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       # taz.de -- Chiles Geschichte in Protestsongs: „El Pueblo unido…“
       
       > 50 Jahre nach dem Putsch in Chile. Welche Lieder haben weltweit die
       > Geschichte Chiles begleitet? Ein chilenisches Liederbuch des Protests.
       
   IMG Bild: Ein undatiertes Foto zeigt den chilenischen Liedermacher Víctor Jara mit Kindern
       
       ## Violeta Parra – Yo canto a la diferencia (1961)
       
       Zu den 150. Unabhängigkeitsfeiern Chiles nahm die legendäre
       Folkloresängerin [1][dieses Lied im Tonada-Rhythmus auf]. In zehn Strophen
       und ohne Refrain erzählt sie von den Feierlichkeiten und der Spannung, die
       durch die Gegensätze an dem so symbolträchtigen Datum entsteht: die Liebe
       zu nationalen Emblemen gegen die soziale Marginalität vieler. Es ist der
       erste Protestsong in der Geschichte Chiles und vereint drei Elemente der
       Figur Violeta Parras: die Rettung der Folklore durch ihre Übertragung ins
       Städtische, die Persönlichkeit der Liedermacherin und ihre kritischen,
       anklagenden Texte.
       
       ## Los Mac’s – La muerte de mi hermano (1967)
       
       Los Mac´s wurden Anfang der sechziger Jahre gegründet, um den Sound der
       Beatles zu imitieren, und entwickelten sich parallel zu dem Liverpooler
       Quartett, bis sie ihr eigenes Stg.-Peppers-Album, „Kaleidoscope Men“, im
       November 1967 veröffentlichten. Das Album gehört zum Besten der
       lateinamerikanischen Psychedelik und enthält [2][den Song „La muerte de mi
       hermano“], der die US-Invasion in der Dominikanischen Republik im Jahr 1965
       anprangert. Es war der erste chilenische Rockhit, der hohe Platzierungen in
       den Charts erreichte, und gilt bis heute als der erste Song, das den Rock
       mit dem von den Anhängern der „Nueva Canción Chilena“ entwickelten sozialen
       Liedgut verbindet.
       
       ## Quilapayún – El Pueblo unido jamás será vencido (1973)
       
       Mit „Gracias a la vida“ von Violeta Parra und „El derecho de vivir en paz“
       von Víctor Jara ist [3][„Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“]
       das vielleicht weltweit bekannteste chilenische Lied. Der von Sergio Ortega
       komponierte und der Folkloregruppe Quilapayún interpretierte Song wurde nur
       Wochen vor dem Staatsstreich von 1973 uraufgeführt, um alle Kräfte
       angesichts des drohenden Zusammenbruchs der Demokratie zu mobilisieren. Der
       Marsch [4][gilt heute als Vertonung eines universellen Mahnrufs], der fünf
       Jahrzehnte Geschichte und tausende Kilometer Breitengrade umspannt.
       
       ## Víctor Jara – Manifiesto (1974)
       
       [5][Ein Lied], in dem der berühmte Sänger die ganze Bedeutung seiner Musik,
       seiner künstlerischen Sensibilität und seiner politischen Subjektivität zum
       Ausdruck bringt. Ein Lied mache Sinn, „wenn es in den Adern pocht“, lautet
       darin eine Zeile, die Jara kurz vor seiner brutalen Hinrichtung fünf Tage
       nach dem Staatsstreich von 1973 schrieb. „Manifiesto“ wurde von seiner Frau
       Joan Turner 1974 posthum im englischen Exil veröffentlicht und mit der Zeit
       zu einem ethischen Leitfaden für kommende chilenische Liedermacher:innen.
       
       ## Gala Torres y Conjunto folclórico de la Agrupación de Familiares de
       Detenidos Desaparecidos – Cueca sola (1978)
       
       In den dunkelsten Jahren der Militärdiktatur interpretierte der Conjunto
       Folklorico de la Agrupación de Familiares de Detenidos Desaparecidos,
       inspiriert durch die Texte der chilenischen Menschenrechtsaktivistin Gala
       Torres, [6][den chilenischen Nationaltanz] neu und thematisierte dabei die
       tiefste Wunde der jüngsten Geschichte des Landes: die verschwundenen
       politischen Gefangenen. Die Darbietung der Frauen, die ganz allein singen
       und tanzen, ist bis heute eines der stärksten Bilder des kulturellen
       Widerstands gegen das Pinochet-Regime – Police-Sänger Sting motivierte es
       zu seinem Lied „They Dance Alone“, und es war wesentlicher Bestandteil
       jener Fernsehsendung, die das „NEIN“ bei der Volksabstimmung von 1988
       propagierte und schließlich der Diktatur ein Ende setzte.
       
       ## Sol y Lluvia – Adiós general (1980)
       
       Musikexpertin Marisol García bezeichnet Sol y LLuvia als eine Band mit
       extrem populären Liedern, wobei sie die proletarischen Ursprünge von Sol y
       Lluvia hervorhebt, die weit vom linken kulturellen Dirigismus der 1980er
       Jahre entfernt sind. Dennoch wurde [7][„Adiós general“] – inspiriert von
       dem Lied „Adios juventud“ des Uruguayers Jaime Ross – zur Hymne, die den
       Sturz Pinochets vertonte und auch vier Jahrzehnte später noch wie kaum ein
       anderes Lied seiner Generation die Stimmen des Widerstands und des Protests
       mobilisiert.
       
       ## Los Prisioneros – El Baile de los que sobran (1986)
       
       Die wichtigste Rockband der chilenischen Geschichte hat eine Protesthymne
       für den ganzen Kontinent geschrieben. Die Formel ist einfach, aber
       effektiv: Popmusik mit sozialen Texten. Die vom melancholischen Gesang der
       Linken enttäuschte Jugend fand in Los Prisioneros seinerzeit ihre neuen
       politischen und kulturellen Wortführer. [8][Ein Lied] über die fehlenden
       sozialen Aufstiegsmöglichkeiten für Jugendliche aus den unteren
       Gesellschaftsschichten, dessen Text laut Bandleader Jorge González in Chile
       leider auch heute noch Gültigkeit hat.
       
       ## Mauricio Redolés – ¿Quién mató a Gaete? (1996)
       
       Es schien, dass nach der Rückkehr zur Demokratie die Zeit des Lamentierens
       in Chile vorbei sei und die Gesellschaft zu Gerechtigkeit, Frieden und
       Entwicklung finden würde. Doch der postdiktatorische Übergang zeigte
       schnell seine Brüche, die 1996 in dieser fast siebenminütigen,
       eklektischen, ikonoklastischen, aber auch urkomischen Rocksuite des
       Dichters, Musikers und ehemaligen politischen Gefangenen Mauricio Redolés
       zum Vorschein kamen. [9][Anhand des mysteriösen Todes von „Gaete“]
       beschreibt Redolés die Verwirrung eines Landes, das sich auf dem Weg in die
       kapitalistische Moderne befand, ohne seine dringendsten Schulden zu
       begleichen, und das sich beim Blick in den Spiegel illusorischerweise
       England näher fühlte als seinen Nachbarn im Süden des Kontinents.
       
       ## Ana Tijoux – Shock (2011)
       
       Ana Tijoux, Chiles bedeutendste Rapperin, fand in der aufbrausenden
       Studentenbewegung von 2011 den idealen Rahmen, um die These der
       Journalistin Naomi Klein über das Laboratorium, das Chile für die
       Durchsetzung des neoliberalen Systems war, in Musik umzusetzen.
       [10][„Shock“] ist ein prägnanter und intelligenter Song, der zum Soundtrack
       der Proteste wurde, die die erste Regierung des Unternehmers Sebastián
       Piñera in Schach hielten.
       
       ## Pablo Chill-E – Facts (2019)
       
       Wie zuvor Violeta Parra in der „Nueva Canción Chilena“ und Jorge González
       im Rock, so fand auch Trap in dem jungen Pablo Chill-E einen Anführer,
       seinen wichtigsten Bezugspunkt und seine archetypische Figur. Ausgestattet
       mit einem Talent, das ihn auf dem ganzen Kontinent populär gemacht hat,
       beschwört er in [11][„Facts“] jenen Überdruss, der Monate später in der
       Revolte vom Oktober 2019 explodieren wird. Denn für Pablo werden in Chile
       „Kinder geboren, um Gefangene zu sein“, während die Armen „nicht mit einem
       Gebet“ essen.
       
       ## LASTESIS – Un violador en tu camino (2019)
       
       Musik nicht mehr als Lied, sondern als Aktion. Das feministische Kollektiv
       LASTESIS aus Valparaíso komponierte inmitten der sozialen Revolte von 2019
       eine Kunstperformance [12][(mit Musik, Reden, Kostümen und einer
       Choreografie)], um das Patriarchat und seine unausweichliche Verbindung mit
       dem Unterdrückungsapparat des Staates anzuprangern. In nur zwei Wochen
       verbreiteten Millionen von Frauen auf der ganzen Welt die Performance in
       den wichtigsten Hauptstädten des Planeten und machten sie zu einer der
       Hymnen des Feminismus im 21. Jahrhunderts.
       
       Aus dem [13][Spanischen]: Ole Schulz 
       
       Cristofer Rodríguez koordiniert das kollektive und selbstverwaltete Projekt
       [14][„50 años, 50 canciones“] zu populärer Musik, Erinnerung und
       Menschenrechten 50 Jahre nach dem Staatsstreich in Chile.
       
       8 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=afzP8J3eP6M
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=ITqfx6Xe09U
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=Krk3lgpuC7w
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=V_xRSfjCyrg
   DIR [5] https://www.youtube.com/watch?v=uj-3mpjDC8M
   DIR [6] https://www.youtube.com/watch?v=_zj2w7Kclfs
   DIR [7] https://www.youtube.com/watch?v=LZ6_TeUuhTY
   DIR [8] https://www.youtube.com/watch?v=OG2VEI0yPW8
   DIR [9] https://www.youtube.com/watch?v=NFqynTla9iE
   DIR [10] https://www.youtube.com/watch?v=177-s44MSVQ
   DIR [11] https://www.youtube.com/watch?v=MTHH_Py4VP8
   DIR [12] https://www.youtube.com/watch?v=aB7r6hdo3W4
   DIR [13] /La-historia-de-Chile-en-canciones-de-protesta/!5958643
   DIR [14] https://biolink.website/50canciones
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristofer Rodriguez
       
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