehörgang, sie schrauben sich ins Hirn und geben den Herzschlag vor. Julien
       Gosselin meint es ernst mit dem Elektro-Club, den er in der Volksbühne für
       45 Minuten inszeniert – und das tanzende Berliner Publikum auf und vor der
       Bühne zelebriert ihn als Kult-Happening. Schließlich gibt’s auch Freibier.
       
       Bis die Kamera nach einer halben Stunde, als die ersten Partymuffel schon
       achselzuckend gehen wollen, einer jungen Frau und ihrer Freundin an die
       Freibier-Bar folgt. Wir sehen sie auf großen Screens. „Rosa, du musst in
       Wolfsegg anrufen!“ sagt die Freundin. Wolfsegg, da horchen
       Thomas-Bernhard-Fans natürlich auf – ist es doch der Heimatort des
       Protagonisten im Roman „Auslöschung“. Franz-Josef Murau heißt er, Eltern
       und Bruder sind gerade bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Murau muss
       zurück in den verhassten, piefigen, braunen Heimatort. An diesem Abend also
       spielt Rosa Lembeck den Murau. Doch dazu kommt es ausführlich erst einige
       Stunden später, in Teil Drei.
       
       Zunächst wechselt das Bühnensetting vom heutigen Amüsierwillen zu jenem im
       Wien von 1913. Von der schicken Fin-de-Siècle-Villa sieht man aus dem
       Zuschauer:innenraum nur die Außenwände – was das Ensemble innen spielt,
       erscheint ausschließlich auf der Leinwand. Obwohl die
       Schauspieler:innen also leider nur durch die Kamera sichtbar werden,
       sind diese perfekt inszenierten und ausgeleuchteten Schwarz-Weiß-Bilder zum
       Niederknien schön und ziehen ungeheuer in den Bann. Man muss das
       hinreißende Ensemble einfach bewundern: Carine Goron etwa, in deren Gesicht
       sich in der Nahaufnahme Dutzende Zerrissenheiten spiegeln. Überhaupt stehen
       im Zentrum des fünfstündigen deutsch-französischen Abends, der bereits bei
       den Wiener Festwochen und beim Festival in Avignon gefeiert wurde, die
       Frauen ganz vorne. Julien Gosselin vermischt drei Texte von Arthur
       Schnitzler („Traumnovelle“, „Komödie der Verführung“, „Fräulein Else“) und
       folgt den weiblichen Figuren auf ihrer Suche nach Perspektiven zwischen
       Ehefrau, Geliebter und Künstlerin.
       
       Es ist der Juni 1913, man palavert über Kunst und Musik, man begehrt sich
       und fällt höchst sinnlich übereinander her. Ein unentwegtes Spiel um
       Schmerz und Liebe, das sich in diesem zweiten Teil zweieinhalb Stunden lang
       im Kreis dreht. Marie Rosa Tietjen führt Hugo von Hofmannsthals „Brief des
       Lord Chandos“ als groteskes Avantgarde-Theaterstück auf – und nur Carine
       Gorons Figur „Albertine“ schaut immer wieder besorgt in den Himmel, wo dann
       zuletzt, wie in Lars von Triers „Melancholia“, die ohrenbetäubende
       Apokalypse hereinbricht. Oder die Bomben des Ersten Weltkriegs.
       
       Und dann kommt Rosa Lembeck zurück. Also Franz-Josef Murau und mit ihm die
       dritte Zeitebene: Österreich in den 1980er Jahren. Dass hier kein Mann als
       grantelnder Murau auftritt, sondern eine junge Schauspielerin die
       Bernhardschen Hasstiraden durchleidet, in einem furiosen, mindestens
       70-minütigen Solo, lässt einen die Worte ganz neu hören. Die Bernhard‘sche
       Misanthropie wirkt brüchig, verletzlich, zweideutig, ironisch. Und wenn
       Lembeck dann von den „Auslöschern“ spricht, die die Natur umbringen, ist
       man wieder im Heute angekommen. Mit Bernhards „Worten, die nichts mehr
       taugen“, entsteht auch plötzlich eine Verbindung zu Hofmannsthals Worten,
       die einem „im Munde zerfallen wie modrige Pilze“.
       
       In „Extinction“ wird die Auslöschung der Welt, des Menschen, aber auch des
       Intellekts und der Kultur gleich auf drei Zeitebenen verhandelt und
       verschränkt. Die Verbindung zwischen Schnitzler, Hofmannsthal und Bernhard
       präsentiert Julien Gosselin zwar nicht gerade auf dem Silbertablett (von
       einer aus dem Nichts kommenden blutigen Splatter-Szene in österreichischen
       Trachten wäre noch zu reden). Doch man kann durchaus einen roten Faden
       finden von der Zerstörung der Kultur durch die beiden Weltkriege hin zu
       Bernhards Hass auf die bornierte Nachkriegsgesellschaft in Österreich und
       Deutschland. Das gibt viele Denkanstöße, ist in seinem (absichtlich)
       wortreichen, selbstbezogenen Party-Talk, mit dem sich die Menschen in den
       Abgrund quatschen, aber nicht für jede Zuschauer:in leicht erträglich.
       Bis zum Ende halten wahrlich nicht alle durch.
       
       Ganz anders als Gosselins Deutschland-Debüt „Sturm und Drang“, das
       vergangenes Jahr an der Volksbühne floppte, gelingt dem 36-jährigen
       französischen Star-Regisseur hier allerdings eine kluge Mischung aus
       Hochglanz-Bildungstheater und bildgewaltigem Live-Film, mit außergewöhnlich
       gutem Ensemble.
       
       Wie Menschen zu unterschiedlichen Zeiten das nahende Ende ihrer Welt
       lauthals beschweigen – das führt dieses fünfstündige Mammut-Theater
       eindrücklich vor.
       
       11 Sep 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Behrendt
       
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