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       # taz.de -- Deutsche Tanz-Compagnie in Seoul: Wer sieht mehr?
       
       > Die Tanz-Company Bodytalk aus Münster eröffnete in Seoul das
       > Tanzfestival. Heraus kam ein transkulturelles Experiment um Fremd- und
       > Selbstbilder.
       
   IMG Bild: Messer werden auf koreanischen Bühnen eigentlich nicht gezeigt. Bei „Koreality“ schon
       
       Messer, immer wieder sind da diese Messer. Mal schneiden sich die
       Performerinnen damit durchs Gesicht, dann schlägt eine Tänzerin damit auf
       wie ein Pfau und wird von Messern umstellt, und schließlich tanzt ein
       Tänzer ein bedrohlich wirkendes Solo mit einem Messer am Fuß.
       
       Starke, mitunter drastische Bilder sind das, wie man sie von der
       Münsteraner [1][Tanztheater-Company Bodytalk] kennen kann. Bodytalk, das
       sind Yoshiko Waki, die bei Johann Kresnik, dem Tanzrevoluzzer, getanzt und
       gelernt hat, und der Musiker und Produzent Rolf Baumgart.
       
       Zum aktuellen International Dance Festival in Seoul hat der künstlerische
       Leiter Lee Jong Ho sie eingeladen, das Eröffnungsstück zu bestreiten. Im
       Januar reisten Waki und Baumgart also von Deutschland aus nach Korea, um
       dort acht Performer*innen und eine Musikerin zu casten. Das Ergebnis
       ist ein transkulturelles Experiment: „Koreality – (K)eine
       Geisterbeschwörung“ heißt es. Die Premiere fand im März in Deutschland
       statt, aber die Feuerprobe war natürlich jetzt, vor dem Publikum der
       südkoreanischen Hauptstadt.
       
       Die Messer spielen dabei eine wesentliche Rolle. Dazu sollte man wissen,
       dass auf koreanischen Bühnen keine Messer benutzt werden, im Fernsehen
       wurden sie sogar verpixelt, doch hier sollen sie nun eine exponierte Rolle
       spielen. Einige der Performer*innen wollten die Choreografin bei den
       Proben davon abbringen, sie sprachen von vermeintlichen Traumata, doch die
       Messer blieben drin.
       
       Ebenso drin: ein tanzender Glitzer-Buddha, bunt-leuchtender
       Unterwasserkitsch, eine Sängerin, die als Schlachtschwein von der Bühne
       geführt wird, und natürlich Reminiszenzen an K-Pop und K-Folklore, alles
       gleichermaßen auf den Effekt hin inszeniert. Das ergibt in der Summe einen
       äußerst energetischen Abend, ein Feuerwerk der Körper, die Raum und
       Publikum für sich einnehmen können.
       
       ## Berüchtigte Leistungsgesellschaft
       
       Für die erwartbar rasante K-Pop-Nummer hat sich die musikalische Leiterin
       Kang An-na [2][„Bang Bang Bang“] herausgesucht, einen Song von 2008. Die
       Tänzer*innen singen live in poppiger, aber zugleich halsbrecherischer
       Choreografie, die symbolische Bezüge zu den Auswüchsen der berüchtigten
       südkoreanischen Leistungsgesellschaft liefert.
       
       Das wird gleich zu Beginn klar, wenn Musikerin Kang feststellt: „Ich komme
       aus einer sehr wettbewerbsorientierten Familie, und meine Schwester hat
       immer mehr erreicht.“ Bloß um dann die erreichten Leistungen der
       Tänzer*innen herauszustellen, die das sehr gerne mit sich machen lassen,
       inklusive der Verdienstmedaille aus dem Wehrdienst.
       
       An anderen Stellen verweisen die Performer*innen auf die
       folkloristischen Traditionen des Landes, wenn alle auf einem zweispannigen
       Wagen, wie er heute noch von Papiersammlern verwendet wird, zum gemeinsamen
       Gesang eines Volksliedes einziehen oder später Pyo Hye In auf einer Janggu
       spielt, einer doppelseitigen Trommel.
       
       ## „Es geht vor allem um Freundschaft“
       
       Später wird sie, zwischen großen Stoffbahnen tauchend, einen malerischen
       Volkstanz präsentieren. Aber sie springt auch zusammen mit Shin Hye So als
       halbnackte Background-Tänzerin hinzu, wenn Kang Da Som einen koreanischen
       Pop-Song im Stil eines James-Bond-Opening performt.
       
       Die ersten Vorstellungen in Deutschland wurden freundlich aufgenommen, auch
       wenn sich die vielfältigen kulturellen Bezüge nur den wenigsten erschlossen
       haben dürften. Aber Kulturaustausch ist ja erst mal gut, und zur
       Vorstellung in Leipzig gab es im Anschluss sogar eine Karaoke-Party – nicht
       nur, aber auch mit koreanischen Pop.
       
       „Es geht vor allem um Freundschaft“, erzählt Yoshiko Wako über die
       Intention des Stücks. Sie selbst ist gebürtige Japanerin, Japan und Korea
       verbindet nicht gerade eine freundschaftliche gemeinsame Geschichte. Auch
       Wakis Großvater gehörte einst zum zivilen Teil der japanischen
       Besatzungsmacht, die von 1910 bis 1945 die Koreanische Halbinsel erst als
       Protektorat, dann als Kolonie besetzt hatte und dabei auch nicht wenige
       Kulturstätten wie den königlichen Palast in Seoul zerstörte.
       
       ## Die so genannten Trostfrauen
       
       Die Geschichte zwischen den beiden Nationen ist nur mäßig aufgearbeitet,
       und immer wieder kochen Debatten über die [3][so genannten Trostfrauen,]
       die von den Japanern während des Zweiten Weltkrieges verschleppten
       Zwangsprostituierten, hoch oder entzünden sich daran, dass ein japanischer
       Premier mal wieder einen Schrein besucht, in dem auch Kriegsverbrecher
       geehrt werden. Damit will Waki natürlich nichts zu tun haben. Sie versteht
       sich trotz ihres japanischen Passes als deutsche Künstlerin. In Korea sehen
       das aber nicht alle so.
       
       Bei den Endproben in Seoul, wo sie in der Mary Hall der katholischen Sogang
       University auftreten, werden nun auf einmal die Messer wieder zum Problem.
       Gerade habe es wohl ein Messerattentat gegeben, heißt es, da solle man aus
       Rücksicht auf so etwas verzichten. Eher ein Raunen denn eine Ansage, aber
       Verunsicherung macht sich breit.
       
       Doch Festivalleiter Lee blockt alles mit einem Lächeln ab, auch wenn man
       ihm anmerkt, dass auch er so einige Anwürfe wegen dieser Produktion erleben
       musste. Der Auftritt kann wie geplant stattfinden, lediglich die beiden
       Tänzerinnen sollen ihre ohnehin nicht sichtbaren Blößen mit Blumen
       abdecken, falls doch eine Hand wegrutscht und es zu einem Blitzer kommen
       sollte.
       
       Ist das Publikum bei der ersten Vorstellung noch eher ruhig, so wird der
       zweite Abend in Seoul für die Tänzer*innen ein voller Erfolg. Das
       Publikum geht voll mit, alle sind für koreanische Verhältnisse euphorisch.
       
       ## Eine tolle Energie
       
       Das gilt allerdings nicht so sehr für das Fachpublikum. „Das war schon ein
       sehr touristischer Blick, auch wenn der Abend eine tolle Energie hatte“,
       befindet Kyu Choi, der künstlerische Leiter der Seoul Performing Arts
       Festival.
       
       Einer Journalistin fehlt eine deutlichere Auseinandersetzung zum ständig
       treibenden Tempo der Arbeitsgesellschaft, zugleich lobt sie aber eine
       blinkende Unterwasserszene, die in Deutschland nur als manieristische Idee
       erlebt wurde, weil hier eine Art Sage ästhetisch interessant verhandelt
       werde.
       
       Immer wieder werden von den Besucher*innen die Messer als stärkste
       Eindrücke genannt, auch hier sehen die koreanischen Augen mehr als die
       deutschen: Sie entschlüsseln die Messer im Gesicht als Kommentar zu den
       populären Schönheitsoperationen und stellen das Kranzschlagen in Verbindung
       mit einem traditionellen Fächertanz. Die Bewegung folgt dem Aufgehen einer
       Blüte, ein klassisches Motiv der koreanischen Folklore.
       
       So ist dieses transkulturelle Experiment vielleicht stärker geglückt, als
       auf den ersten Blick zu sehen ist. Doch es bräuchte wohl ein gemischtes
       deutsch-koreanisches Publikum, um diese Erfahrung auch zur Wirkung kommen
       zu lassen.
       
       17 Sep 2023
       
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       ## AUTOREN
       
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