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       # taz.de -- Rassistischer Anschlag in Birmingham: Von Hoffnung und Finsternis
       
       > Vor 60 Jahren verübten Rassisten einen Anschlag auf die 16th Street
       > Baptist Church in Alabama. Ein Besuch auf den Spuren der
       > US-Bürgerrechtsbewegung.
       
   IMG Bild: Am Morgen des 15. September 1963 in der Sixteenth Street Baptist Church
       
       Birmingham taz | „Where Jesus Christ is the Main Attraction“. Das steht auf
       einem Flyer, der auf einem Plastikstuhl in der 16th Street Baptist Church
       in Birmingham, Alabama ausliegt.
       
       Jesus als Hauptattraktion? Das überrascht, schließlich ist die Kirche als
       Ort [1][eines der einschneidendsten rassistischen Verbrechen auf
       US-amerikanische]m Boden in die Geschichte eingegangen.
       
       Am Morgen des 15. September 1963 explodierte eine Bombe, die Mitglieder des
       Ku-Klux-Klans unterhalb einer Treppe an der Ostseite der Kirche deponiert
       hatten. Vier afroamerikanische Mädchen im Alter von 14 und 11 Jahren
       starben. Sie hatten sich im Bad auf die Sonntagsschule vorbereitet, die an
       diesem Tag ausgerechnet unter dem Motto „A love that forgives“ stand.
       
       Der Fall schlug riesige Wellen – nicht zuletzt, weil die Bomben nur knapp
       drei Wochen nach [2][Martin Luther Kings] Rede „I have a dream“
       explodierten. Die Hoffnung auf Veränderung, die der Bürgerrechtsführer in
       Washington aussprach, sollte in Birmingham demonstrativ ausgelöscht werden.
       Dafür hatten sich die Killer die zentral gelegene 16th Street Baptist
       Church ausgesucht, weil hier viele Mitglieder der afroamerikanischen
       Bürgerrechtsbewegung verkehrten.
       
       ## Ebenbild George Floyds
       
       Außer der enormen Orgel und den roten Samtteppichen wirkt der Kirchensaal
       schlicht. LaJoyce Debro, die durch die 16th Street Baptist Church führt,
       lenkt die Aufmerksamkeit nach hinten: „Schaut mal, da ist unser Jesus.“
       Tatsächlich zeigt das große Buntglasfenster eine schwarze Jesusfigur – es
       wurde nach dem Attentat von einer Gemeinde aus Wales gespendet. „Die
       Explosion riss dem vorherigen Jesus Gesicht und Herz heraus. Ob uns das
       etwas zu sagen hat?“, fragt LaJoyce Debro rhetorisch und erzählt von einer
       Besucherin, die in dem Fenster [3][das Ebenbild George Floyds] sah.
       
       Schnell wird klar: Bei der Erinnerung an das Attentat vor 60 Jahren geht es
       nicht nur um die Würdigung eines historischen Ereignisses, sondern um das
       Erbe der Bürgerrechtsbewegung. Und um Gerechtigkeit: „Erst 1977 begann man
       mit der Strafverfolgung, und zwei der Attentäter wurden erst 2002
       verurteilt. Wenn das kein Beispiel für verzögerte Rechtsprechung ist“, sagt
       LaJoyce Debro.
       
       Dann führt sie in die kleine Ausstellung im Keller. Neben Bildern und
       Texten wird auch die Kirchenuhr gezeigt. Deren Zeiger stehen seit 60 Jahren
       auf 10 Uhr 22 still, dem Moment der Explosion.
       
       Die Kirche gehört heute zu den wichtigsten Stationen des U.S. Civil Rights
       Trail. Diese 2018 gegründete touristische Route beinhaltetet über 100
       Gedenkstätten in 15 Staaten der USA. Ob Kirchen, Museen oder Gerichtssäle,
       ob Parks oder Denkmäler – hier kann man den hoffnungsvollsten wie
       finstersten Momenten des Freiheitskampfes um die Bürgerrechte nachspüren,
       teilweise Zeitzeugen und Mitstreiterinnen treffen und viel lernen.
       
       ## Der Education Trainer
       
       Etwa in dem Museum des Birmingham Civil Rights Institutes. Von separierten
       Trinkbrunnen über getrennte Klassenzimmer, von Milchshake-Bars, die nur von
       Weißen besucht werden durften, bis zu Comics, Bildern und Werbetafeln, die
       Afroamerikaner karikaturesk verunglimpften – die „Jim Crow“ genannten
       Rassentrennungsgesetze werden hier äußerst plastisch gezeigt. Charles Wood,
       Anzug und Rastalocken tragender Education Trainer des Museums, spricht vor
       allem vom Alltag der Segregationszeit: „Schwarze durften in Kleiderläden
       nichts anprobieren, sie durften keine Weißen im Auto überholen, Schwarze
       und weiße Kinder durften nicht miteinander spielen. Es ist schwer
       vorstellbar, aber ich will, dass ihr versteht, wie die Menschen hier früher
       lebten.“
       
       Wie viel Fahrt die Bürgerrechtsbewegung im Jahr 1963 aufnahm, zeigen die
       Gitter einer Gefängniszelle. Dahinter saß Martin Luther King im April 1963,
       nachdem er mit anderen Aktivisten eine Kampagne in Birmingham eingeleitet
       hatte, und schrieb seinen legendären Brief „Letter from Birmingham Jail“.
       Damit antwortete er auf die weißen Geistlichen, die ihm mehr Zurückhaltung
       in Sachen Bürgerrechtsbewegung anempfohlen hatte.
       
       Wenige Wochen später, im Mai 1963, landeten auch Hunderte Schwarze Kinder
       und Jugendliche hinter Gittern – ihren gewaltfreien Demonstrationen, später
       „Children’s Crusade“ getauft, begegnete die Birminghamer Polizei mit
       Wasserwerfern, deutschen Schäferhunden und Festnahmen. Die verstörenden
       Bilder gingen um die Welt und verschafften der Bewegung die dringend
       benötigte Aufmerksamkeit.
       
       Nach dem Museumsbesuch führt Charles Wood hinaus ins Freie. Es geht vorbei
       am frisch renovierten A.G. Gaston Motel, das seit diesem Sommer wieder
       besucht werden kann. Das ehemalige Hotel diente als Treffpunkt von
       Bürgerrechtsaktivisten und Presseleuten, im sogenannten War Room entwarf
       Martin Luther King seine Strategien.
       
       ## Problematisches Denkmal
       
       Auf der anderen Straßenseite liegt der Kelly Ingram Park. Die Sonne scheint
       auf die mit Statuen, Denkmälern und kleinen Erklärtafeln übersäte
       Grünfläche. Die Kinder einer jüdischen Schulklasse flitzen über den
       gestutzten Rasen und werden von den Betreuerinnen aufgefordert, ihre
       Pausenbrotpapiere wieder einzusammeln, während sich vor einer Statue Martin
       Luther Kings ein paar ältere Männer in Anzügen versammeln und Gospels
       singen.
       
       Ein Denkmal zeigt die Opfer des Bombenanschlags in der 16th Street Baptist
       Church, ein anderes die Kinder der Children’s Crusade. Mit einem Denkmal
       ist Charles Wood allerdings überhaupt nicht zufrieden. Aus zwei hohen, den
       Spazierweg flankierenden Mauerstücken springen Hunde wie zum Angriff heraus
       – eine durchaus beeindruckende Reminiszenz an die Polizeihunde, die während
       der Maidemonstrationen auf die Jugendlichen losgelassen wurden. „Aber da
       fehlen die Polizisten“, empört sich Charles Wood. „Sie haben schließlich
       die Hunde auf die Kinder gehetzt – man muss doch die ganze Wahrheit
       erzählen!
       
       Eine Autofahrt aus dem Stadtzentrum hinaus führt an rostroten
       Industrieruinen vorbei. Die monströsen Bauten sind Überbleibsel aus der
       Zeit, als Birmingham mit der Stahlherstellung boomte und den Spitznamen
       „City of Magic“ erwarb. Aus magisch wurde allerdings bald tragisch: Rund 50
       rassistisch motivierte Bombenattacken wurden von Anhängern des
       Ku-Klux-Klans und anderen Segregationisten zwischen den 1940er und 1960er
       Jahren verübt – was der Stadt den Namen „Bombingham“ einbrachte. Ein
       Stadtviertel erlebte sogar so viele Angriffe, dass es nur noch „Dynamite
       Hill“ hieß.
       
       Auf die Bethel Baptist Church, das Ziel der Fahrt, wurden gleich drei
       Anschläge verübt. Als das Pfarrhaus bei dem ersten Bombenattentat am
       Weihnachtstag des Jahres 1956 in sich zusammenbrach, blieb der sich darin
       befindliche Pastor Fred Lee Shuttlesworth unverletzt. Heute erinnert ein
       weißes Hausgerüst an das einstige Pfarrhaus, wo der Pastor „von Gott
       berührt wurde“, wie eine Plakette beschreibt. Tatsächlich ließ sich
       Shuttlesworth durch diesen und weitere Attacken nicht beirren – als
       Präsident der Vereinigung des Alabama Christian Movement for Human Rights
       kämpfte er unbeirrt gegen die in Rassentrennungsgesetze.
       
       ## Nachhilfe und Stipendien
       
       „Fred war eine schillernde Figur – es ist schon eine Riesenverantwortung,
       hier in der Bethel Baptist Church zu arbeiten“, sagt Thomas Wilder, ein
       hochgewachsener zurückhaltender Mann, der behauptet, selbst nie so viel
       Courage wie sein Vorgänger aufbringen zu können. Seit dem Jahr 1988 führt
       er als Pastor die Gemeinde, die heute vor allem mit wirtschaftlichen
       Problemen zu kämpfen hat. Tatsächlich reicht ein Blick in die Nachbarschaft
       – viele der Häuser wirken verfallen, abgewetzte Couches stehen auf
       brüchigen Veranden, das Klischee von schwarzer Südstaatenarmut ist hier
       gelebte Realität. „Wir arbeiten viel mit der Community, bieten Nachhilfe
       und Stipendien für die Kinder an – wir können ja nicht nur dasitzen und
       darüber reden, was vor 60 Jahren passiert ist“, sagt Thomas Wilder.
       
       Wie stark die Vergangenheit das Heute beeinflusst, zeigt kaum jemand so
       eindrücklich wie Lisa McNair. Die Schwester von Denise McNair, dem
       elfjährigen Opfer des Attentats in der 16th Street Baptist Church, hat ihre
       Lebensgeschichte gerade in Buchform herausgebracht. Gut gelaunt sitzt sie
       abends in dem Restaurant Yo Chef Surf and Turf Smokehouse und erzählt: „Der
       15. September 1963 hat mein ganzes Leben beeinflusst – obwohl ich meine
       Schwester nie kennengelernt habe.“ Lisa McNair wurde ein Jahr nach dem
       Attentat geboren, besuchte als eines der ersten schwarzen Kinder
       Birminghams rein weiße Schule, ging durch einige Identitätskrisen und
       arbeitet heute als Rednerin.
       
       Sie bleibt erstaunlich unterhaltsam, wenn sie über das schwere Thema
       spricht. Damit baut sie Barrieren bei ihrem Publikum ab, ermuntert dazu,
       Fragen zu stellen und öffnet so den Raum für Gespräche. Ihren Humor nutzt
       sie oft und gern – auch als Waffe gegen die Verantwortlichen.
       
       Aber manchmal wird aus Humor Empörung – zum Beispiel wenn es um das
       Gesetzesvorhaben der Bundesregierung von Alabama geht, den Unterricht von
       divisive history zu verbieten, also allen Stoffen, die als „spaltend“
       interpretiert werden können.
       
       „Wenn das durchkommt, können Geschichten wie meine nicht mehr erzählt
       werden“, sagt Lisa McNair und berichtet, dass bereits einer ihrer Auftritte
       in einer öffentlichen Schule abgesagt worden sei, weil sie critical race
       theory verbreite. „Was für ein Quatsch, das ist keine critical race theory,
       das ist amerikanische Geschichte! Und wer die Geschichte nicht kennt,
       wiederholt sie“.
       
       Die Reise wurde teilfinanziert vom Alabama Tourism Department
       
       15 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
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   DIR Judith Hyams
       
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