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       # taz.de -- Evolution bei Giraffen: Flott und Fleckenlos
       
       > Der Mensch liebt alles, was anders ist – solange es nicht seine eigene
       > Normalität stört. In Namibia wurde eine fleckenlose Giraffe gesichtet.
       
   IMG Bild: Giraffenbaby in freier Wildbahn, gesichtet in Namibia
       
       Wir sind alle Individuen!, ruft die begeisterte Menschenmenge in
       vollendeter Gleichschaltung im Kultfilm „Das Leben des Brian“. Die absurde
       Szene bringt den menschlichen Wunsch nach Einzigartigkeit bei
       gleichzeitigem Herdentrieb auf den Punkt. Jeder Modetrend funktioniert nach
       demselben Prinzip. Eine ganze Branche lebt davon, Individualität zu
       versprechen und Konformität zu schaffen.
       
       Ein wirklich ziemlich einzigartiges Individuum wurde nun aber in Namibia
       gesichtet: eine fleckenlose Giraffe. Die höchsten Tiere der Welt haben
       üblicherweise eine ausgeprägte Flecken- bis Netzzeichnung von hell- bis
       dunkelbraun. Das namibische Giraffenjunge dagegen ist einfarbig beige.
       
       Bei einer Kuh würde man nach interessanter gemusterten Exemplaren Ausschau
       halten, bei den normalerweise viel attraktiver gezeichneten Giraffen
       hingegen macht gerade das trist einfarbige Tier weltweit Schlagzeilen. Der
       Mensch liebt alles, was anders ist – solange es nicht als Nachbar seine
       eigene Normalität stört.
       
       Nie zuvor wurde eine freilebende fleckenlose Giraffe bekannt. Erst drei Mal
       wurden solche Tiere in [1][Zoos] vermerkt, zuletzt vor einem Monat im
       Brights Zoo in Tennessee.
       
       ## Es gibt weniger Giraffen als Oldenburger
       
       Ironischerweise lässt das auffällige Jungtier das wichtigste individuelle
       Merkmal aller Giraffen vermissen, denn die Zeichnung ist einzigartig wie
       ein menschlicher Fingerabdruck. Mit ihrer Hilfe sind präzise
       Populationsschätzungen möglich. Deren Ergebnisse allerdings deprimieren –
       [2][Giraffen gehören zu den stark gefährdeten Arten]. Die Giraffe
       Conservation Foundation, die sich ihrem Schutz widmet, merkt fast beleidigt
       an, dass auf jede heute noch lebende Giraffe vier Afrikanische Elefanten
       kommen, die viel eher als bedroht wahrgenommen werden.
       
       Ganze 117.000 Giraffen leben noch in Afrika, die Gesamtpopulation eines der
       bekanntesten Tiere der Welt liegt also sogar weit unter der Einwohnerzahl
       von Oldenburg, und das ist so traurig, wie es klingt. Sogar noch trauriger,
       denn jüngere Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass sich diese Tiere auf
       vier Arten und weitere davon abzugrenzende Unterarten verteilen, von denen
       jede einzelne demnach gleich um ein Vielfaches gefährdeter ist. Das
       fleckenlose Tier aus Namibia ist übrigens eine Angola-Giraffe, die im
       Südwesten Afrikas verbreitet ist.
       
       Warum es keine Flecken hat, weiß man nicht. Solche Zeichnungsanomalien
       kommen allerdings bei vielen Tierarten immer mal wieder vor.
       
       ## Schlecht für Individuum, gut für Population
       
       Wahre Individualität zeigt sich ohnehin in der genetischen Vielfalt
       innerhalb einer Art und führt immer wieder zu Ausnahmeexemplaren. In den
       meisten Fällen ist das für das betroffene Tier eher nachteilig. Giraffen
       haben ihre Fleckung ja nicht, um Menschen zu gefallen, sondern weil die
       Musterung in der Savanne konturauflösend wirkt und so als Tarnung dient.
       
       Die zeichnungslose Giraffe fällt dagegen auf wie ein bunter Hund. Sie hätte
       unter natürlichen Umständen kaum Überlebenschancen. Zu stark ausgeprägte
       Individualität ist also schlecht für das Individuum – aber gut für die
       Population. Denn genau diese Variabilität ist das Überlebensrezept der
       Evolution.
       
       Ändern sich die Umweltbedingungen, sind eines Tages vielleicht genau
       diejenigen mit randständigen Eigenschaften im Vorteil. Um einen anderen
       großen Klassiker anzuführen: Es waren in „Per Anhalter durch die Galaxis“
       die zuvor verspotteten und ins All verjagten Telefonhörerdesinfizierer, die
       das Aussterben ihres Volkes auf ihrem Heimatplaneten hätten verhindern
       können. Man weiß eben nie, wofür bestimmte Eigenschaften in der Zukunft gut
       sind. Auch das gehört zum Zauber der Vielfalt.
       
       15 Sep 2023
       
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