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       # taz.de -- Historiker über Autobahn-Mythos: „Die Nazi-Propaganda wirkt fort“
       
       > 90 Jahre nach Beginn des Baus gelten Hitlers Fernstraßen immer noch für
       > viele als Wunder. Aufarbeitung? Fehlanzeige, sagt Historiker Conrad
       > Kunze.
       
   IMG Bild: Das erste Autobahnteilstück wird eingeweiht: Hitler 1935 bei Darmstadt
       
       taz: Am 23. September 1933 wurde Hitlers erster Spatenstich für die
       Reichsautobahn von den Nazis inszeniert. Warum sollten wir uns 90 Jahre
       später daran noch erinnern? 
       
       Conrad Kunze: Nicht nur, weil immer noch Autobahnen gebaut werden, sondern
       auch, weil die Propaganda fortwirkt. Der Glaube an eine Art Wundermittel
       gegen Arbeitslosigkeit und für einen Wirtschaftsaufschwung ist im
       kollektiven Unterbewusstsein der Deutschen fest verankert. Doch was wir als
       [1][Mythos Autobahn] kennen, war kein Naturereignis. Das war sehr oft
       wiederholte NS-Propaganda.
       
       Warum bringen Sie in [2][Ihrem Buch] zum Thema die Autobahn mit
       Nationalismus und Faschismus und Männlichkeitskult in Verbindung? 
       
       Fast jede sozialwissenschaftliche Studie sollte sich mit Geschlecht und
       Männlichkeit befassen. Aber ganz sicher alles, was mit Autos zu tun hat.
       Die Bedeutung dessen habe ich erkannt, als ich den Link zu den Futuristen
       entdeckt habe. Das waren verunsicherte, hoch privilegierte reiche Männer,
       die im Auto ihre Charakterstütze gefunden hatten, natürlich ohne sie so zu
       nennen. Was heute die FDP, AfD oder Fridays for Hubraum machen, war also
       alles schon mal da.
       
       Welche Rolle spielten die Nazis bei der Durchsetzung der zunächst gar nicht
       so populären Autobahn in Deutschland? 
       
       Sie haben die Reichsbahn zum Einlenken gezwungen. Diese hatte vorher die
       Propaganda für die Autobahn zu stoppen gewusst – und wurde dann sogar
       organisatorisch für den Bau der Autobahnen zuständig. Sie haben auch die
       Militärs beruhigt, weil sie jeglichen Wunsch erfüllt bekamen und ebenfalls
       nicht mehr eifersüchtig sein mussten. Und sie haben eine Art
       Straßenbaudiktatur installiert mit der Enteignung von Land und dem
       Zurückstellen aller anderen Planungen. In der Weimarer Republik hätte man
       aus diesen Gründen keine Autobahn bauen können. Der Bauerfolg ging dann
       einher mit der Verwandlung vom Eliteprojekt zur „Volksautobahn“. Ob die
       Nazis ohne diesen Propagandaerfolg fast 4.000 Kilometer gebaut hätten,
       können wir nicht wissen. Ich vermute, sie hätten sie wie ihr völkisches
       Theater namens Thingspiele still und leise zu den Akten gelegt.
       
       Es gab auch Widerstand von Arbeiter*innen … 
       
       Ja es gab viele Streiks. Die sind meines Wissens aber nicht gut
       dokumentiert, weil es sie offiziell nicht geben durfte. Intern hießen sie
       „offene Rebellion“. Dass dennoch so viele noch bekannt sind und einmal
       sogar der Manchester Guardian berichtete, lässt ahnen, dass es sehr viele
       waren. Oft sind die Forderungen nach Lohnerhöhung, Wiedereinstellung eines
       Kollegen oder nach besserem Essen und kürzeren Schichten erfüllt worden.
       Erstaunlich finde ich auch, wie mutig offenbar gestreikt wurde – wegen
       Forderungen, die heute fast banal erscheinen. Dabei drohten SA und
       Gestapo-Haft. Ab Ende der 30er Jahre sind auch Arbeiter wegen
       Streikbeteiligung in Konzentrations- oder Arbeitslager gekommen, aber
       soweit ich weiß nur relativ kurz zur Abschreckung.
       
       Welche Rolle spielte Zwangsarbeit beim [3][Autobahnbau] in Deutschland –
       und welche Bevölkerungsteile waren betroffen? 
       
       Zwang war vom ersten Tag an vorhanden. Die Nazis haben arbeitslose
       Mitglieder der KPD, der SPD und Gewerkschafter*innen auf diese
       Baustellen gezwungen, also ihre politischen Feinde. Wer nicht mitmachen
       wollte, wurde schon ab dem 24. September 1933 vom Arbeitsamt mit der
       Streichung des Geldes bedroht. Also haben alle mitgemacht. Die
       KPD-Wählerquote war überdurchschnittlich hoch bei den Arbeiter*innen
       und nochmals höher bei erwerbslosen Handarbeitern.
       
       Wie veränderte sich der Autobahnbau zu Kriegsbeginn? 
       
       Ab 1938 und verstärkt 1939 wurden KZ-Häftlinge und auch jüdische Häftlinge
       zum Autobahnbau gezwungen. An der Ostfront in der damals deutsch besetzten
       Ukraine hat die SS zusammen mit den Baufirmen 150.000 Leute bei den
       Arbeiten zu Tode kommen lassen. Diese Durchgangsstraße 4 oder auch „Straße
       der SS“ führt noch heute von Lwiw nach Kyjiw und Donetzk. Insgesamt schätze
       ich die Zahl der am Straßenbau im Krieg Ermordeten auf 180.000 Personen.
       
       Bei der aktuellen Kritik am Bau von Autobahnen spielt die Geschichte keine
       Rolle. Wieso? 
       
       Mit der Besetzung des Dannenröder Waldes vor drei Jahren ist die Kritik am
       Autobahnbau bundesweit gewachsen. Aber diese Scheu, das Offensichtliche zu
       sagen, bleibt dennoch. Die Autobahn wurde nun mal von Hitler gebaut. Aber
       eine Aufarbeitung des „Mythos“ Autobahn steht noch völlig aus.
       
       Wäre also der Kampf gegen die Autobahn auch ein Beitrag zum Antifaschismus? 
       
       Ja, in Deutschland schon. Es war nun mal die „Straße Adolf Hitlers“. Es ist
       kein Zufall, dass viele Reichsautobahn-Videos von rechten Youtubern ins
       Netz gestellt werden. Die neuen Nazis wissen ganz genau, dass das ihre
       Architektur ist. Die Beendigung des Baus nach 90 Jahren würde den „Mythos“
       Autobahn endgültig begraben.
       
       22 Sep 2023
       
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