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       # taz.de -- Wanderung durch Grönland: Die Eisbrecherin
       
       > Fast zwei Jahre lang hat Geertje Marquardt sich auf ihre
       > Grönland-Expedition vorbereitet. Nun ist sie zurück. Mit Verletzungen,
       > die noch heilen. Und Erfahrungen, die sie selbst noch nicht fassen kann.
       
   IMG Bild: Um zehn Jahre gealtert fühlt sich Geertje, 47, nach ihrer Rückkehr
       
       Bis zum Horizont ist alles weiß. Und manchmal darüber hinaus. Dann weißt du
       nicht mehr, wo die Erde aufhört und der Himmel anfängt. Du kämpfst dich
       durch dieses Weiß, schläfst jede Nacht kaum mehr als fünf Stunden. Das Eis
       lässt dich Jahre altern, vor Erschöpfung frieren. 
       
       Und in dem Moment, in dem du glaubst, du hast es gleich geschafft, Grönland
       tatsächlich durchquert, in dem Moment steht alles auf der Kippe. Musst du
       kurz vor Schluss doch noch den Rettungshubschrauber rufen? Obwohl du an
       alles gedacht, Monate trainiert hast? Und selbst wenn du es schaffst,
       tatsächlich schaffst, hat sich das alles hier wirklich gelohnt? 
       
       ## Himmel und Hölle
       
       Am 15. April bricht Geertje Marquardt in Grönlands Osten auf, um das
       Inlandeis zu durchqueren, die zweitgrößte Eisfläche der Welt. 560 Kilometer
       Strecke, auf Skiern. Mehr als einen Monat wird es dauern, bis sie wieder
       den Rand des mächtigen Eisschilds sieht, auf dem sie sich täglich bis zu 12
       Stunden voranschiebt.
       
       Ich kenne Geertje schon länger, habe die Eiskünstlerin und Abenteurerin in
       den Monaten vor der Abreise begleitet, um zu fassen, was sie antreibt.
       Einen Tag bevor die Expedition beginnt, für die sie fast zwei Jahre hart
       trainiert, Geld gespart und den ersten Kredit ihres Lebens aufgenommen hat,
       [1][erscheint der Artikel in der taz].
       
       Jetzt ist Geertje zurück, einen Monat nach ihrer Heimkehr treffen wir uns
       das erste Mal wieder. Ich brauche einen kurzen Moment, um die beiden
       Personen zusammenzubringen – Geertje davor und Geertje danach. Sie sieht
       ausgezehrt aus, die aufgesprungene Lippe heilt noch, tiefe Falten im
       sonnenverbrannten Gesicht. „10 Jahre älter, ich weiß“, sagt sie lachend.
       
       Wir essen eine ganze Schokolade, während sie von Grönland erzählt. Die
       Geschichte ihrer Expedition besteht da noch aus Fragmenten. „Zu viele
       Emotionen“, sagt sie. Wenn die Leute auf der Straße fragen, wie es war,
       sagt Geertje: „‚Himmel und Hölle‘, das habe ich mir vorher so
       zurechtgelegt.“ Es gibt keine kurze Version dieser komplexen Erfahrung.
       Anfang September hält Geertje den ersten größeren Vortrag über ihr
       Abenteuer, es kommen vor allem Freund*innen. Ihre linke Hand ist da immer
       noch taub, von der monotonen Bewegung im Schnee.
       
       Am Anfang, erzählt Geertje, hat es sich angefühlt wie eine ganz normale
       Urlaubsreise. Nur eine große Reisetasche hat sie am Ostersonntag in Potsdam
       gepackt, bei strahlendem Sonnenschein und 14 Grad im Schatten. Den Großteil
       der Ausrüstung – die zwei Schlitten, Isomatten und Schlafsäcke,
       Schneeschaufel, Steigeisen, 30 Kilo Essen und Brennstoff – hatte sie schon
       im Januar in großen Kisten nach Grönland geschickt. Am Abend verabschiedet
       sie sich von den zwei Kindern und ihrem Mann. Ein letztes Zweifeln, kann
       ich hier jetzt wirklich weg?
       
       Als sich Geertje am Morgen des Ostermontags aus dem Haus schleicht,
       schlafen die anderen noch. Sie trägt die Hose, die sie die ganze Reise
       tragen wird – jedes Gramm will wohlüberlegt sein, wenn du es einen Monat im
       Schlitten hinter dir herziehen musst.
       
       Wer nach Grönland fliegen will, musst erst nach Dänemark oder Island.
       Geertje trifft in Kopenhagen auf den Rest des kleinen Teams, mit dem sie
       sich seit Monaten vorbereitet hat: eine Frau aus der Schweiz und ein Mann
       vom Bodensee, der die Expedition leiten wird. Sie nehmen einen letzten
       Drink an der dänischen Hotelbar, verbringen dann noch zwei Tage in
       Grönlands Hauptstadt Nuuk. So richtig los geht die Expedition aber erst in
       Tasiilaq, Ostgrönland. Bei einer Legende.
       
       Tasiilaq ist ein kleiner Ort mit bunten Holzhäusern, in dem die Winter so
       hart sind, wie wir es uns in Mitteleuropa nicht vorstellen können. Und in
       den ab dem Frühjahr Extremreisende pilgern. Hier lebt Robert Peroni, eine
       Ikone der Abenteurerszene. 1983 hat der gebürtige Südtiroler das
       grönländische Inlandeis an seiner breitesten Stelle durchquert, ein
       Weltrekord, den er bis heute hält.
       
       ## Ihr erster Schuss – auf ein Pappwildschwein
       
       Inzwischen ist er fast 80 und betreibt seit drei Jahrzehnten mit
       einheimischen Inuit das Hotel Redhouse in Tasiilaq, in dem fast alle
       Grönlandexpeditionen beginnen oder enden. Es heißt, Peroni, der
       Extremsportler, habe ans Ende der Welt gehen müssen, um sich selbst und
       seinen Frieden zu finden.
       
       Auch für Geertje und die anderen beiden wird das Redhouse zum Basecamp. Die
       Expeditionssaison hat Mitte April gerade erst begonnen. Sonst ist es zu
       gefährlich da draußen auf dem Eis, und zu kalt.
       
       Von Peroni lässt sich Geertje noch einmal erklären, wie man einen Eisbären
       mit einem Schuss über den Kopf verschreckt. Mit einer Waffe, die man hier
       einfach ausleihen kann wie in Deutschland Skier oder Paddelboote. Daheim in
       Potsdam, im März, stand Geertje am Schießstand und hat das erste Mal
       überhaupt geschossen, auf ein Pappwildschwein in 50 Metern Entfernung. „Das
       geht durch und durch.“ Hier in Tasiilaq, am Rand des Inlandeises, haben
       Einheimische tatsächlich in den Tagen zuvor Eisbären gesichtet.
       
       Auf der Terrasse vom Redhouse packen die drei die Kunststoffschlitten, von
       denen jeder zwei hinter sich herziehen wird. Am Himmel erscheinen noch
       einmal die schönsten Nordlichter und Geertje telefoniert ein letztes Mal
       mit Deutschland. Dann kommt ein Hubschrauber und setzt sie auf dem Rand des
       Inlandeises ab. Es ist ein sonniger Nachmittag. Der Hubschrauber wird
       kleiner und kleiner, das Geräusch der Rotoren verstummt. Die Zivilisation
       ist verschwunden.
       
       ## An die Stille gewöhnen
       
       Und dann läufst du rein in diese Welt, in der der Horizont weiß ist. In der
       die Monotonie Schönheit und Zumutung zugleich ist. Du läufst bis zu 12
       Stunden am Tag. Jeden Tag, außer wenn der Sturm dich ins Zelt zwingt und es
       umbraust, als wäre da draußen nichts anderes mehr außer Schnee. Es gibt die
       Momente großen Staunens, über das Glitzern dieser unendlichen weißen
       Fläche, über den leuchtenden Ring um die Sonne, den man nur in der Eiswelt
       sehen kann. Öfter noch gibt es die Momente, in denen für jedes Staunen die
       Kraft fehlt. 
       
       „Am Anfang hatte ich so ein Fiepen im Ohr“, erzählt Geertje. Eine Woche
       dauert es, bis sich das Gehirn daran gewöhnt, dass es die meiste Zeit still
       ist. Keine Maschinen, Motoren, Straßenbahnen, Schlagen von Türen,
       Stimmengewirr. Kein Rauschen von Bäumen, kein Knistern von Blättern, kein
       Vogelzwitschern. Keine ferne Autobahn knapp über der Wahrnehmungsschwelle.
       Hier auf dem Inlandeis ist nur der Wind und der Schnee, der die eigenen
       Schritte verschluckt.
       
       Die drei steigen auf die Skier und laufen los, nach GPS-Daten vergangener
       Expeditionen. Wer vorn läuft, hat den Kompass vor die Brust geschnallt, um
       die Richtung zu halten. Was du lernst in Grönland: Norden ist nicht gleich
       Norden. Je näher an den Polen, desto mehr zeigt die Kompassnadel auf den
       magnetischen Nordpol, nicht auf den geografischen. Missweisend nennen das
       die Geograf*innen.
       
       „Beim Losgehen hat man das erste Mal so richtig das Gewicht der Schlitten
       gespürt“, sagt Geertje. In Potsdam hat sie Autoreifen durch den Wald
       gezerrt, um zu trainieren. Das war schwer genug. Hier auf dem Inlandeis
       geht es leicht bergauf. So wenig, dass du es nicht siehst. So viel, dass
       die Schlitten, die in einem Geschirr an Geertjes Hüften und Schultern
       hängen, nach hinten zerren. Das ist kein Gleiten über den Schnee, mehr ein
       Stapfen.
       
       ## Ski, eat, sleep, repeat
       
       Geertje fällt zurück. Die Schwächste in der Gruppe zu sein, war schon in
       der Vorbereitung ein großes Thema. Die anderen beiden sind erfahren in
       schweren Bergtouren, auf Skiern. Geertje hat in den vergangenen anderthalb
       Jahren versucht, sich an sie heranzutrainieren. Der Expeditionsleiter
       übernimmt den schweren Benzinkanister, den sie sich in Tasiilaq noch auf
       den Schlitten geladen hatte, dann wird es leichter. Vier Kilometer schaffen
       sie an diesem ersten Tag. Alle kämpfen mit der Anstrengung. Dass irgendwann
       Geertje immer schneller wird, ahnt da noch niemand.
       
       Die Gleichförmigkeit der Tage beginnt: „Ski, eat, sleep, repeat.“ 4.30 Uhr
       aufstehen. Trinkwasser zubereiten: Wenn du einen Topf voll Schnee schmilzt,
       bleibt darin nur eine Pfütze. Das Wasser fürs Frühstück, für die
       Thermoskannen, für das Abendessen zu schmelzen, dauert allein 2 Stunden pro
       Tag. Zum Frühstück gibt es Müsli mit Milchpulver, Erdnussbutter, Kakao oder
       Blaubeersuppe. Dann das Zelt zusammenbauen, Schlitten packen.
       
       Gegen 7 Uhr brechen sie auf. In den ersten Tagen mit der Waffe um die
       Schulter. Eine Stunde laufen, dann ein Schluck aus der Thermoskanne mit
       Gemüsebrühe oder süßem Tee, ein Haferflockenriegel. Weiter. Wieder eine
       Stunde, wieder eine Pause. Wieder eine Stunde, wieder eine Pause. Sechs bis
       zwölf Etappen am Tag.
       
       Und was siehst du, wenn du läufst? Abstufungen von Weiß, Schneeformationen,
       Lichtreflexe am Himmel. Manchmal überall nur Weiß, das sogenannte Whiteout,
       bei dem diffuses Sonnenlicht alle Kontraste und den Horizont verschluckt.
       „Die Schönheit der Monotonie“ hat es Wilfried Korth genannt, ein Potsdamer
       Polarforscher, mit dem Geertje eigentlich nach Grönland reisen wollte und
       der 2019 kurz vor der damals geplanten Tour verunglückte.
       
       ## Tosende Stürme
       
       Jeden Abend bauen sie gegen 19 Uhr die zwei Zelte auf, eins für die beiden
       Frauen, eines für den Mann. In den ersten Nächten umspannt eine dünne
       Schnur das Camp, die bei Berührung einen schrillen Alarm auslöst. Doch es
       kommt kein Eisbär, nicht einmal Spuren sind zu sehen. Eine Sorge, die in
       den Hintergrund tritt.
       
       Je nach Wettervorhersage schaufeln die Reisenden eine Schneemauer um die
       Zelte als Windschutz, heben im Vorzelt einen Graben aus, um beim Kochen gut
       sitzen zu können. Es sind Stunden schwerer Arbeit, die am Tag darauf der
       Wind verwehen wird.
       
       Es gibt ein Video, das Geertje aus dem halb geöffneten Zelt aufnimmt und
       das erahnen lässt, was ein Sturm auf dem flachen Eisschild bedeutet. Es
       braust und zerrt am doppelten Zeltgestänge. Die Schlitten sind so
       eingeschneit, dass sie am Morgen kaum zu finden sind. An manchen Tagen
       erzwingt so ein Sturm einen Ruhetag für die kleine Expedition.
       
       Keinem einzigen Lebewesen begegnen die drei in den ersten Wochen.
       Theoretisch kommt ihnen eine Frauenexpedition entgegen. „Berechne mal mit
       dem Satz des Pythagoras, wie weit man hier schauen kann“, schreibt Geertje
       in einer der kurzen Nachrichten, die sie via Satellit nach Hause schicken
       kann. Es sind kaum 5 Kilometer, rechnet die 16-jährige Tochter daheim in
       Potsdam aus.
       
       Die beiden Gruppen begegnen sich nicht. Nur ein kleiner Vogel verirrt sich
       irgendwann in das Camp der drei. Vielleicht ein Polarfink. Wahrscheinlich
       hat ihn der Wind hierhergetragen. Er inspiziert die bunte Ausrüstung, bevor
       er wieder im Weiß verschwindet.
       
       Nach 20 Tagen erreichen Geertje und die anderen den höchsten Punkt ihrer
       Reise. 2.500 Meter über dem Meeresspiegel. Es wird eine der schwersten und
       kältesten Etappen.
       
       Du kennst diese Kälte, davor hast du keine Angst. Aber dann sitzt du da,
       nachts um 10, am Rande deiner Isomatte, völlig erschöpft. Und dieser
       verdammte Kocher, den du schon ein Dutzend Mal auseinander und wieder
       zusammengefummelt hast, funktioniert nicht. Eigentlich willst du nur in den
       Schlafsack, aber du musst vernünftig sein, alles auf die Reihe kriegen, was
       du für den nächsten Tag brauchst. Den Kocher reparieren, Schnee schmelzen.
       Mit diesen zerschundenen, aufgeplatzten Fingern. 
       
       ## „Mama, du bist eine starke Frau und ein Vorbild“
       
       Die Tochter hat der Mutter einen Kalender aus zusammengefalteten kleinen
       Zetteln mit auf die Reise gegeben, für jeden Tag der Expedition einen.
       Geertje öffnet sie am Morgen und schreibt die Sprüche in ihr Tagebuch.
       „Mama, du bist eine starke Frau und ein Vorbild“, steht auf einem. Am Abend
       notiert Geertje daneben: „Ich schaffe es vor Erschöpfung kaum in meinen
       Schlafsack.“
       
       Die Nacht auf 2.500 Meter Höhe, mit dem kaputten Kocher, physisch und
       mental verausgabt, bei minus 33 Grad, „das war eine Situation, die so hart
       ist, das konnte ich mir vorher nicht vorstellen“, erzählt Geertje. „Das war
       das einzige Mal, das ich gefroren habe, vor Erschöpfung.“
       
       Die Expedition zehrt an den Kräften aller. Immer die kurzen Nächte, weil
       das Tagespensum sonst nicht zu schaffen ist. Die Kälte greift die Haut im
       Gesicht und an den Fingern an. Zwei von ihnen laufen sich einen Wolf,
       offene Stellen zwischen den Oberschenkeln. Hier auf dem Eis heilt nichts,
       die Wunden werden sie alle mit nach Hause nehmen.
       
       Und der Hunger. Zu Hause kommt Geertje auf 2.500 Kalorien am Tag, hier
       schaufelt sie 4.500 in sich hinein. Mit Riegeln, Maltodextrin, Schokolade,
       Nüssen, hochkalorischer Expeditionsnahrung, Pudding zum Dessert. „Aber du
       kannst nicht so viel essen, wie du verbrauchst, du hast immer Hunger.“ Bis
       zu 10 Kilo werden sie am Ende alle abgenommen haben.
       
       ## Sie fühlt sich „wie beschenkt“
       
       Auch den Monstern des Inlandeises ist Geertje begegnet. Alle sind
       übermüdet, die Probleme mit der Ausrüstung, die Wunden, unterschiedliche
       Vorstellungen von Gemeinschaft, die Monotonie der Landschaft – Es gibt in
       diesen Wochen nur diese drei Menschen auf dem Inlandeis, kaum Ablenkung,
       kein aus dem Weg gehen. „Vielleicht ist es besser, sich noch intensiver zu
       kennen, bevor man auf so eine extreme Tour geht“, sagt Geertje heute.
       
       Bei ihr kommt irgendwann der Punkt, „da habe ich mich reintrainiert. Obwohl
       mein Freund Wilfried immer gesagt hat, ab 30 geht das nicht mehr.“ Geertje
       ist 47. Und muss sich plötzlich bremsen, wenn sie vorne läuft – damit die
       anderen noch hinterherkommen.
       
       „Die Faszination, dass der Körper und der Geist das mitmachen, ist eine der
       größten Belohnungen. Dass durch Training und Lebenserfahrung so etwas
       möglich ist“, sagt Geertje. Und dass die Schönheit dadurch viel tiefer
       wird. Die in Schnee gepressten Verwehungen, das Licht, die Stille. „Das
       habe ich noch nie irgendwo so erlebt, ich fühlte mich jeden Tag beschenkt.“
       
       Es ist eine Schönheit im Kleinen, im Reduzierten. Ein Mittagsschlaf im
       Biwaksack auf dem Schnee, im Windschutz des Schlittens. Die Sonne scheint
       gedämpft durch den Stoff. „So muss es sich im Mutterleib anfühlen“, sagt
       Geertje. „Ich hätte nie gedacht, dass mir ein Mittagsschlaf im Eis so viel
       Freude machen kann.“
       
       Sie schaffen um die 30 Kilometer am Tag. Die Expedition neigt sich dem Ende
       zu. Genau wie das Essen und der Brennstoff. Und dann kommt Tag 33.
       
       Das ist der letzte Tag, so weit bist du schon gelaufen. Bald wieder Land,
       nach 33 Tagen auf diesem Meer aus Eis und Schnee. Irgendwo dort drüben
       wartet einer mit heißem Kaffee und Sandwiches und einem Fahrzeug, in dem es
       warm wird. Es sind doch nur noch diese paar Schritte, noch ein bisschen
       Kraft … Und dann bricht das Eis. 
       
       Es gab Ereignisse auf dieser Expedition, die hätten den Abbruch bedeuten
       können. Die Probleme mit dem Brennstoff und den Kochern. Der Husten, der
       eine der Mitreisenden plagt und sie tagelang schwächt. „Wenn einer
       abbricht, hätten wir bei so einer kleinen Gruppe alle abbrechen müssen. Ich
       finde das auch richtig so, für die Gruppe wäre alles andere schlecht“, sagt
       Geertje.
       
       Abbrechen, das bedeutet: Den Rettungshubschrauber rufen. Es nicht bis zum
       Ende schaffen. „Klar gab es das Ziel, das zu schaffen. Aber für mich war
       die Expedition im Geiste immer erfolgreich, auch wenn wir vor dem Ende des
       Eisrandes hätten aufhören müssen.“
       
       An Tag 33 sieht es so aus, als liegen diese Überlegungen hinter ihnen. Es
       ist Mitte Mai und inzwischen geht die Sonne über dem Inlandeis gar nicht
       mehr unter. Es gibt die Vereinbarung, dass sie abends um 22 Uhr an einem
       festen Punkt von einem Gletscherfahrzeug abgeholt werden.
       
       ## Der letzte Tag bricht an
       
       4.30 Uhr aufstehen, ein letztes Mal Schnee schmelzen, frühstücken, die
       Thermoskannen für den Tag vorbereiten. Ein winziger Rest Brennstoff bleibt
       noch übrig. Ein letztes Mal das Camp zusammenpacken und auf die Schlitten
       laden. Geertje hat inzwischen rund 30 Kilo weniger zu schleppen, so viel
       ist an Brennstoff und Essen verbraucht. Ein letztes Mal Aufbrechen auf dem
       Eisschild. Die letzten 20 Kilometer. Das muss zu schaffen sein.
       
       Die Landschaft verändert sich. Meterhoch ist der Schnee aufgeworfen und
       bildet ein dichtes Labyrinth. Blankeis wird sichtbar, das magischerweise
       vom gleichen tiefen Blau ist wie das Meer der Karibik. Endlich etwas
       Abwechslung fürs Auge und mehr als einfach nur geradeaus gehen. Aber das
       Durchnavigieren kostet Zeit, immer wieder steigt der Leiter der Expedition
       auf einen der Hügel, um zu sehen, ob sie auf dem richtigen Weg sind.
       
       Gegen 20 Uhr gehen ihnen die Reserven aus, kein Tee mehr in den
       Thermoskannen. Es wird klar: Bis 22 Uhr werden sie es nicht schaffen. Die
       Firma, die den Fahrer schickt, ist nicht zu erreichen. Das Gelände wird
       noch unübersichtlicher. Immer wieder müssen sie die Skier abschnallen und
       die Schlitten einzeln über die Hügel heben. „Die Kraft ging mir aus und da
       war so eine Hoffnungslosigkeit.“
       
       Dann endlich wird es flach, gegen 22 Uhr verlassen sie das unwegsame
       Gelände. Hoffentlich wartet der Fahrer noch ein bisschen. Da blitzt es aus
       der dunklen Moränenlandschaft vor ihnen hell auf. Der Fahrer sendet
       Lichtsignale – hier müsst ihr lang.
       
       Vor ihnen liegt nun nur noch diese zugeschneite Ebene mit einigen
       Bachläufen. Kurz vor Mitternacht sind es keine 100 Meter mehr, bis sie das
       feste Land erreicht haben werden. Endlich wieder einen Stein anfassen.
       
       ## Die Kraft war aufgebraucht
       
       Dann bricht Geertjes Mitreisende ein. Sekunden später auch der Mann. Bis
       zur Brust versinken sie in dem See, der unter dünnem Eis und Schnee
       verborgen lag. Der Mann kommt selbst wieder raus. Bei der Frau bricht immer
       wieder der Eisrand weg, bis Geertje ihr einen Ski reicht. Beide sind
       klatschnass, der Schock steht allen im Gesicht. Es droht Unterkühlung. „Es
       hätte passieren können, dass wir da noch den Helikopter hätten rufen
       müssen“, sagt Geertje.
       
       Aber das realisieren sie erst viel später. Erst mal weiter, in Bewegung
       bleiben. Um Mitternacht kommen sie bei dem Fahrer an. Keine Zeit für
       Euphorie. Bevor sie sich trockene Sachen anziehen, endlich in den Truck mit
       der Heizung setzen, muss all die Last auf den Schlitten noch einzeln über
       den kleinen Berg zum Fahrzeug gewuchtet werden.
       
       Um 3 Uhr nachts sitzen sie im Auto. Auf dem Weg zurück in die Zivilisation
       hält der Fahrer immer wieder an. Rechts und links ziehen Moschusochsen und
       Rentiere durch die Landschaft Westgrönlands. So viel Leben nach all dieser
       Kargheit. „Das war in dem Moment verschenkt“, sagt Geertje. Es gibt nur
       ein verschwommenes Foto aus dem Autofenster. Die Kraft war aufgebraucht.
       
       Was ist der Lohn? Für zwei Jahre Schinderei, Tausende Euros, so viele
       Gedanken, all die Gefahr. Lässt sich das überhaupt aufwiegen? 
       
       ## Warme Dusche und Süßspeisen am Hotelbuffet
       
       Um 5 fallen sie in die Hotelbetten in Kangerlussuaq. Nach mehr als 24
       Stunden auf den Beinen. „Aber wir mussten keinen Schnee mehr schmelzen.“
       Geertje lacht. „Und dann lagen wir in diesen weißen Bettlaken und mussten
       uns immer wieder versichern, dass das alles, die ganze Expedition wirklich
       passiert ist.“ Wieder und wieder erzählen sie sich einzelne Situationen.
       „Ich konnte gar nicht glauben, dass ich das am Ende noch geschafft habe“,
       sagt Geertje.
       
       Am Morgen folgen: die erste warme Dusche, Rührei, Sandwiches und dänische
       Süßspeisen am Hotelbuffet. Vom Frühstücksraum ruft Geertje ihre Familie
       an, mit Video, alle brechen in Tränen aus. Die Tochter erzählt später, dass
       es gut war, schon mal zu sehen, wie ihre Mutter jetzt aussah. „Das hat uns
       auf das Wiedersehen am Flughafen vorbereitet.“ Als Geertje wieder zu Hause
       ist, sagt die Tochter, „hatte sie endlich mal weniger Hummeln im Hintern“.
       
       Im September, nach mehr als drei Monaten, sind noch nicht alle Wunden
       verheilt. Auch wenn Geertje äußerlich wieder aussieht wie vor der
       Expedition. „Das war keine ‚schöne Reise‘, das wäre viel zu simpel. Das war
       schmerzvoll und auch wundervoll.“ Zwei Jahre hat Geertje der Expedition
       bisher gewidmet und sie nimmt noch immer viel Raum ein – Geertje hält
       Vorträge, plant eine Ausstellung. „Vorbei ist es noch nicht.“
       
       Diese extreme Reise über Grönlands Inlandeis wollte Geertje unbedingt
       wagen, bevor sie 50 ist. „Weil ich keine Frauen zwischen 50 und 60 Jahren
       kenne, die so was machen können“, hatte sie im März gesagt. Jetzt schüttelt
       sie den Kopf. „Auf so eine Tour kann ich mich auch wieder vorbereiten.“
       Vielleicht ist es diese Selbstgewissheit, für die Geertje Marquardt 560
       Kilometer übers ewige Eis gehen musste.
       
       13 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Wanderung-durch-Groenland/!5924532
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manuela Heim
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Klimaveränderungen in der Arktis: Besonders heißer Sommer 2025?
       
       Grönlands schmelzendes Eis bringt Europa wärmere und trockenere Sommer.
       Laut einer Studie lässt sich so sogar das Wetter im Jahr 2025 vorhersagen.
       
   DIR Zwangssterilisationen in Grönland: „Als wären Messer in mir drin“
       
       Weil der Kolonialmacht Dänemark der Geburtenanstieg zu teuer wurde, setzte
       sie Frauen in Grönland bis in die 70er Jahre zwangsweise die Spirale ein.
       
   DIR Wanderung durch Grönland: Am eisigen Ende der Welt
       
       Bevor sie 50 ist, will Geertje Marquardt die größte Insel der Erde
       durchqueren. Seit anderthalb Jahren trainiert sie dafür. Was will sie
       finden?
       
   DIR Schmelzende Gletscher: Grönland bald grün
       
       Der Eisschild der größten Insel der Welt schmilzt schneller, als viele
       dachten. Das Gletscherwasser enthüllt dabei lange Verborgenes.
       
   DIR Eis in Grönland schmilzt: Oh weh, es kippt
       
       Der Eisverlust im Nordosten Grönlands ist sechsmal höher als angenommen.
       Brisant – denn so gerät das Weltklimasystem in Gefahr.