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       # taz.de -- Gianni Jovanovic über Drag-Kunst: „Raus aus der Unsagbarkeit“
       
       > Gianni Jovanovic ist Co-Host der neuen Show „Drag Race Germany“. Ein
       > Gespräch über die Kunst, eine Dragqueen zu werden und Widerstandsmomente
       > in der Familie.
       
   IMG Bild: Drag Race Metamorkid nimmt bei der Drag Race Germany teil
       
       Wir sind per Zoom verabredet. Als die Kamera einen Blick auf Gianni
       Jovanovic freigibt, stellt sich die Frage: Was trägt er unter dem Auge? 
       
       taz: Gianni, seit Anfang September bist du Co-Host der Show „Drag Race
       Germany“, also einer der Gastgeber. Gehört das schwarze Pad unter den Augen
       zu deinem showangemessenen Look? 
       
       Gianni Jovanovic (lacht): Nein, das sind Augenpads, sie sind kühlend – und
       (lacht weiter) die sind in meinem Alter gut gegen Falten und Ermüdung
       überhaupt, die Tränensäcke gehen mit diesen Pads zurück.
       
       Der US-Vorgänger von „Drag Race Germany“ hat durch die Dragkünstlerin
       RuPaul jede Menge Ruhm gesammelt. 
       
       Umso stolzer bin ich, dass man mich gefragt hat, ob ich als Co-Host dabei
       sein möchte.
       
       Ich sehe gerade, dass deine Nägel lackiert sind … 
       
       … in Gold-Chrom, ja, sehr schick, oder?
       
       In der Tat. Ist das neu an dir? 
       
       Absolut nicht. Das mache ich schon seit zehn Jahren. Meine Enkelin war
       damals noch sehr klein und wollte, dass ich ihr die Nägel lackiere.. Und
       dann hat die Zweijährige das bei mir gemacht … vor den Augen meines
       konservativen und strengen Vaters. Für mich war das [1][ein krasser
       Widerstandsmoment.]
       
       [2][Wenn Männer sich die Nägel lackieren] – ist das subversiv? 
       
       Ich finde es völlig okay, wenn Männer das machen, aber man darf nicht
       vergessen: Du kannst lackierte Fingernägel tragen – und trotzdem ein
       patriarchalisches Arschloch sein.
       
       Du bist nun ein Aushängeschild der deutschen Dragkultur. Hast du dich
       selbst mal in Drag probiert? 
       
       Ja, früher. Da war ich noch mit einer Frau verheiratet und lebte mit ihr
       und meinen zwei Kindern. Vor meiner traditionellen Familie hatte ich mich
       noch nicht geoutet und ich musste mich im Drag ausprobieren.
       
       Was bedeutet das? 
       
       Sich den ganzen Körper zu rasieren, Arme, die bei mir üppigen Brusthaare …
       und sich in eine, ich sag mal in Anführungszeichen, „Transformation“ zu
       begeben. Man nimmt eine andere Rolle an, trägt einen anderen Namen und
       schlüpft in eine andere Identität. Dieses Spiel ist eine Kunstform.
       
       Erklär uns dieses Spiel? 
       
       Es hat viel damit zu tun, mit Konventionen und Tabus zu brechen. Wenn ich
       früher heimlich mit meinem Mann in Kölner Clubs ging, konnte ich endlich
       eine Rolle spielen, die mir gefiel. Ich musste das allerdings heimlich tun,
       denn ich lebte ja noch zu Hause und war nicht geoutet, schwul zu sein war
       verboten. Ich hatte irgendwann das Privileg, eine eigene Wohnung zu haben –
       endlich unabhängig von meinem Vater zu sein, gab mir viel mehr Freiheit.
       
       Es gab vorher keinen Raum für dich? 
       
       Ich bin buchstäblich in einer männlich-toxischen Umgebung groß geworden,
       und das war gar nicht meins. Ich bin ein sehr zärtlicher, weicher und
       liebevoller Mann – und der wollte ich auch immer sein.
       
       Die Attribute, die du nennst, werden ja eher Frauen zugeschrieben. 
       
       Eben – und bei Frauen ist das erlaubt: weich, nicht hart zu sein. Deshalb
       hat die Figur der Dragqueen auch so eine Attraktivität. Sie ist die Antwort
       auf die toxistische Männlichkeit der Brutalität.
       
       Eint diese Einstellung, diese Perspektive auch die Teilnehmenden bei „Drag
       Race Germany“? 
       
       Ich würde vermuten: ja. Alle Dragköniginnen treten an, gegen die
       heteronormativen Üblichkeiten zu performen. Sie wollen Bilder vom
       Männlichen brechen: Ein Mann darf, ja kann auch weiblich zugeschriebene
       Züge haben und sie ausleben.
       
       Die Dragqueens wirken ausgesprochen selbstbewusst – oder täuscht der
       Eindruck? 
       
       Nein, die Kunstform des Drags kommt bei den Beteiligten einem Akt der
       Selbstermächtigung gleich. Sie setzen der heteronormativen Welt ihr
       Statement entgegen: Hier sind wir – und wollen nicht anders sein. Das hat
       uns RuPaul über so viele Jahre gepredigt und vorgelebt: Sei du selbst,
       verleugne dich nicht – geh an die Öffentlichkeit.
       
       Ist die Show auch politisch zu verstehen? 
       
       Wer das möchte, kann sie so lesen. Ich verstehe sie so, klar. Wir wissen
       aktuell nicht, wo es politisch hingeht. Rückt alles nach rechts, wie ich
       befürchte? Oder pendelt sich das wieder in der Mitte ein? Das ist alles
       gerade sehr schwammig. In dieser Zeit zeigt uns „Drag Race Germany“
       kulturelle und subkulturelle Traditionen. Das ist sehr entertaining, aber
       ernsthaft …
       
       In New York City waren ja Dragshows, wie in dem [3][Film „Paris is
       Burning“] aus dem Jahre 1990 überlebenswichtig: eine Szene migrantischer
       Drags, die zumal während der Aids-Epidemie alleingelassen wurden. 
       
       Um solche Traditionen geht es, ja, und wir sagen auch: Raus aus der
       Unsagbarkeit.
       
       [4][Männer im Drag] gab es ja auch in Deutschland: Lilo Wanders oder ganz
       früher Peter Alexander in „Charleys Tante“, auch Mary des Duos „Mary &
       Gordy“, die in den Neunzigern gar schon Mainstreamwerbung für Marmelade
       machte. 
       
       Lilo Wanders ist eine aus unserer Tradition, über die anderen kann ich
       nichts sagen, nur: Dass das heteronormative Publikum manchmal Männer in
       Frauenkleidern lustig fand – das war das Gegenteil unserer Performances,
       die gerade gegen die toxische Männlichkeit angeht.
       
       Gibt es nicht auch Männer in Lederdrag, also Lederkerle, deren hartmännlich
       gelesene Äußerlichkeit auch die Kunstform der Rollentransformation nutzt:
       tagsüber Angestellter in Schlips und ordentlichen Hosen, nach Feierabend
       auf dem Bike in Leder? 
       
       Das würde ich ganz klar voneinander trennen. Drag als Kunstform ist
       Entertainment und setzt ein politisches Statement. Die Lederszene wiederum,
       die du vermutlich meinst, verbindet ein gewisser Fetisch. Beides hat seine
       Daseinsberechtigung, ist aber nicht das Gleiche.
       
       „Drag Race Germany“ bringt elf Kandidatinnen zusammen. Pro Folge der Show
       scheidet eine aus. Ist das gemein?
       
       Warum?
       
       Weil du quasi eine Solidargemeinschaft schilderst, die doch nicht unbedingt
       eine Siegerin braucht. 
       
       Eine gewinnt, so ist das Spiel. „Mensch ärgere Dich nicht“ kann man auch
       nicht spielen, ohne dass am Ende jemand gewinnt. Es ist ein Spiel, kein
       Ernst für alle Zeiten. Eine Momentaufnahme, nichts weiter.
       
       Die Show läuft jetzt auf Paramount+. Ist das Ziel der ersten Staffel, die
       jetzt läuft, in die erste Reihe der TV-Sender zu kommen – RTL oder
       öffentlich-rechtlich etwa die ARD? 
       
       Wir fühlen uns gerade sehr wohl beim Streamingdienst – und wir sind jetzt
       schon, kurz nach der Premiere, hochzufrieden mit der Resonanz. This ist the
       beginning, würde ich sagen, und dann: Fly me to the moon …
       
       13 Sep 2023
       
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