URI: 
       # taz.de -- Ausstellung über die Rolling Stones: Siff-WG als Keimzelle des Mythos
       
       > „Unzipped“, eine Ausstellung über die Rolling Stones im Groninger Museum,
       > pflegt die Superstars als Ikonen. Der Heiligenschein bleibt leider
       > gewahrt.
       
   IMG Bild: Wer hatte Küchendienst? Installationsansicht der Stones-WG-Küche in Edith Grove
       
       Der Rockmythos, er scheint ewig weiterzuleben. Was immer genau es ist, das
       Versprechen, man könne radikal machen, was man will, die Idee, es gäbe
       trotz allem, trotz Lohnarbeit und freien Markts, so etwas wie eine
       umfassende Freiheit im Hier und Jetzt, sie ist unkaputtbar. Nicht einmal
       die Musealisierung kann da etwas ausrichten, sondern trägt, fast 60 Jahre
       nach „(I can’t get no) Satisfaction“, weiter zum Mythos bei.
       
       [1][Im Groninger Museum läuft nun erstmals auf dem europäischen Festland
       die Rolling-Stones-Ausstellung „Unzipped“], sie zeigt konzentrierte
       Rock-Mythologie auf vier Etagen. Und das an einem idealtypischen Beispiel,
       schon deswegen, weil die britische Band, dieStones, selbst so etwas sind
       wie die personifizierte Ewigkeit. Eine Band, die von Anfang an dabei war
       und einfach kein Ende finden will.
       
       Vor wenigen Tagen veröffentlichten die Stones gar eine neue Single:
       [2][„Angry“] ist der Vorgeschmack auf ein neues, für Oktober angekündigtes
       Album. Im Video zum Song räkelt sich eine junge Frau auf der Rückbank eines
       Cabriolets, das durch Los Angeles cruist, während historische
       Live-Aufnahmen der jungen Stones von Leinwänden auf den Dächern der Stadt
       flimmern.
       
       ## 60 Jahre Bandgeschichte
       
       „Unzipped“ versammelt Objekte aus inzwischen 60 Jahren Bandgeschichte, alle
       mit spürbarem Hang zum Weihevollen kuratiert. Gitarren hinter Glas
       natürlich („Keith played a prototype of this guitar on the Steel Wheels
       Tour, 1989–1990“), Bühnenmodelle der megalomanischen Stadionshows, Seiten
       aus Keith Richards’ Tagebüchern, die vom Autor charmant kommentiert wurden:
       „Kann ich mich überhaupt nicht dran erinnern. Aber es liegt ja da. Ich
       sollte es vielleicht mal lesen.“ Ein Raum ist vollgepackt mit
       Bühnenoutfits, und es wirkt in der Ballung alles bunt, groß und gewollt
       megaloman. Dann natürlich Plattencover, Notizbuchseiten, Ausschnitte aus
       den zahlreichen Banddokus.
       
       Besonders hübsch ist ein Mischpult, an dem Besucher:Innen die
       verschiedenen Tonspuren hoch- und runterziehen können. Isoliert lässt sich
       dann zum Beispiel nachhören, wie das immer ganz leicht verschleppte
       Schlagzeug von [3][Charlie Watts] und der Bass von Bill Wyman
       zusammenfinden. Und welche alles bestimmende Rolle Keith Richards’ Gitarre
       in eigentlich allen Songs spielt, neben Mick Jaggers Stimme. Diese Ecke der
       Ausstellung sticht auch deswegen heraus, weil sie eine der wenigen ist, die
       nichts Devotionalienhaftes hat. Man bekommt sozusagen einen Eindruck von
       der Arbeit am Material.
       
       Ansonsten aber ist „Unzipped“ eine einzige ungebrochene Fortschreibung des
       Bandmythos. Am unmittelbarsten in dem detaillierten Nachbau der, wie man so
       sagt, legendären Band-WG in Edith Grove, einer Ecke des Londoner Stadtteils
       Chelsea, in der Mick Jagger, Keith Richards und Brian Jones vom Herbst 1962
       bis zum Sommer 1963 lebten, mit ungemachten Betten, hübsch drapierten
       überquellenden Aschenbechern, Essensresten (aus Plastik) und anderem Siff.
       
       ## Reenactment von Rock
       
       Der Nachbau eines Ortes, an dem das Rockmythosversprechen sozusagen eine
       architektonische Entsprechung gefunden hat. Und auch der Punkt, an dem man
       sich als Normalmensch vielleicht am ehesten verbinden kann: Die Siff-WG als
       Keimzelle, an der man alles machen konnte. Oder, wie Rich Cohen in seiner
       Bandbiografie „Die Sonne, der Mond & die Rolling Stones“ schreibt,
       [4][Maßlosigkeit zur „metaphysischen Maxime“] erklärt wurde.
       
       Und die sich so gelöst hat vom Elternhaus, um dann, nach der
       unvermeidlichen Wohnungsgemeinschaftsauflösung, weiterzuziehen. In den
       allermeisten Fällen halt dann leider nicht auf die Stadionbühne, sondern in
       ein Büro oder Ähnliches. Als Mythosmaschine funktioniert „Unzipped“ ganz
       wunderbar. Die britische Band hat mit den Kuratoren, als die Ausstellung
       2016 zum ersten Mal in der Londoner Saatchi Gallery gezeigt wurde, eng
       zusammengearbeitet. Kritische oder eben selbstkritische Momente muss man
       nicht suchen, es gibt keine. Die doch nur mit Mühe zu überhörende
       Diskrepanz zwischen musikalischen Großtaten wie [5][„Gimme Shelter“],
       „Paint It Black“ und „[6][Sympathy for the Devil]“ und dem meisten, was
       nach 1972, nach „Exile on Main Street“ kam, fällt weg.
       
       „Unzipped“ erzählt die Bandgeschichte als eine einzige, steil aufsteigende
       Linie, mit dem Konzert auf Kuba 2016 als Höhepunkt, das im obersten
       Stockwerk auf drei großen Leinwänden gezeigt wird, im Triptychonformat. In
       der Mischung aus Beweihräucherung und Fanservice wirkt „Unzipped“ dann aber
       auch ziemlich anachronistisch.
       
       ## Befreiung und Repression
       
       Was schade ist, weil in der Geschichte der Rolling Stones, das Befreiende
       und das Repressive, das im Rockmythos steckt, konzentriert enthalten ist.
       [7][Joy Press und Simon Reynolds haben in ihrer Untersuchung von Misogynie
       und Männlichkeit im Rock, „The Sex Revolts“], auf die im Rückblick
       bestenfalls muffigen, schlimmstenfalls gewaltvollen Momente der
       Rockrebellion hingewiesen und ihren Kampf um individuelle Befreiung als
       phantasmatischen Kampf gegen eigensinnige Frauen, Häuslichkeit und
       Mütterlichkeit beschrieben.
       
       [8][Die Androgynität Mick Jaggers konnte befreiend] wirken für alle, die
       mit den geläufigen Bildern von Männlichkeit im Nachkriegsengland nichts
       mehr anfangen konnten. Man kann aber auch, mit Press und Reynolds, eine
       andere Diagnose stellen, nämlich, dass sich hier „prahlerischer Machismo“
       und „selbstherrliche Androgynität zu einer Art allumfassenden Narzissmus“
       zusammengeschlossen hätten, „als Klammer in der Geschichte rebellischer
       Rockmusik“.
       
       Und dieser Narzissmus bedingt die Abwertung von Weiblichkeit, die sich
       durch das gesamte Werk der Stones zieht und nicht nur in notorischen Songs
       wie „Under my Thump“ zu finden ist: „Under my thumb / It’s a squirmin’ dog
       who’s just had her day / Under my thumb / A girl who has just changed her
       ways“.
       
       ## Glückliche Crossdresser
       
       Auf dem Cover des 1978 erschienenen Albums „Some Girls“ – in dessen
       Titelsong behauptet Jagger unter anderem, „Black girls just wanna get
       fucked all night“ – sind Bilder aller Bandmitglieder von Frauenperücken
       umrahmt, ergänzt mit kurzen Fakebiografien auf der Coverrückseite.
       
       „Jede dieser erfundenen Frauen steht ohne Mann da“, schreiben Joy Press und
       Simon Reynolds. „Für die Stones offensichtlich die ultimative Schmach.“
       Jene Gleichzeitigkeit von Machismo, Misogynie und Befreiungsversuch wäre
       pophistorisch interessanter gewesen als in Vitrinen aufgebahrte Gitarren,
       die Keith Richards mit seinen eigenen Händen berührt hat.
       
       „Unzipped“ ist zuallererst eine prallvolle, überbordende Devotionalienschau
       und als solche macht sie großen Spaß. Wenn man etwas über die Bedeutung der
       Band erfahren will, das über die mythisch aufgeladenen Standardsituationen
       und -momente hinausgeht, muss man allerdings woanders schauen.
       
       19 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.groningermuseum.nl/de/kunst/ausstellungen/the-rolling-stones
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=_mEC54eTuGw&ab_channel=TheRollingStones
   DIR [3] /Zum-Tod-von-Rolling-Stone-Charlie-Watts/!5791541
   DIR [4] /Stones-Konzert-1965-in-der-Waldbuehne/!5040445
   DIR [5] https://www.youtube.com/watch?v=fyNHteZBmQ4
   DIR [6] https://youtu.be/Jwtyn-L-2gQ?si=bUjjiXfaU_hOovXR
   DIR [7] /Uebersetzung-eines-Popdiskurs-Klassikers/!5636713
   DIR [8] /Mick-Jaggers-Maennlichkeit/!5946361
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benjamin Moldenhauer
       
       ## TAGS
       
   DIR Rolling Stones
   DIR Ausstellung
   DIR Mick Jagger
   DIR Geschichte
   DIR wochentaz
   DIR Mick Jagger
   DIR Hippies
   DIR Rolling Stones
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Neues Album der Rolling Stones: Wulstig, männlich, schmierig
       
       „Hackney Diamonds“ heißt das neue, möglicherweise allerletzte Album der
       Rolling Stones. Lebt der alte Rock ’n’ Roll der britischen Band noch?
       
   DIR Mick Jaggers Männlichkeit: Gut abgehangene Coolness
       
       Narzisstischer Frontmann, androgynes Sexsymbol, genialer Songschreiber:
       Mick Jagger bleibt schwer lesbar – und einzigartig. Eine Würdigung.
       
   DIR Abschiedskonzert von Dead and Company: Endstation Sehnsucht?
       
       Nun beschließen Dead and Company, Erben der US-Acidrocker Grateful Dead,
       ihre finale Tournee. Ist das auch Schlusspunkt einer einzigartigen
       Fankultur?
       
   DIR Stones-Konzert 1965 in der Waldbühne: „Een Irrsinn war det“
       
       Die rechte Presse geiferte, die Fans randalierten. 1965 traten die Rolling
       Stones erstmals in der BRD auf. Bommi Baumann war in der Waldbühne dabei.