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       # taz.de -- Ein Jahr Meloni: Die disziplinierte Populistin
       
       > Vor einem Jahr kam die Rechtspopulistin Giorgia Meloni in Italien an die
       > Macht. Viele im Land und in ganz Europa beunruhigte ihr Sieg. Zu Recht?
       
   IMG Bild: Hart gegenüber Migranten und den Ärmsten: Giorgia Meloni
       
       Rom taz | „Grazie Italia“ stand auf dem großen Blatt, das Giorgia Meloni
       vor einem Jahr in der Hand hielt, als sie mit strahlendem Lächeln vor ihre
       Anhänger*innen trat. Danke Italien. Ihre Freude war berechtigt. [1][Mit
       26 Prozent] hatte ihre postfaschistische Partei Fratelli d’Italia einen
       überraschenden Triumph errungen, und die gesamte Rechtsallianz – zu der
       Matteo Salvinis rechtspopulistisch-fremdenfeindliche Lega und Silvio
       Berlusconis Forza Italia gehören – erzielte 44 Prozent, die ihr dank des
       italienischen Wahlrechts eine satte Mehrheit im Parlament einbrachten.
       
       Gesiegt hatte da eine, die sich wenige Wochen später in ihrer Antrittsrede
       vor dem Abgeordnetenhaus als „Underdog“ bezeichnete, als diejenige, „die
       alle Prognosen über den Haufen geworfen hat“. Jetzt aber saß sie plötzlich
       an den Schalthebeln der Macht. Jahre aggressiv-nationalistischer Rhetorik
       zahlten sich nun aus. Geradezu ikonisch war ihr Auftritt auf einer
       Großkundgebung 2019 geworden, als sie ihr Publikum mit den Worten anbellte:
       „Ich bin Giorgia, ich bin eine Frau, ich bin eine Mutter, ich bin
       Italienerin, ich bin Christin“.
       
       Rüde ging sie stets die Linke an, unter der „die Islamisierung Europas“
       drohe, die nichts gegen „illegale Immigration“ tue, während es doch darum
       gehen müsse, „Mauern zu errichten, Seeblockaden zu verhängen“. Und ebenso
       rüde warf sie ihren politischen Gegnern vor, sie seien „in Europa auf den
       Knien, um den Franzosen und den Deutschen die Füße zu lecken“, während sie
       von einer „Regierung der Patrioten“ träumte, für die „Gott, Vaterland und
       Familie“ an erster Stelle standen.
       
       Entsprechend beunruhigt waren nach Melonis Sieg viele in Italien und in
       ganz Europa. Drohte Italien jetzt die radikal rechte Wende, der Rollback
       bei Bürger- und sozialen Rechten, drohten der EU schwere Erschütterungen?
       
       ## Die Verträge hält sie ein
       
       Schnell jedoch wurde es ruhig um die neue Regierung in Rom. Auf dem Feld
       der internationalen Politik gab und gibt sich Meloni als zuverlässige NATO-
       und EU-Partnerin. Ihr Kurs ist dezidiert pro-ukrainisch, bei den Sanktionen
       gegen Russland ebenso wie bei den Waffenlieferungen an die Ukraine.
       
       Und auch gegenüber der EU hatte Meloni schon im Wahlkampf des vergangenen
       Jahres das Kunststück fertig gebracht, sich als realistische Populistin zu
       präsentieren. Sie hatte ihre scharfe Kritik an der EU immer durch den
       Hinweis ergänzt, natürlich werde Italien unter ihrer Führung die
       europäischen Verträge einhalten.
       
       Der Auftritt als disziplinierte Populistin verschafft Meloni jedoch ein
       kräftiges Problem, verengt er doch ihre haushaltspolitischen Spielräume.
       Einen wahren „Mühlstein“ hätten ihr die unfähigen linken
       Vorgängerregierungen bei den Finanzen hinterlassen, beklagte sie erst
       dieser Tage wieder. Sie verschweigt, dass sich Italiens seit Jahrzehnten
       dramatische Haushaltslage gerade unter den Berlusconi-Regierungen weiter
       verschlechtert hatte.
       
       Ein Pfad der Sanierung wäre eine entschlossene Bekämpfung der
       Steuerhinterziehung der Selbstständigen, die nach Auskunft der
       Finanzbehörden nur ein Drittel ihrer Einkommen versteuern und so für
       staatliche Einnahmeausfälle von geschätzt 100 Milliarden Euro jährlich
       sorgen. Doch zu Melonis Programm gehört, diese Klientel – sie ist rechte
       Kernwählerschaft – weiter zu schonen. Es gehe nicht an, etwa „die Besitzer
       von Kaffeebars“ zu drangsalieren. Stattdessen legte Meloni eine
       Übergewinnsteuer für die Banken auf, die allerdings nur rund eine Milliarde
       Euro pro Jahr einspielen wird – zu wenig, um an der Haushaltssituation viel
       zu ändern.
       
       Mehr Einsparpotential bot da schon die Sozialpolitik. Eines von Melonis
       zentralen Wahlversprechen war die Streichung der erst im Jahr 2019
       eingeführten Grundsicherung. Sie alimentierte die Ärmsten der Armen,
       Arbeitslose ohne andere Unterstützung ebenso wie Arbeitsunfähige. Im
       rechtspopulistischen Weltbild Melonis dagegen lautete der Befund,
       Arbeitsscheue erhielten Stütze, um es sich – so ihre Worte – auf dem Sofa
       bequem zu machen und sich von den hart arbeitenden Menschen aushalten zu
       lassen.
       
       Meloni hielt Wort. [2][Seit August 2023 ist die Grundsicherung für alle
       jene abgeschafft], die „beschäftigbar“ sind – laut Gesetz alle zwischen 18
       und 59 Jahren. Rund acht Milliarden Euro jährlich spart der Staat dank
       dieser Streichung.
       
       Nur symbolisch Wort hielt Meloni auf dem Feld der Bürgerrechte. Egal ob
       Abtreibungen, Homoehe oder Genderdiskurse: All dieses Zeug ist der Christin
       zutiefst zuwider. Doch wieder gibt sie die realistische Populistin. Sie
       hütet sich davor, am Abtreibungsgesetz oder am Gesetz zu den eingetragenen
       Lebenspartnerschaften zu rühren, weil sie nur zu gut weiß, dass sie damit
       in Italien Mehrheiten gegen sich aufbringen würde. Doch ihre Regierung wies
       die Kommunen an, nicht mehr jene Kinder ins Standesamtsregister als
       Nachkommen zweier Väter aufzunehmen, die im Ausland per Leihmutterschaft
       zur Welt kamen. Mehr noch: Die Rechtskoalition brachte einen Gesetzentwurf
       ein, wonach Leihmutterschaft zum „Universalverbrechen“ erklärt werden soll,
       zu einem Verbrechen also, das auch dann in Italien verfolgt werden kann,
       wenn die „Tat“ völlig legal in Kanada oder der Ukraine stattfand.
       
       Dieses Gesetz ist nur ein Beispiel weitgehend folgenloser rechter
       Identitätspolitik, in der es wenigstens in Italien weniger darum geht,
       Dinge wirklich zu ändern, als trotzig die Fahne des ultrakonservativen
       Nationalismus hochzuhalten. Auf diesem Feld profilierte sich ein führender
       Parteifreund Melonis zum Beispiel mit einem Gesetzesvorschlag, der zum
       Schutz der italienischen Sprache das Verbot von Anglizismen in staatlichen
       Dokumenten vorsieht – doch ausgerechnet die Regierung Melonis hatte zuvor
       das Wirtschaftsministerium in „Ministerium für Unternehmen und für Made in
       Italy“ umgetauft.
       
       Zum Feld rechter Identitätspolitik gehört auch die Abwehr von
       Migrant*innen. Hier hat Meloni ebenfalls Wort gehalten, wenn auch
       einigermaßen erfolglos. Kaum war sie im Amt, setzte sie zwar nicht die
       „Seeblockade“, wohl aber einen Kurs der systematischen Drangsalierung der
       in der Seenotrettung tätigen NGOs durch. Pro Einsatz darf nur noch eine
       Rettungsaktion durchgeführt werden, dann müssen die Schiffe umgehend einen
       – oft im hohen Norden Italiens liegenden – Hafen ansteuern, wo sie immer
       wieder für 20 Tage an die Kette gelegt werden und es regelmäßig hohe
       Geldbußen für die NGOs gibt.
       
       Gebracht hat es nichts, schlicht, weil auch hier die rechtspopulistische
       Propaganda von den angeblich die Migrant*innen erst anlockenden NGOs mit
       der Realität wenig zu tun hat. 130.000 Menschen sind im laufenden Jahr
       bisher übers Meer nach Italien gekommen, fast doppelt so viel wie im
       gleichen Vorjahreszeitraum.
       
       Und Meloni? Sie will Europa mit der „gemeinsamen Verteidigung der
       Außengrenzen“ in die Pflicht nehmen, doch die von ihr erträumte europäische
       Seeblockade zeichnet sich nicht ab. Ansonsten setzt sie darauf, den
       Geflüchteten das Leben schwerer zu machen, mit auf 18 Monate verlängerter
       Abschiebehaft, dem Bau neuer Abschiebelager und der Beschleunigung der
       Abschiebung.
       
       Meloni verweist daher auch nicht auf die nicht erfolgte große Wende,
       sondern auf kleine Erfolge wie die Zunahme der Beschäftigten um etwa
       400.000 binnen eines Jahres oder die Tatsache, dass Italiens Wirtschaft
       immer noch ein bescheidenes Wachstum vorzuweisen hat, „höher als in
       Deutschland oder Frankreich“.
       
       Und sie versicherte ihren Anhänger*innen dieser Tage, sie sei „immer
       noch Giorgia“. Diese glauben es ihr auch. In den letzten Meinungsumfragen
       liegt Fratelli d’Italia bei 28 bis 30 Prozent, und Meloni selbst darf sich
       über Vertrauenswerte von bis zu 47 Prozent freuen.
       
       24 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Fratelli-dItalia-werden-staerkste-Kraft/!5883609
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       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Braun
       
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